Die Geldmaschine

Unser gesamtes System ist darauf ausgerichtet, das reichste Prozent der Erdbewohner immer noch reicher zu machen. Exklusivabdruck aus „Eine Erde für alle! ― Einssein versus das 1 %“.

1 Prozent ist nicht nur eine Zahl. Dahinter steckt ein System, ein von den Reichen und Mächtigen geprägtes Wirtschaftssystem. Darin werden ungezügelte Gier und die Anhäufung von Vermögen als gesellschaftlich erwünschte Tugenden betrachtet statt als Entgleisungen, die durch soziale und demokratische Prozesse in Grenzen gehalten werden müssen. Es ist ein Modell, bei dem die Fragen danach, wer produziert, was produziert wird oder ob etwas überhaupt produziert wird, aus der wirtschaftlichen Gleichung verschwinden. Sie werden durch Geldmachen, Geldvermehren ersetzt oder durch das, was Aristoteles „Chrematistik“ ― die Kunst, Reichtum zu erlangen ― nannte. Das führt zu einer wirtschaftlichen Apartheid zwischen den Besitzenden und denen, die nichts haben. Diese entwickelt sich zu einer ökologischen Apartheid zwischen dem Lebendigen und dem Nichtlebendigen, nicht nur in Bezug auf die Menschheitsfamilie, sondern auch auf die Erdenfamilie. Der Aufstieg des 1 Prozent verkörpert den Willen, auszugrenzen und zu vernichten. Die unvermeidlichen Folgen sind Ökozid und Völkermord.

Der Oxfam-Bericht „An Economy for the 1 %“ (Eine Wirtschaft für das 1 Prozent) zeigt, dass das reichste 1 Prozent so viel besitzt wie 3,6 Milliarden Menschen — die ärmsten 50 Prozent der Menschheit. Während der Reichtum der reichsten 62 Menschen der Welt zwischen 2010 und 2015 um mehr als 45 Prozent zunahm — ein Anstieg um mehr als eine halbe Billion Dollar auf 1,76 Billionen Dollar —, verringerte sich der Reichtum der unteren Hälfte im gleichen Zeitraum um etwas mehr als eine Billion Dollar, was einem Rückgang um 38 Prozent entspricht. Im Jahr 2010 verfügten 388 Personen über so viel Vermögen wie die ärmste Hälfte, 2011 waren es 177, 2012 sank die Zahl auf 159, 2013 sank sie weiter auf 92, 2014 auf 80 und 2017 auf nur noch acht.

Heute ist der Finanzsektor, in dem die Reichen aus Geld noch mehr Geld machen, in den meisten Ländern der Welt, darunter Indien und die USA, auf 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angewachsen. Wie aus dem Oxfam-Bericht hervorgeht, waren in der Wirtschaft des 1 Prozent im Jahr 2014 437 der größten Konzerne im Finanzsektor tätig, und ihr Vermögen war fünfmal größer als das von Konzernen anderer Wirtschaftszweige. Nach der Finanzkrise von 2008 erzielte das reichste 1 Prozent 95 Prozent des weltweiten Wachstums, berichtet das Wall Street Journal. Während die einfachen Menschen Arbeitsplätze, Häuser, Renten und Sicherheit verloren, wurden all jene reicher, die in den Finanzmärkten mit Geld spielen.

Die finanzielle Deregulierung — dazu gehört auch die Aufhebung der Trennung zwischen Sparen und Investmentbanking — schuf eine auf Spekulation beruhende Wirtschaft, wobei die Finanzwirtschaft die Realwirtschaft überholte und ihr auf vielfältige Weise die Luft nahm.

Von 2009, als die Große Rezession offiziell zu Ende ging, bis 2012 scheffelte das obere 1 Prozent der Amerikaner 95 Cent von jedem Dollar Gewinn. Fast ein Drittel des nationalen Zuwachses ging an nur 16.000 Haushalte, das Top 1 Prozent des obersten 1 Prozent, wie die Analyse der Daten des Internal Revenue Service (IRS) von Thomas Piketty und Emmanuel Saez zeigt.

