Die goldene Lücke

Manchmal wird ein Riss im Weltbild unerwartet zum Einfallstor innerer Freiheit.

Die Coronakrise markiert nicht nur politisch eine Zäsur. Auch das Weltbild und Privatleben vieler Bürger geriet durch sie ins Wanken. So wurde auch die Autorin 2020 aus alten Sicherheiten gerissen und sah sich gezwungen, ihre Einstellungen und Prioritäten neu zu sortieren. Was als Krise begann, wurde für sie zu einer intimen Reise zu sich selbst. Bewusst wand sie sich vom medialen Getöse ab und fand sich nicht, wie man denken könnte, im Rückzug wieder, sondern in einer neuen Form der Weltbeziehung. Eine persönliche Erzählung über Resonanz, Entschleunigung und das Politikum des Selbstseins.

Es war ein Riss, der sich langsam vorwärts fraß. Bei genauerer Betrachtung waren die Haarrisse, die diese Bewegung auslösten, schon lange da und derer viele. Das Gefüge um den Riss schien noch stabil. Die Instabilität ist Teil des Lebens, wenngleich in unserer durch- und abgesicherten Gesellschaft doch eher im persönlichen denn im gesellschaftlichen Feld zu erwarten und also dazugehörend. 2020 war es anders — dieses fern scheinende, gar undenkbare Beben war plötzlich da.

Im klaffenden Loch der sich öffnenden Lücke erkannte ich nach geraumer Zeit meine Nachrichtenerschöpfung. So trat ich zurück vom medialen Weltentreiben. Heiner Müller sprach von der „Fähigkeit zur Distanz“. Es ist dies nicht eine teilnahmslose, ignorierende Haltung der Welt gegenüber, vielmehr eine uns vor der Verschmelzung hütende, gesunde Distanz. In dieser Haltung übe ich mich seither. Es ist und bleibt ein Üben und gelingt mal mehr, mal weniger. Doch auch Üben ist Medizin.

Die daraus entstandene Freiheit schenkt mir Spielraum. Ich sehe mir nicht mehr jedes Spektakel in seinen Einzelheiten und endlosen Wiederholungen an; ich erkenne früh die sich gleichenden Muster. Wir erhalten heute an einem Tag so viele Informationen wie vor dem Zweiten Weltkrieg in einem Jahr, so Christof Plothe, Naturheilkundler und Osteopath (1). Und dieses «Wissen» macht uns dümmer, da wir durch die Überfülle nicht mehr denken können, geschweige denn ins Handeln kommen. Wir sind überfordert und werden lethargisch. Diese für mich radikale Entscheidung verlieh mir wieder Kraft. Durch die reduzierte Nachrichtenaufnahme schenke ich mir viel Zeit und Freiraum. Ich bekomme wieder Luft, meinen Fokus auf anderes, auf Echtes auszurichten und dieses in die Tat umzusetzen.

Das Wagnis, neue Wege zu gehen

Dem Riss verdanke ich schlussendlich das Wagnis, neue Wege zu gehen. Der erste Schritt war die Entscheidung, nicht mehr etwas zu bekämpfen, sondern meine Aufmerksamkeit und daraus folgend mein Tun auf die Gesetze der Resonanz auszurichten. Ich wollte meine Energie nicht mehr auf die sich immer absurder drehende Außenwelt richten. Die permanente Beschäftigung damit lähmt die kreierende Kraft, die uns allen innewohnt. Da ich begann, mich anders auszurichten, also neue Affinitäten entwickelte, drangen vermehrt Dinge anderer Felder in mein Leben. Und einmal angefangen, diese neuen Welten willkommen zu heißen, öffnen sich immer weitere Sphären, die mir Ungeahntes offenlegen, mich weiter beschenken. Hinter jeder bis dato verschlossenen Tür warten zehn weitere auf mich, die von mir geöffnet werden möchten.

Ich habe mich entschieden, einen radikalen Sprung nach innen zu wagen und mich möglichst wenig an meinen Rändern zu bewegen. Ich nehme mich und meine Bedürfnisse ernst, bin dadurch vermehrt im Kontakt mit meinem Wesenskern. Seit diesem Sprung trage ich die Verantwortung für mich anders und wachse in ein reichhaltigeres Lebensgefühl hinein. „Intim“ bedeutet „innerlichst“ und ist also den Rändern am fernsten. Ja, ich habe meine intime Beziehung zu mir selbst weiterentwickelt und lebe sie immer mehr nach außen. Am wichtigsten ist mir dabei, dass ich von innen berührt werde, noch besser, dass ich mich von innen berühren lasse. Immer wieder aufs Neue. Dies ist manchmal nicht einfach und schon gar nicht schmerzfrei zu haben.

