Die Geometrie der Seele

Auch das menschliche Seelenleben folgt fraktalen Mustern — das Ganze spiegelt sich in seinen Teilen wider. Exklusivabdruck aus „Geometrie der Seele“.

Das Brokkoliröschen. Wenn man es genau anschaut, sieht es aus wie eine Miniaturausgabe des ganzen Brokkoli. Ähnlich verhält es sich mit Bäumen. Die Verzweigungen der Äste sehen aus wie ein kleiner Baum. Ebenso folgen Farne dem Muster „Wie im Großen, so im Kleinen“. Auch im menschlichen Körper gibt es Fraktale, etwa in den vielfachen Verzweigungen der Blutgefäße. Was hat das Ganze aber mit der menschlichen Psyche zu tun? „In einem Menschen spielt sich auch das universelle Leben ab“ schreibt der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert in seinem neuen Buch „Geometrie der Seele: Wie unbewusste Muster das Drehbuch unseres Lebens bestimmen“. Der Mensch ist Teil und Abbild des Ganzen. Ebenso sind Details aus seinem Leben aufschlussreich für die Deutung seines Charakters — ein Effekt, den viele Therapeuten in ihren Gesprächen mit Patienten nutzen. Man kann über das Aufspüren seelischer Fraktale Lebensmustern auf die Spur kommen und sie, wo sie Leid erzeugend sind, heilen.

Lassen Sie uns beim Baum beginnen, um in eine ganz neue Betrachtungsweise von uns selbst und der Welt einzutauchen. Wenn Sie sich beispielsweise eine Linde, eine Buche oder eine Eiche vorstellen, haben sie alle eine Gesamtgestalt: unten den Stamm, darüber Äste, Zweige und die Krone. Verfolgen Sie mit den Augen nun allein einen der dicken Hauptäste, werden Sie feststellen, dass sich in ihm die Gesamtgestalt des Baumes wiederholt. Auch er zeigt einen Stamm, der sich verästelt und verzweigt — genauso wie der gesamte Baum. Betrachten Sie einen dünneren Ast, entdecken Sie das gleiche Phänomen: Auch er beginnt mit einer Art Stamm, von dem aus kleinere Äste und schließlich Zweige abgehen. Und auch diese, wenn Sie sie einzeln anschauen, haben wieder die Gesamtgestalt.

Immer neu zeigt der Baum die Form des Gesamten auch in seinen Teilen — nicht hundertprozentig gleich, aber „selbstähnlich“.

Das Gleiche können Sie beim Brokkoli oder — besonders schön — beim Romanesco beobachten. Der hübsche grüne Kegel wiederholt sich vom Großen bis ins Kleinste. Der gesamte Romanesco ist in etwa kegelförmig und zusammengesetzt aus kleineren Kegeln, die sich wiederum in noch kleinere Kegel und schließlich winzige Kegelchen unterteilen lassen. Ein Kunstwerk der Natur. Exklusivabdruck aus „Geometrie der Seele: Wie unbewusste Muster das Drehbuch unseres Lebens bestimmen“.

Was wir hier beobachten können, ist ein natürliches Ordnungsprinzip, das Sie überall entdecken werden, wenn Sie sich einmal dafür sensibilisiert haben. Bäume zeigen es genauso wie Berge, Flussläufe, ganze Landschaften, der Blitz in einem Gewitter und viele natürliche Phänomene mehr. Man spricht von Fraktalen, die zuerst in der Mathematik wissenschaftlich analysiert wurden, als man versuchte, näher an die Formen der Natur heranzukommen, als das die traditionelle Geometrie vermag.

Wir finden Fraktale aber auch in der Biologie von Lebewesen — beispielsweise im Gefäßbaum oder der Lunge von Säugetieren und damit auch von uns Menschen. Doch auch damit sind wir nicht am Ende dessen angelangt, was die Fraktale mit uns zu tun haben. Denn wir bestehen aus weit mehr als nur dem Physischen, und gerade das Fraktale zieht sich als Ordnungsprinzip durch das Stoffliche ebenso wie durch das Nichtstoffliche. Es lässt sich quer durch all unsere Existenzebenen entdecken: in unserem Körper, aber auch — und das ist die These dieses Buches — in unserer Psyche und darüber hinaus in Beziehungen, im Familiären und im Sozialen, ja selbst im Geschichtlichen. Wozu ich Sie hier also tatsächlich einladen möchte, ist eine Geometrie des Seelischen. Ich möchte mit Ihnen hier geometrische Feinheiten auf unser komplexes Sein als Mensch anwenden.

Die Fraktalgeometrie kann uns enorm dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen, und auch dabei, uns zu heilen oder gesund zu erhalten, wenn wir sie über das Stoffliche hinaus auch im Nichtstofflichen zu begreifen versuchen.

