Die Ernüchterungsanstalt

Die Schule erstickt das Interesse für Poesie im Keim, indem sie Schüler zwingt, diese rational zu zergliedern.

Das Deutsch-Abitur zwingt Schüler, Gedichte schnell zu verstehen, nicht aber, die Sprache auf sich wirken zu lassen und sie zu fühlen. Allein die Fähigkeit, ein Gedicht in zuvor auswendig gelernte Strukturen pressen zu können, entscheidet darüber, ob jemand laut Zeugnisnote dazu imstande ist, einen Zugang zur Poesie zu finden. Jene, die nicht in Worte fassen können, welche Gefühle die Verse in ihnen auslösen, gelten als „unlyrisch“, als „unkreativ“. Dabei ist es vollkommen absurd und gegen die Natur der Poesie, sie in begrenzter Zeit und in Zahlen erfassen zu müssen.

Das gesellschaftlich anerkannte Stockholmsyndrom, das die meisten Studienanfänger mit Stolz vor sich hertragen, nennt sich Abitur. Die „Allgemeine Hochschulreife“. Die zeitlich langwierigste Prüfung in dieser Reihe ist die Deutsch-Abitur-Prüfung. Wer sie mit null Punkten absolviert, erhält die allgemeine Hochschulreife nicht. Selbst wenn er in allen anderen Fächern mit einer Eins bestanden haben sollte.

Während beispielsweise im Mathe-Abitur das gesamte „Schülervieh“ durch den gleichen Fleischwolf aus Zahlen und Variablen gekurbelt wird, können sich die Abiturienten bei der Deutsch-Prüfung für eine Schlachtbank ihrer Vorliebe entscheiden. Sie erhalten entweder einen Sachtext, einen dramatischen oder einen lyrischen Text. Den ausgewählten müssen sie dann analysieren.

Wir wollen heute einmal einen Blick auf die Prüfung mit einem lyrischen Text, also einem Gedicht werfen. Hier wird die Absurdität unseres Schulsystems, respektive des Glaubens daran, deutlich. Als Prämisse gilt: Man könne Lyrik in Zahlen erfassen und analysieren wie einen Programmiercode.

Die Prüfungssituation

Zur Deutsch-Abitur-Prüfung muss man nicht nur sein gepauktes Wissen über Stilmittel, Reimformen und Metren, außerdem Nervennahrung und genug zu trinken mitnehmen. Auch ausreichend Sitzfleisch ist gefordert. Diese Prüfung dauert sage und schreibe fünf Stunden. Eine Zeitspanne, die erst einmal zäh klingt – doch während dieser Prüfungszeit befindet man sich, so scheint es, auf einem anderen Planeten, auf dem die Uhren schneller gehen.

Um Punkt 9 Uhr gibt die Lehrkraft das Signal, die Bögen aufzublättern. Ein synchrones Rascheln erfüllt für zwei Sekunden den Raum, Füller werden gezückt, wie Soldaten ein Gewehr entsichern, und los geht es! Der Feind befindet sich auf dem weißen Blatt. Es ist ein Gedicht eines namhaften Lyrikers der letzten hundert Jahre, das vom Kultusministerium auf die Schüler losgelassen wird.

Jede Strophe ist eine Staffelformation, die zerlegt werden muss. Metrum erkennen und dokumentieren. Stilmittel herausfiltern. Interpretieren, „was der Autor uns damit sagen möchte“. Das Ganze zu Beginn mit der Illusion, fünf Stunden wären reichlich Zeit. Diese Illusion weicht aber sehr schnell dem immer lauter werdenden Ticken der Uhr, die die bedrohlich näher rückende Abgabe unentwegt ankündigt.

Weiterschreiben! Weiterdenken! Vom Denken verursachte Rauchschwaden über den Köpfen, blaue Blutlachen und -flecke auf dem Notizzettel und an den Fingern. Trümmerhafte Überreste der Nervennahrung liegen als Brösel auf dem Tisch verteilt. Das Wasser aus den Wasserflaschen wurde unlängst in Schweiß umgewandelt, der von der Stirn heruntertropft, zwischen den Fingern klebt und sich mit jeder weiteren halben Stunde vermehrt.

Und dann kommt der Abgabezeitpunkt. „Bitte aufhören, zu schreiben!“, sagt die Lehrkraft mit kalter Stimme. Füller fallen wie Patronenhülsen auf die Schreibpulte.

Was hat’s gebracht?

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob durch eine solche Stresssituation junge Menschen für die Literatur begeistert werden konnten oder sich doch viel eher sagen: „Nie wieder rühre ich so ein Scheißgedicht an!“

Der abschreckende Effekt dürfte oftmals überwiegen. Jene, die sich bereits vor der Oberstufe für deutsche Literatur begeistern konnten, dürften beim Deutsch-Abi lediglich mit dem Kopf schütteln und sich danach wieder dem ungezwungenen Lesegenuss hingeben.