Doch lieber bin ich verletzlich, als ein anästhetisches Leben zu fristen.

Teil dieser Welt werden

Der Sprung nach innen und die damit verbundene Entschiedenheit bewirkte, dass ich prompt in der Mitte des Lebens und also der Lebendigkeit landete. Faszinierend und unerwartet war dabei, eine gegenläufige Bewegung zu erfahren: sich nach innen ausrichten, um wirklich Teil dieser Welt zu werden. Ich bin wacher geworden, auch weicher. Die neue Haltung ist primär eine wahrnehmende, nicht mehr sofort eine analysierende und kategorisierende.

Das Leben begegnet mir seit dieser Entscheidung anders. Das Kraftvolle ist wieder ganz vorne mit dabei. So wurde dieser Schritt ins Selbst unbeabsichtigt zu einer politischen Handlung — und nicht, wie zu vermuten wäre, zu einer inneren Emigration.

Eine Welt, in der wir kraftvoll uns selbst bewohnen, wird eine andere. Gestalten wir unser Leben bewusst von innen nach außen, bewegen wir uns anders.

Es entsteht Raum für Entfaltung unseres Selbst, im kleinen und großen sozialen Gefüge. Und so verändert sich dieses leise, aber stetig — wir stärken aus dieser Haltung heraus das kollektive Feld. Das Anderssein, sprich unsere klare, aus der Mitte schöpfende Präsenz, wird auch für andere spürbar, kann inspirierend wirken.

Wie sich dies zeigt? Mich grüßen seither auf der Straße wildfremde Menschen, wenn ich präsent bin, und schenken mir ein Lächeln zurück. Manchmal «erkennen» wir uns gar durch einen kurzen, aber tiefen Blick. Eine Sekundenverschmelzung mit einem unbekannten Menschen, der doch nicht fremd scheint. Dies sind besonders schöne Momente. Es erinnert mich an ein fühlendes Netz, einem Myzel gleich, welches sich immer weiter durch die Welt webt.

Hingabe an das Leben

Mein spiritueller Lehrer ist das Leben selbst. Die Antwort kommt jeweils, wenn es Zeit dafür ist, aus mir heraus. Meist ist dies mit einer Entschleunigung verbunden, denn gewisse Antworten müssen erst ein Vorleben entwickeln. Es wirkt anachronistisch, sich Zeit zu nehmen, bis die Antwort zu einem kommt. Und es passt oft nicht zum Takt unserer Gesellschaft. Meine Erfahrung ist, dass diese Antworten dadurch jedoch organischer ausfallen. Organisch in diesem Zusammenhang bedeutet: näher an meinen inneren Bedürfnissen, am Kern meines Wesens.

Der Riss hat mir mein Potential wieder offengelegt und mich zurück auf den Weg geschickt, um zu werden, wer ich wirklich bin.

Dies alles gelingt nur aus der eigenen Präsenz heraus. Ich halte nicht an Abgestandenem fest und an vergangenen Zeiten, denn sonst kann das Neue nicht kommen. Ich trauere auch nicht früheren Lebensabschnitten nach. Auch wenn es schwierige Phasen gibt, gestalte und erlebe ich die aktuelle Lebensphase immer als die beste meines Lebens. Die Magie der Entfaltungsmöglichkeiten und das Staunen bilden dabei meinen Kompass, sie sind unerschöpflich und halten mich wach.

Das Leben sucht Lebendigkeit. Immer wieder begegnet mir Neues, immer wieder bin ich am Ankommen, manchmal verunsichert und überfordert. Nichts ist ein Dauerzustand, sondern immer dem nächsten Wachstumsschritt gewidmet. Es ist aufregend, erfrischend oder einfach nur anstrengend. Und manchmal ist es alles zugleich. Doch immer öfter fällt sogar die Anstrengung im Anstrengenden ab — dann bin ich für einen Moment in der Mitte meiner Mitte, dem intimsten Ort, angekommen. Ich lege mir manchmal unbeabsichtigt größere Steine in den Weg, mit denen ich einen Umgang finden muss. Erstaunlicherweise freue ich mich über das Lernfeld, mit dem ich mich dadurch beschenke. Die Abenteuer- und Lebenslust überstrahlt alle anderen Regungen in mir.

Ohne die Geschehnisse von 2020 wäre ich wahrscheinlich nicht in dieser Konsequenz — zumindest nicht in dieser Geschwindigkeit — aufgebrochen und in ein neues Lebensgefühl hineingewachsen. Am Anfang dieses Lebenskapitels vollzog sich ein Riss. Dieser Riss, der schmerzhaft war und bis heute wirkt, erweist sich immer mehr als die goldene Lücke, in der Neues entsteht und in der ich mir und der Welt wirklich und echt begegnen kann.