Die Gabe zu geben

In diesem Wirtschaftssystem ist der Mensch auf Profitstreben ausgerichtet — wir können wieder lernen, zu schenken.

Kommerzialisieren lässt sich so ziemlich alles. Aus jedem noch so natürlichen Lebensbereich lässt sich Profit schlagen. Das gilt umso mehr, je weiter das soziale, kulturelle, spirituelle Kapital als auch das Naturkapital der Menschen abgeschmolzen ist und an die Stelle ein Mangel tritt. Dort gedeiht die Durchkommerzialisierung von allem und jedem. So lässt sich zwar überall materieller Reichtum abschöpfen, was bleibt, ist die innere Armut. Aus ihr können wir uns befreien, wenn wir parallel zu unserem monetär abgewickelten Geben und Nehmen wieder lernen, zu schenken, ohne dabei eine Gegenleistung zu erwarten. So kommen wir wieder in den Genuss der Gaben, die aus vollem Herzen dargereicht werden. Was Geber und Empfänger gleichermaßen gewinnen, ist ein Freiraum bar der Gedanken, die sich in einer ökonomisierten Gesellschaft ständig darum drehen, das beste Angebot zu bekommen, den maximalen Nutzen aus allem zu ziehen und nirgends „abgezockt“ zu werden.

„Sie sind einfach nicht abgebrüht.“ So beschrieb jemand die Menschen, denen er bei seinem jüngsten Besuch in einem Krankenhaus in Costa Rica begegnete. Die Ärztinnen und Krankenpfleger seien so herzlich, freundlich und aufrichtig gewesen; sie gaben ihm sogar ihre persönlichen Handynummern. „Rufen Sie uns an, wenn Sie etwas brauchen.“ Stella behandelte diesen Mann in einem Ökodorf in Costa Rica, wo wir ein paar Wochen verbrachten. Während der Behandlung verkaufte ein anderer Mann Erdbeeren an der Tür. Als er den offensichtlich kranken Mann sah, erkundigte er sich mit deutlicher Besorgnis nach dessen Gesundheitszustand und drückte ihm aufrichtig sein Mitgefühl und seine guten Wünsche aus. Er war wirklich besorgt. Sein Verhalten war nicht gespielt.

Es ist verlockend, diese Art von Aufrichtigkeit dem Nationalcharakter zuzuschreiben, einer Eigenart des Landes, der Traditionen, der Politik oder der Ursprünge Costa Ricas. Ich möchte jedoch eine andere Erklärung anbieten, die vielleicht etwas Licht auf das wirft, was wir (in modernen Gesellschaften) verloren haben und wie wir es zurückgewinnen können. Denn das Klischee vom einfachen Landvolk, das ehrlich, freundlich und naiv ist, ist nicht auf Costa Rica beschränkt.

Die Erklärung ist im weitesten Sinne ökonomischer Natur. Die Geschichte des Wirtschaftswachstums der letzten Jahrhunderte ist eine Geschichte der Umwandlung von nicht monetarisierten Formen des Reichtums — ich nenne sie soziales, kulturelles und spirituelles Kapital und Naturkapital — in monetarisierte Güter und Dienstleistungen. Auf die Gefahr hin, dass Sie glauben könnten, ich wolle eine Anti-Geld-Debatte beginnen, werde ich die Umwandlung der einzelnen Formen kurz erläutern.

Naturkapital bezieht sich auf den Reichtum an Land, Boden, Wasser und lebendiger Welt. Durch seine Umwandlung werden Wälder zu Brettern, Ökosysteme zu Tagebauen, Erde zu Rohstoffen, Ozeane zu Produktionsanlagen für Meeresfrüchte und letztendlich wird all dies zu Geld.

Soziales Kapital bezieht sich auf die Praktiken und Fähigkeiten, mit denen Menschen füreinander sorgen. Seine Umwandlung übersetzt diese in bezahlte Dienstleistungen: Kochen, Kinderbetreuung, Unterhaltung, Heilung, Kommunikation, Spiel und viele andere Funktionen sind jetzt käufliche Dienstleistungen. Vor einigen Generationen gehörten sie zum sozialen Gemeingut, erbracht in informellen Systemen der gegenseitigen Hilfe, des Schenkens und der Wechselbeziehung innerhalb von Familien oder Gemeinschaften. Manche nennen den Prozess ihres Verlustes „Deskilling“ (Qualifikationsverlust).