Poesie kann man nicht messen!

Warum werden die Abiturienten so drangsaliert? Warum merkt niemand, dass die rationale Analyse eines Gedichtes in den Schulfabriken unseres Systems eine Zumutung ist? Allerdings eine, die zu einem System passt, das auf Gewinnmaximierung und Profit aus ist! Warum hat so etwas überhaupt noch Platz in unserer durchrationalisierten Gesellschaft? Will man etwa Alibi-mäßig noch den Schein aufrechterhalten, dass es in unserem derzeitigen System nicht ausschließlich um den Nutzen geht?

Ist Literatur die letzte kulturelle Bastion in unserem Schulsystem, in dem Musik- und Kunstunterricht sukzessive abgebaut werden? Einfach, weil sich dieser Bereich – abgesehen von der großen Liga, in der Konzerne Profit daraus generieren können – auf dem Markt nicht verwerten lässt?

Ein Industriesoldat und Schreibtischknecht benötigt schließlich diesen ganzen kreativen Firlefanz nicht, damit die Kapitaleigner durch den Mehrwert seiner Lohnarbeit saftige Gewinne einfahren können.

Wenn wir das voraussetzen, entlarvt sich jene letzte kulturelle Bastion des Schulsystems – die Literatur und speziell die Lyrik, beziehungsweise das, was wir für sie halten, – als ein rational-verkrüppeltes Abbild des Originals.

Was soll das bedeuten? Die Poesie ist nahezu unbändig. Das Dressieren mit Verstand, das Einhegen in für Schüler erdachte Bewertungsschemen und die Drangsalierung durch Zeitdruck (in der Prüfung) entfremdet dieses Wesen von seiner ursprünglichen, lebendigen Natur. Ähnlich wie ein in der Wildnis lebender Elefant, der eingefangen und gequält wird, damit er sich später so ruhig verhält, dass Touristen auf seinem ruhigen (und verbogenen) Rücken reiten können. Er ist dann zwar immer noch ein Elefant, aber in seinen Ketten, Leinen und durch die ihn umgebenden Schlagstöcke so traumatisiert, dass sein früheres Selbst bis zur Unkenntlichkeit entfremdet ist.

So wird auch im Deutsch-Abitur den Gedichten ein System-Korsett übergestülpt, welches mit Kategorien bestückt ist, deren unterschiedlich ausfallende Parameter entsprechend der „Schüler-Leistung“ am Ende darüber Zeugnis ablegen, wie gut der oder die Schüler/in das Gedicht verstanden hat. Mit Betonung auf Verstand! Muss ja auch. Welche Gefühle ein Gedicht beim Leser hervorgerufen hat, lässt sich nicht messen und schon gar nicht beurteilen. Aber wie jemand ein Gedicht fühlt, ist doch das einzig Ausschlaggebende! Was um alles in der Welt bringt es, wenn man ein Gedicht zwar verstanden, es aber nicht gefühlt hat? Wenn es einen kalt lässt?

Hätten die großen Schriftsteller des angelsächsischen und zentraleuropäischen Kulturraumes gewollt, dass man ihre Schriften rational versteht, hätten sie Bedienungsanleitungen und keine Gedichte geschrieben.

So wird die Gefühlsachterbahn, deren Gleise sich durch die Verse schlängeln, zu einer zweidimensionalen Game-Map – wie bei einem Super-Mario-Konsolenspiel – platt getreten. Der Schüler darf dann wie der kleine Italiener mit der roten Kappe über Schluchten und Hindernisse springen, um damit das richtige Metrum zu erkennen. Gleichzeitig muss er so viele silberne Stilmittel-Abzeichen und goldene „Was-will-uns-der-Autor-damit-sagen?“-Coins einsammeln, damit er am Ende der Strophen-Levels ein möglichst gutes Ergebnis erhält.

Das Deutsch-Abitur verlangt von Schülern, Poesie mittels ihrer linken Gehirnhälfte zu analysieren. Diese linke Hälfte ist für Logik, Verstand und Sprache zuständig, während die in unserer Kultur schwächer ausgeprägte rechte Gehirnhälfte der Sitz unseres Gefühlslebens ist. Diese Polung der menschlichen Gehirnhälften fand auf kollektiver Ebene vor mehreren zehntausend Jahren statt und vollzieht sich bei jedem Einzelnen noch heute im Kindesalter (1).

