Die Gesellschaft dreht durch

Der Roman „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban blickt auf den verheerenden Verlust der Debattenkultur.

Klima, Gender, Rassismus, Ukrainekrieg: Die Nation ist bis in die persönlichsten Beziehungen hinein gespalten. Ein hochaktueller Roman über die zerstörerische Kraft eines enthemmten Diskurses hält ihr den Spiegel vor — und vermag es, die Gräben zu überwinden. Juli Zeh und Simon Urban bringen die Kritik gegenüber der Cancel Culture, die unabhängige Medien seit Langem kritisieren, nun in den Mainstream.

Der Anfang ist eine WhatsApp-Nachricht. Das Ende eine Fehlermeldung. Dazwischen liegt die Geschichte von Stefan und Theresa, die sie selbst in ihrem digitalen Austausch erzählen. Einst hätte man das Buch als Briefroman bezeichnet. Heute schreiben die Protagonisten per E-Mail und WhatsApp.

Nach zwanzig Jahren Funkstille treffen sich die Studienfreunde zufällig in Hamburg wieder. Es endet in einem Fiasko. Er ist Top-Journalist in der Großstadt, sie leitet einen kleinen Bauernhof in Brandenburg. Stefan setzt sich als Redakteur einer wichtigen Zeitung für seine Ideale ein, Theresa droht mit ihrem Bio-Milchhof das finanzielle Aus. Aufgrund ihrer gemeinsamen Erinnerungen an ihre besten Jahre beschließen sie, es noch einmal zu versuchen und sich gegenseitig aus ihren Welten zu erzählen. Immer wieder geraten sie über Klimapolitik, Gendersprache und Rassismus aneinander.

Juli Zeh hat viele Bestseller geschrieben, darunter die Gesellschaftsromane „Unterleuten“ und „Über Menschen“. Diesen Roman schrieb sie zusammen mit dem Schriftsteller, Werbetexter und Journalisten Simon Urban. Der temperamentvolle Austausch der beiden Hauptfiguren spiegelt wider, was die Autoren bei ihren Gesprächen selbst festgestellt haben. Sie sind besorgt über den Zustand der Debattenkultur in Deutschland und fragen sich, ob man überhaupt noch von einer solchen sprechen kann. Die Gesellschaft ist gespalten, und die verschiedenen Lager sind oft nicht mehr bereit, miteinander zu reden. Theresa und Stefan übernehmen das stellvertretend.

Die Idee ist genial.

In einer Zeit, in der Menschen dazu neigen, Medien zu konsumieren, die ihre eigene Haltung bestätigen, gelingt es den Autoren des Romans, zwei Weltanschauungen in einem Werk zu vereinen und die Chance zu erhöhen, dass Leser — egal welcher Weltanschauung — eine neue Sichtweise erhalten.

Es geht um weiße Künstlerinnen, die mit Dreadlocks auftreten und harte Kritik ernten, eine Biologin, die einen Vortrag über „Zweigeschlechtlichkeit“ halten will und durch Aktivisten daran gehindert wird, und einen offenen Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.

Mit ihrem geschickt in die Cancel Culture geworfenen Roman wollen Urban und Zeh zeigen, wie unterschiedlich man über solche Dinge denken kann und auf welche Weise es zu so aggressiven Auseinandersetzungen kommt, während wohl nicht nur die Sehnsucht der Romanfiguren nach Verständigung groß ist.

Der Schreibstil ist rasant und scharf. Immer wieder schlägt das Herz schneller, wenn Stefan und Theresa sich näherkommen, aus Angst, dass die nächste Trigger-Bombe hochgeht. Ein Muss für jeden, der an sich selbst den Anspruch stellt, nicht nur theoretisch Demokratie und Meinungsfreiheit hochzuhalten, sondern sie selbst im Alltag zu leben. In seiner letzten Mail an Theresa schreibt Stefan:

„Im Gras der Uferböschung streiten zwei Möwen. Sie umtanzen einander mit lautem Geschrei, sie hacken sich, flattern auf und landen, die Schnäbel kreischend geöffnet zum nächsten Angriff. Ich sehe, worum sie kämpfen. Es ist nur ein zusammengeknülltes Stück Papier.“


Juli Zeh und Simon Urban, „Zwischen Welten“.