Die Veränderungen des Einkommens für die große Mehrheit sind ebenso aufschlussreich. Bei den unteren 90 Prozent stieg 1934 das Durchschnittseinkommen um 8,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr — das Jahr 1933 markierte den Beginn der Erholung von der Großen Depression —; 2012 musste dieselbe statistische Gruppe mit 15,7 Prozent weniger auskommen als 2009. Piketty weist darauf hin, dass das 1 Prozent mehr Geld mit Kapitalinvestitionen verdient hat, als andere mit ihren Löhnen verdienen; da das Kapitaleinkommen ungleich verteilt ist, führt dies zu wachsender Ungleichheit. Er zeigt, dass die Ungleichheit — unabhängig davon, ob Kapital besteuert wird oder nicht — unter der gegenwärtigen Politik zunehmen wird, weil die Ersparnisse aus den laufenden Löhnen und Gehältern nicht so stark wachsen können wie die Erträge aus vorhandenem Vermögen. Laut Piketty wird der Prozess der Vermögensanhäufung „immer schneller und ungleicher, da die Kapitalrendite steigt und das (gesamtwirtschaftliche) Wachstum sinkt“.

Die Wirtschaft des 1 Prozent ist nicht nur ein System wirtschaftlicher Ungleichheit; sie hat Auswirkungen auf den Planeten, auf die Gesellschaft und auf die Demokratie, denn sie steht für eine Denkweise und ein intellektuelles Paradigma, das auf einer Weltsicht von Separierung, Ausbeutung und Vernichtung beruht.

Die Raubritter von heute sind in der Informationstechnologie und in der Finanzbranche, in der Landwirtschaft und in der Biotechnologie tätig. Sie verschmelzen durch die Nutzung digitaler Instrumente schließlich zur digitalen Wirtschaft.

Die Natur wird zum Feind erklärt, und der Mensch arbeitet gegen die Natur. Diejenigen im globalen Kasino sehen die Natur und das Leben als „Tyrannei“.

In ihrem Buch „The Fisherman and the Rhinoceros: How International Finance Shapes Everyday Life“ beschreiben Eric Briys und Francois de Varenne das, was sie „die Tyrannei der Realwirtschaft“ nennen. Was die Finanzwirtschaft ermöglicht, so argumentieren sie, ist, uns von dieser Tyrannei zu befreien. Risiken können durch den Einsatz von Derivaten nicht nur auf die richtigen Leute übertragen, sondern auch in die Zukunft verschoben werden, um auf den richtigen Zeitpunkt zu warten! Durch Tauschgeschäfte, durch die Bündelung von Schulden und deren Weiterverkauf als Vermögenswerte sowie durch den Verkauf von Derivaten auf diese Vermögenswerte können Risiken so lange verschoben werden, bis sie, wie es der Markt will, genau am richtigen Ort sind. Als Beispiele, die sich erfolgreich von dieser Tyrannei befreit hätten, nennen die Autoren zwei Unternehmen: Enron und hypothekarisch abgesicherte Wertpapiere.

Doch Enron brach zusammen, und die durch die Absicherung durch Hypotheken ausgelöste Subprime-Krise hinterließ der Welt die Finanzkrise von 2008. Wie Justin Podur in Counter Punch schreibt:

„Die Frage an die Gesellschaft ist, ob wir unser Leben der Rettung der Eliten vor monströsen Machtspielen um obszöne Geldsummen widmen wollen oder ob wir lieber die moderateren Risiken dämpfen wollen, die die Menschen im Alltag auf der Suche nach einem menschenwürdigen Überleben eingehen müssen. Dies würde nicht einfach von selbst geschehen, wenn die Regeln geändert würden, um der ‚Tyrannei der Realwirtschaft‘ wieder Geltung zu verschaffen. Es würde eine ganz andere Art von Realwirtschaft erfordern.“

Konzerne und Branchen, die es vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht gab, sind heute für die schnellsten Gewinnzuwächse und die größte Zahl „neuer Moguln“ verantwortlich. Zum einen schaffen die Milliardäre und Raubritter, die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen sind, ihre eigenen Investitionsstrategien und eine auf Mieten beruhende Wirtschaft. Dabei bestehen die Mieten aus Lizenzgebühren auf Patente: auf Saatgut, auf Software, auf Algorithmen zur Verarbeitung von Big Data. Spekulation, Raub und Mieteinnahmen sind ihre Hauptgewinnquellen.