In der gegenwärtigen Medizin wird dieses Nichtstoffliche und seine komplexe Wechselwirkung mit dem Stofflichen aus meiner Sicht viel zu wenig beachtet, was diese Medizin an viele Grenzen stoßen lässt.

Ich bin schon lange ein Kritiker dieser Medizin, die nur auf das Körperliche schaut und das Seelische und Geistige abspaltet. Deswegen halte ich es für ein wesentliches Kennzeichen einer dringend nötigen neuen Medizin, dass wir lernen, fraktal zu denken. Was das bedeuten könnte, was dabei alles zusammenspielt und was Sie damit vielleicht auch für Ihr Leben und Erleben gewinnen können, darum wird es in den folgenden Kapiteln gehen.

Wenn Geometrie Psychologie inspiriert

„In einem Menschen spielt sich auch das universelle Leben ab.“ Diesen Satz schrieb ich vor über zwanzig Jahren, und als ich ihn bei der Arbeit an diesem Buch wiederentdeckte, war das ein eigentümlich berührender Moment. Es ist der erste Satz in einer Worddatei mit mittlerweile 793 Seiten, in die ich meine Gedanken und Beobachtungen schreibe, die mir neu oder spannend erscheinen. Was ich da als allerersten Satz vor mehr als zwei Jahrzehnten notierte, umspannt bereits, was ich heute an Sie weitergeben möchte. Es offenbart bereits die Fraktalidee im Wesen Mensch.

Ein Fraktal ist ein Muster, bei dem sich das Ganze in den Teilen selbstähnlich widerspiegelt, so wie ich es eingangs für Bäume beschrieben habe. Das Große wiederholt sich im Kleinen, das Kleine zeigt sich im Großen.

Der Baum wiederholt sich im Ast, der Ast zeigt sich im Baum. Ich möchte dieses Phänomen der Selbstähnlichkeit und der Fraktale in einem Bereich anwenden, wo wir es kaum vermuten würden. Es ist bereits sehr spannend, es in der Natur, der Biologie und in der Mathematik zu untersuchen, doch wenn Seelisches zu Geometrie wird, dann bricht das mit all unseren Vorstellungen. Dann eröffnen sich völlig neue Blickwinkel auf unser Sein.

In der Mathematik und speziell der Geometrie ging man lange Zeit nur von glatten und perfekt geformten Elementen aus: Kreise, Dreiecke, Zylinder, Linien und so weiter. Doch — wie es der Entdecker und Namensgeber der Fraktale Benoît Mandelbrot ausdrückt — „die Kurven, welche keine Tangente besitzen, sind die Regel, und die höchst regelmäßigen Kurven, wie der Kreis, sind zwar sehr interessante, aber ganz spezielle Fälle“. Erinnert das nicht auch an das Menschenbild unserer gegenwärtigen Gesellschaft? Glatt und gleichmäßig soll die Persönlichkeit sein, genormt seit der Kindheit, gut einzupassen und auf einfache Nenner herunterzubrechen. Doch wer von uns ist so?

Ist nicht auch bei uns viel mehr das Nichtlineare und Raue an der Tagesordnung, genauso wie in der Natur, die eben nicht aussieht wie ein Lehrbuch der Geometrie für die achte Klasse? Und wird es deshalb nicht Zeit, unserem Bild von uns selbst mit moderneren Erkenntnissen auf die Sprünge zu helfen?

Es „zeigt sich, dass der ‚fraktale Blick‘ in manchen Fällen überhaupt erst so etwas wie ein anschauliches Verständnis von Zusammenhängen ermöglicht“, wo Dinge sonst eher nur unverbunden nebeneinander wahrgenommen werden. Genau das lässt sich auch für das Psychische sagen.

Wir glauben oft, dass Psychisches einfach passiert, dass es einfach irgendwie da ist. Doch wenn wir mit dem Wissen um die Fraktale an die Seele herangehen, tut sich ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen in unserem Sein auf und wird für uns immer besser verstehbar.

Beginnen können wir dabei ganz einfach. Warum beendet eine bestimmte Person immer wieder ihre Beziehungen, eine andere nie? Warum scheint der eine Mensch in allen Lebensbereichen das Gelingen richtiggehend abonniert zu haben, während ein anderer trotz großer Anstrengung bei der Erfüllung seiner Träume immer wieder scheitert? Warum entwickelt jemand eine Erkrankung und jemand anderes eine völlig andere? Warum schafft ein Künstler gerade die Kunst, die ihn ausmacht? Was passiert da im Verborgenen? Wie organisieren sich die unterschiedlichen Existenzen? Auf welche Weise wirkt das Unbewusste in uns, und wie schafft es wahrnehmbare Wirklichkeit? Hat dies alles richtiggehend mathematische Hintergründe, die zugleich den enormen Spielraum offenlassen, der die Vielfalt des Lebendigen ausmacht? Finden sich — wie beim Baum — bestimmte Grundthemen in unserem Leben im Kleinen wie im Großen auf allen möglichen Ebenen wieder?