Kulturelles Kapital umfasst Musik, Literatur, Kunst, Ideen und alles andere, was zu geistigem Eigentum geworden ist. So wie das Land, welches ursprünglich Gemeingut war, nach und nach in Privatbesitz überging, so wurde auch das kulturelle Gemeingut in einzelne, durch Bezahlschranken abgetrennte Besitzstände aufgeteilt. Was einst eine gemeinsame Währung war, ist inzwischen in die Hände von Fachleuten und Experten übergegangen.

Spirituelles Kapital bezieht sich auf wichtige menschliche Tugenden und Fähigkeiten wie Achtsamkeit, Humor, Phantasie, Kreativität, Freundlichkeit, Großzügigkeit, gesunden Menschenverstand, Initiative, Selbstbewusstsein und Vertrauen. Seine Monetarisierung erfolgt manchmal direkt, zum Beispiel wenn die künstlichen Bilder des Fernsehens und des Kinos die selbst geschaffenen Bilder, die wir Phantasie nennen, verdrängen, oder wenn die Scheinabenteuer der Videospiele bewirken, dass die Auseinandersetzung mit Grenzbereichen der Realität unterbleibt. Meistens geschieht dies jedoch indirekt. Passive, depressive, entfremdete und einsame Menschen sind willfährige Konsumenten.

Die Umwandlung von Naturkapital und sozialem, kulturellem und spirituellem Kapital in Geld wird von wirtschaftlichen Kräften vorangetrieben, die so tief gehen, dass sie in der Natur des Geldes selbst wurzeln, genauer gesagt: des Geldes in seiner derzeitigen Form als verzinsliche Schuld. Es ist darauf angelegt, immer weiter zu wachsen, wodurch die nicht monetarisierten Gemeingüter immer weiter schrumpfen.

Ökonomen und Politiker feiern diesen Prozess und nennen ihn Wirtschaftswachstum. Im tieferen Sinne handelt es sich dabei aber um eine wirtschaftliche Umwandlung.

Jeder Teil der Welt, der noch reich an Naturkapital und sozialem, kulturellem oder spirituellem Kapital ist, ist ein lohnendes Ziel für Kolonialismus und Imperialismus. Man nennt das einen „unentwickelten Markt“. Es lässt sich viel Geld verdienen, wenn man Hausmannskost durch Take-Away-Essen ersetzt, wenn man Kinder, die im Freien spielen, in Kindertagesstätten betreut, wenn man universelle Fertigkeiten im Hausbau durch die Bau- und Immobilienwirtschaft ersetzt, wenn man gegenseitige Hilfe im Unglück durch Versicherungen, weise Ratschläge von Älteren durch Lebensberatung und gemeinsames Singen durch Musikstreamingdienste ersetzt.

Auch dort, wo Menschen noch vertrauensvoll und ehrlich sind, wo sie sich noch nicht die Schliche und den Argwohn des modernen Verbrauchers angewöhnt haben, lässt sich viel Geld verdienen. Mit der Zeit jedoch, wenn die Menschen lange genug Verkaufsstrategien, Verpackung, Werbung und Abzocke ausgesetzt sind, stumpfen sie ab. Wenn sie nicht mehr die gegenseitige Hilfe im Schoß der Gemeinschaft genießen, werden sie zu Individualisten. Dort, wo Märkte und Geld am tiefsten eingedrungen sind, finden wir die geizigsten, vertrauenslosesten, zynischsten und einsamsten Menschen.

Sie mögen eine gewisse Art materiellen Reichtums haben, aber ihr wahrer Reichtum wurde ihnen geplündert. Der kompensatorische Schein finanziellen Reichtums kann niemals das verlorene soziale und spirituelle Kapital ernstlich ersetzen.