Zweitens können die Investmentfonds des 1 Prozent durch diese unangemessene Konzentration des Reichtums in ihren Händen — ein „Reichtum ohne Arbeit“, der sich viel schneller vermehrt, als die Realwirtschaft, die auf tatsächlicher Produktion beruht, wachsen kann — große Anteile an Großkonzer­nen aufkaufen und Fusionen vorantreiben, um die Gewinne weiter zu vervielfachen. Auf diese Weise vollzog sich auch die Fusion zwischen Monsanto und Bayer.

Und dann schafft das 1 Prozent auch Zusammenschlüsse zwischen Sparten, die früher getrennt waren. War früher die Informationstechnologie (IT) vom Finanzwesen und von der Biotechnologie in der Landwirtschaft getrennt, sind diese Grenzen heute aufgehoben. Durch die Digitalisierung treibt die IT heute sowohl die Finanzwelt als auch die Wirtschaft an, und sie treibt die nächste Phase der industriellen Landwirtschaft voran, die digitale Landwirtschaft, die „Landwirtschaft ohne Bauern“ genannt wird.

Geld, ein bloßes Mittel zum Austausch von realen Gütern und Dienstleistungen, die durch echte Arbeit produziert werden, wird zu „Kapital“, einer geheimnisvollen Kraft zur Schaffung von Wohlstand.

Dann mutiert „Kapital“ zu einer „Investition“, die durch vielfältige Anlagen zu einer „Investitionsrendite“ wird. Durch diese häufen jene, die keine wirkliche Arbeit leisten, sondern den durch die Ausbeutung von Natur und Menschen geschaffenen Reichtum kontrollieren, noch mehr Reichtum an. Und diesen Reichtum wiederum nutzen sie zur weiteren Ausbeutung von Natur und Gesellschaft. Die ökologischen Krisen nehmen zu. Armut, Elend und Ausgrenzung nehmen zu.

Viele Intellektuelle fragen sich, wie wir in diesen Schlamassel geraten sind. Eine modische Antwort ist „Neoliberalismus“. Aber der Neoliberalismus ist nichts anderes als das wirtschaftliche Paradigma, welches die gewaltsame Auferlegung der Herrschaft der Konzerne und die Herrschaft des 1 Prozent zur Norm erhebt. Es stimmt, dass die heutige Globalisierung die enorme Macht einer Handvoll von Konzernen ermöglicht hat. Die Globalisierung beruht auf dem neoliberalen Paradigma. Aber Konzerne gab es nicht schon immer. Sie wurden als Instrumente der Kolonialisierung geschaffen. Sie entstehen nicht „aus dem Nichts“, sondern aus der richtigen Menge Macht und Geld in Abwesenheit von Demokratie.

Weder Neoliberalismus noch globalisierte Konzerne sind neu. Sie nahmen vor fünfhundert Jahren mit Kolumbus ihren Anfang, der nach Indien aufgebrochen war, aber stattdessen in Amerika landete. Sein Raubzug hieß „Entdeckung Amerikas“. Die Gründung der Britischen Ostindien-Kompanie im Jahr 1600, die für die Ausplünderung Indiens geschaffen wurde, schuf die Grundlagen für die heutige Globalisierung und Herrschaft der Konzerne. Die durch den Kolonialismus der Konzerne geschaffene Armut wurde sodann von ihren eigentlichen Ursachen separiert. Und im Laufe der Jahrhunderte bot man schließlich die Krankheit selbst als Heilmittel an. Es ist ein Mythos entstanden: dass nur Konzerne eine Wirtschaft führen und dass nur sie die Regeln für Wirtschaft und Handel festlegen können.