Mit unserem Verstand können wir analysieren und teilweise – das muss man ehrlicherweise sagen – zu wirklich interessanten Gedankengängen und Sichtweisen auf ein Gedicht kommen. Aber irgendwie, ja irgendwie verbleibt da noch so ein Rest, den wir mit unserem Verstand nicht erfassen können, nicht wahr? Der Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Jens Roselt formulierte diese Erkenntnis zwar im Bezug auf das Betrachten eines Theaterstückes, aber seine Worte lassen sich auch wunderbar auf das Rezipieren eines Gedichtes anwenden:

„Das Wort ‚irgendwie‘ wird in die Rede gestellt wie ein Leuchtturm an die Küste, es macht darauf aufmerksam, dass jenseits des festen Ufers der Worte noch etwas vorkommen kann, dass es einen Horizont gibt, an dem etwas auftauchen und verschwinden kann, und dass bei diesen Operationen stets mit Schiffbruch zu rechnen ist.“ (2)

Es gibt dieses Unbeschreibliche. Man liest Verse und fühlt, was sie bedeuten. Aber man kann es nicht in Worte fassen. Aber zu schreiben: „Ich bin sprachlos“, oder: „Mir fehlen die Worte“, wird im Deutsch-Abitur wohl keine Punkte bringen. Alles muss erfasst und messbar gemacht werden. Sonst gibt es Punkteabzug. Was gefühlt wird, kann nicht gezählt werden.

Betrachten wir das doch einmal am eher kontemporären Beispiel dieser Zeilen eines Casper-Songs (3):

„Suchte nächtelang alles im Nichts /
finde Nichts in Allem“

Eine wahre Goldgrube an Stilmitteln, schätze ich! Tatsächlich fallen mir die Begriffe für jene Stilmittel, jetzt gerade, wo ich dies schreibe, nicht ein. Ist das schlimm? Nein! Denn ich weiß – ja, mehr noch - ich fühle, was damit gemeint ist. Ich kann es nachempfinden! Was spielen die Mittel da noch für eine Rolle, wenn der Zweck erfüllt ist? Wenn der Verfasser imstande war, beim Adressaten etwas auszulösen? Vielleicht sogar die beabsichtigte Reaktion?

Aber vielleicht wollte der Verfasser auch etwas ganz anderes auslösen – das ist natürlich reine Spekulation. Genau wie die Frage, ob bei Schriftstellern der Romantik die rechte Gehirnhälfte dominanter gegenüber der linken gewesen ist, und ob sie deswegen so gefühlvoll schreiben konnten. Aber apropos Spekulation…

Die Interpretationen sind frei!

Mit jedem Wort, das ein Poet zu Papier bringt, entflieht ein Geist aus der Flasche, der gegenüber jedem Menschen eine neue Gestalt annehmen kann, so ähnlich wie ein Irrwicht oder ein Boggart (4). Zu einer neuen Interpretation zu kommen, ist überhaupt nichts Verwerfliches. Im Gegenteil! Durch neue Interpretationen oder die (Neu-)Kontextualisierung in jeweiligen Zeitepochen, können Werke – ob nun Lyrik oder aufgeführte Dramen – sich mannigfaltig und mit immer neuen Facetten präsentieren.

Problematisch – um nicht zu sagen: „verwerflich“ – wird es dann, wenn Lehrkräfte oder das Kultusministerium sich anmaßen, eine oder wenige bestimmte Interpretationsmöglichkeiten als die einzig richtigen festzulegen. Damit beanspruchen sie die totalitäre Deutungshoheit über das geistige Eigentum des meist verstorbenen Verfassers.

Die Schüler müssen also ein Gespür dafür entwickeln, welche Deutung die Lehrkraft für richtig hält und diese dann – manchmal auch entgegen der eigenen Gefühle – suchen, formulieren und niederschreiben.

So mancher munkelt, dass es in einigen Schulgebäuden des Nachts spukt, dass Geister verstorbener Schriftsteller durch die leeren Korridore schweben und sie mit wehleidigem Heulen und Wimmern erfüllen:

„Hört auf damit! Das habe ich mir nie und nimmer dabei gedacht, als ich das geschrieben habe! Ihr interpretiert da viel zu viel rein, Leute! Und diese ganzen Stilmittel haben sich von selbst im Schreibfluss ergeben. Ich habe mir nicht darüber den Kopf zerbrochen, was das beim Leser auslöst. Hört bitte endlich auf damit, meine Gedichte für diesen Schwachsinn zu missbrauchen! Dann kann ich auch endlich in Frieden ruhen!“


Quellen und Anmerkungen:

(1) vgl. Gruen, Arno (2013) „Dem Leben entfremdet – Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden“, S. 25-29
(2) siehe Roselt, Jens (2004) „Kreatives Zuschauen – Zur Phänomenologie von Erfahrungen im Theater“, in: Theaterdidaktik. S. 50.
(3) siehe Casper (2017): „Flackern, Flimmern“.
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Tiere_der_Harry-Potter-Romane#Irrwichte
(5) Persönliche Anmerkung: Ich hatte im Deutsch-Abitur 3 Punkte (Note 5).