Natürlich kann es auch andere Erklärungen geben, aber überall dort, wo Zynismus und Misstrauen weit verbreitet sind, ist es wahrscheinlich, dass diese Form des sozial-spirituellen Kapitals direkt oder indirekt aus Profitgründen abgeschöpft wurde.

Was weggenommen wurde, kann zurückgewonnen werden. Wie können wir Beziehungen des Vertrauens — des Vertrauens ineinander und des Vertrauens in die menschliche Natur — wiederherstellen? Eine Möglichkeit besteht darin, den Prozess der Monetarisierung, der diese Beziehungen überhaupt erst zerstört hat, rückgängig zu machen. Und wie? Indem wir die Kultur des Schenkens wiederherstellen, das heißt nicht-monetäre Formen der Verbindung zwischen Gaben und Bedürfnissen.

Eine Familie hier in der Gemeinschaft war sehr großzügig und hat uns ihr Auto geliehen. Das schafft soziales Kapital. Wir vertrauen dieser Familie, und darüber hinaus möchten wir ihr auch etwas Gutes tun. Und nicht nur ihr: Unser Vertrauen in die Gemeinschaft als Ganzes wächst ebenso wie unser Wunsch, etwas für sie zu tun.

Je weiter sich diese Geschichten des gegenseitigen Schenkens verbreiten, desto stärker wird die Gemeinschaft sein. Tagtägliche Großzügigkeit wird dann als menschliche Natur erlebt oder bezeugt. Auf diese Weise können wir gemeinsam das sozial-spirituelle Kapital namens Vertrauen zurückgewinnen.

Wahrscheinlich waren es auch Erfahrungen von Freundlichkeit und Großzügigkeit, die Stella dazu bewogen haben, für ihre Heilsitzung kein Geld zu verlangen. Großzügigkeit ist ansteckend. Wenn ich damit in Berührung komme, atme ich erleichtert auf. Ich kann mein Visier — bestehend aus Vorsicht und Selbstschutz — hochklappen.

Wäre es nicht schön, nicht ständig aufpassen zu müssen, nicht abgezockt zu werden? Sich nicht mehr fragen zu müssen, ob man ausgenützt wird? Nicht immer versuchen zu müssen, das beste Angebot zu bekommen? Wäre es nicht schön, zu Hause zu sein, in der Gesellschaft zu Hause zu sein?

Ich kann nicht von mir behaupten, das jemals in vollem Umfang erlebt zu haben, weder in der Gemeinschaft, in der ich jetzt lebe, noch anderswo, aber ich habe einen Vorgeschmack darauf bekommen. Es existiert. Es ist möglich.

Hätten unsere Freunde uns ihr Auto vermietet, um einkaufen zu fahren, und hätte Stella für ihre Heilsitzung Geld verlangt, dann wäre die Gemeinschaft insgesamt ein wenig ärmer, auch wenn die gleichen „Dienste“ die gleichen „Bedürfnisse“ befriedigt hätten. Auf allen Seiten hinge der Verdacht in der Luft: „Die machen das doch nur wegen des Geldes. Darum geht es denen.“ Das ist die Quintessenz von Abgebrühtheit.

Ich unterschätze keineswegs die praktischen Hindernisse beim Wiederaufbau einer Schenkkultur und der Wiederherstellung des Gemeinschaftsgefüges. Mächtige wirtschaftliche Kräfte stehen uns im Weg. Doch diese Kräfte sind mit unseren eigenen vererbten Wahrnehmungen und Gewohnheiten verbündet. Manches davon ist bereit, sich zu ändern, und wird sich ändern, wenn wir die qualitativen Dimensionen und Beziehungen des Lebens wertschätzen, die gegenüber den grellen Farben der Geldwelt verblassen. Die Geschichte, die ich erzählt habe, ist nicht als moralische Zurechtweisung gedacht, dass jemand zum Beispiel Geld verlangen sollte oder nicht. Ich vertraue vielmehr darauf, dass wir, wenn wir den Wert des Verlorenen erkennen und verstehen, wie es verloren ging und wie es wiederhergestellt werden kann, unsere Entscheidungen in neue Bahnen lenken werden.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Einfach nicht abgebrüht“ auf dem Blog von Charles Eisenstein.