Teile des Lebens, mit denen bisher nie Handel getrieben wurde, sind unter den neuen Regeln des „freien Handels“ privatisiert worden. Saatgut wurde zu Monsantos geistigem Eigentum, für das die Firma Lizenz- und Mietgebühren einzieht. Nahrungsmittel sind heute eine Ware, die von Getreidehändlern wie Cargill gehandelt und von Coca-Cola und Pepsi, Nestlé und Kellogg‘s in Junkfood verwandelt wird.

Großkonzerne definieren Freiheit als „Freihandel“, was nichts anderes bedeutet als die Globalisierung der Konzerne. Diese Konzerne und ihre sich im Hintergrund haltenden Eigentümer missbrauchen jedoch ihre Freiheit, um das ökologische Gefüge der Erde und das Gefüge der Volkswirtschaften und der menschlichen Gesellschaften zu zerstören. Die Regeln des „Freihandels“ werden von Konzernen aufgestellt, um ihre eigene Freiheit auszuweiten: um den letzten Zentimeter Land, den letzten Tropfen Wasser, den letzten Samen, die letzte Portion Nahrung, das letzte Byte Information, das letzte bisschen Daten, Wissen und Vorstellungskraft zu kommerzialisieren und zu privatisieren.

Die Deregulierung von Konzernen und die Überwachung und Kriminalisierung von Bürgern hat enorme Auswirkungen auf unser Leben, unseren Lebensunterhalt und unsere Freiheiten. Die Festigung und Ausbreitung der Macht der Konzerne, die die Realwirtschaft untergraben, welche die Menschen tatsächlich ernährt und erhält, ist eine dieser Auswirkungen. Eine weitere wichtige Konsequenz sind Veränderungen in der Politik, wobei die repräsentative Demokratie sich rasch von einer Demokratie „des Volkes, durch das Volk, für das Volk“ zu einer Demokratie „der Konzerne, von Konzernen, für Konzerne“ entwickelt hat. Schlimmer noch, die Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen einer kleinen Gruppe nicht gewählter, nicht rechenschaftspflichtiger Individuen führt zu der politischen Macht, Regierungen und Gesetze zu beeinflussen und die Zukunft unserer Nahrung und Gesundheit und die des ganzen Planeten zu gestalten.

In Indien besteht das höchste politische Entscheidungsgremium, Niti Aayog — das auch Exekutivfunktionen ausübt —, aus Personen, deren einzige Fachgebiete der „Freihandel“ von Konzernen und die Handelsliberalisierung sind. Die Förderung von Importen, die wir nicht brauchen, die undemokratische Untergrabung von Regierungsinstitutionen, die gemäß der Verfassung die Rechte der Bauern auf Saatgut und das Recht der Menschen auf erschwingliche und sichere Medikamente schützen, und die Förderung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) und gefährlichen Medikamenten sind Beispiele dafür, dass die Kriterien der Konzerne schwerer wiegen als das reale Leben. Niti Aayog ist in Indien zu einer zentralen Anlaufstelle für globale Unternehmenslobbygruppen geworden, die Indiens Wirtschaft in ihren privaten (Hinterhof-)Markt verwandeln wollen. Dies ist systemische Korruption unserer Demokratie und ein Rezept für die Zerstörung der Volkswirtschaft.

Die Konzentration wirtschaftlicher Macht und die systematische Auslöschung lokaler Ökonomien schafft Arbeitslosigkeit, Vertreibung und wirtschaftliche Unsicherheit.

Diese Unsicherheit wird dann von den Mächtigen ausgenutzt, um die Gesellschaft entlang rassischer, ethnischer und religiöser Grenzen zu spalten. Die Fragmentierung und Ausgrenzung in der Gesellschaft ist eng mit dem ausbeuterischen Wirtschaftsmodell der Anhäufung von Reichtum durch ein paar wenige verbunden.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Eine Erde für alle! - Einssein versus das 1 %“ von Vandana Shiva.