Solchen Fragen gehe ich seit vielen Jahren nach, und ich bin bei Weitem nicht der Einzige, der die Fraktale auch in anderen Bereichen jenseits von Mathematik und Geometrie in die Diskussion bringt. Natürlich scheint der Weg zwischen den beiden Feldern, um die es mir hier geht — der abstrakt und kompliziert wirkenden Mathematik der Fraktale einerseits und uns Menschen andererseits —, sehr weit. Und so brauchte es auch einige Jahrzehnte, bis unterschiedliche Forscher und Forscherinnen mit der Idee der Fraktale in der Medizin und der Psychologie angekommen waren. Jetzt aber gibt es hier vielversprechende Ergebnisse. Sie zeigen auch, dass eine rein mechanistische Betrachtungsweise von Mensch und Welt nicht nur ungesund und schädlich ist, sondern auch wissenschaftlich falsch.

Wenn ich Geometrie mit Psychologie verbinde, geht es nicht darum, den Menschen nun als berechenbar und damit bis ins Kleinste vorhersagbar darzustellen. Denn das wird er niemals sein, so wie es auch die Natur niemals sein wird.

Es geht vielmehr darum, sich ein grundlegendes Ordnungsprinzip der Natur so weit zu vergegenwärtigen, dass wir prüfen können, inwieweit es auch bei uns, die wir ebenfalls zur Natur gehören, Geltung hat.

Und wenn es das tut, können wir schauen, wie wir das Wissen für uns nutzen können. Genau darum geht es in den folgenden Kapiteln.

Die Wiederentdeckung des Menschlichen

Ich schreibe dieses Buch, weil ich mir eine Psychologisierung der Welt wünsche, die zwangsläufig zu einer Art Wiederentdeckung des Menschlichen führen wird. Ich wünsche mir die Einsicht von immer mehr Menschen, dass wir nicht nur biologische, sondern auch psychologische und soziale Wesen sind, und dass sich diese drei Ebenen intensiv beeinflussen und nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Für mich ist das, was Sie hier finden und was erst der Anfang und ein kleiner Ausschnitt aus einem unendlich weiten, jungen Forschungsbereich ist, wie ein Umarmen des Unbewussten, ein vorsichtiges Begreifen der Größe und Verwobenheit aller Ebenen unserer Existenz. Dieses Begreifen kann zu einem neuen, gesünderen Umgang miteinander, zu einer menschlicheren Lebenskultur, zu einer neuen Medizin und zu einer verwandelten Sicht des Einzelnen auf sich selbst und sein Umfeld führen, die uns allen guttun dürften.

Wenn Sie durch dieses Buch Lust bekommen, sich selbst und die Menschen in Ihrem Leben auf Fraktale hin zu untersuchen, wenn Sie darüber miteinander ins Gespräch kommen und sich selbst, andere und die Welt tiefer verstehen lernen, dann würde ich meine Arbeit hier als gelungen betrachten. Es ist nicht simpel, Fraktale in der eigenen Psyche und im eigenen Leben oder bei anderen zu erkennen. Viele Menschen haben ein natürliches Talent dafür, andere sind durch ausreichend Erfahrung in Therapie und Selbsterkenntnis schon etwas geübt, wieder andere werden vielleicht durch ein Buch wie dieses dazu angeregt, fortan in Mustern und Selbstähnlichkeiten zu denken. Sie alle dürfen wissen, dass eine solche Art, die Menschen und die Welt zu betrachten, einen mathematischen Hintergrund hat, der dem oft abgewerteten Bauchgefühl oder dem intuitiven Assoziieren ein wissenschaftliches Fundament baut.

Wenn Sie zu den Menschen gehören, denen eine ganzheitliche Betrachtungsweise bereits vertraut ist, werden Sie mit dem, was ich hier darstelle, wahrscheinlich schnell übereinstimmen können. Was allerdings auch für Sie neu sein könnte, ist die Herleitung dieser Ganzheitlichkeit aus einem naturwissenschaftlichen und mathematischen Grundprinzip — dem Ordnungsprinzip des Fraktalen.

Wir können über die Fraktale das Unbewusste in die Bewusstheit holen, denn es ist wesentlich an der Ausprägung der Muster in unserem Leben beteiligt — der Muster, die sich fraktal organisieren und darüber von uns erkannt werden können.


Christian Schubert „Geometrie der Seele: Wie unbewusste Muster das Drehbuch unseres Lebens bestimmen