Die größte Bedrohung für Israel
Ein Volk, dessen gesamte Existenz ausschließlich von militärischer Macht abhängt, ist nicht durch den Iran oder die Hamas gefährdet, sondern durch seine eigene Hybris.
Blickt man nach Israel, kann man in Staunen verfallen, für wie unfehlbar und siegessicher sich dieses Land hält. Immer wieder attackiert es seine Nachbarn und nimmt dann deren Feindseligkeit zum Anlass, sie erneut anzugreifen. Fast schon wahnhaft wirkt, wie weit sich die israelische Regierung aus dem Fenster lehnt, wie riskant sie agiert, als könnte ihr selbst nichts passieren, als wäre es nicht logisch, dass diese Art von Politik irgendwann auf einen zurückfällt. So bringt sich Israel gemäß dem Prinzip einer selbsterfüllenden Prophezeiung immer näher in Richtung seiner größten Angst: der Bedrohung seiner eigenen Existenz.
von Orly Noy
Es ist nun mehr als 46 Jahre her, dass ich im Alter von neun Jahren mit meiner Familie den Iran verließ. Den größten Teil meines Lebens habe ich in Israel verbracht, wo wir eine Familie gegründet und unsere Töchter großgezogen haben, aber der Iran ist immer meine Heimat geblieben. Seit Oktober 2023 habe ich unzählige Bilder von Männern, Frauen und Kindern gesehen, die neben den Trümmern ihrer Häuser stehen, und ihre Schreie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Aber wenn ich die Bilder aus dem Iran nach den israelischen Angriffen sehe und die Schreie in meiner Muttersprache persisch höre, fühlt sich das Gefühl des Zusammenbruchs in mir anders an. Der Gedanke, dass diese Zerstörung von dem Land verursacht wird, dessen Staatsbürgerin ich bin, ist unerträglich.
Im Laufe der Jahre ist die israelische Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, dass sie in dieser Region existieren kann, während sie ihre Nachbarn zutiefst verachtet — indem ihre Regierung mörderische Amokläufe gegen jeden verübt, wann und wie es ihr gefällt, und sich dabei ausschließlich auf rohe Gewalt verlässt.
Seit fast 80 Jahren steht der „vollständige Sieg“ kurz bevor: Man muss nur die Palästinenser besiegen, die Hamas eliminieren, den Libanon zerschlagen, die nuklearen Fähigkeiten des Iran zerstören — und schon gehört das Paradies uns.
Aber seit fast 80 Jahren haben sich diese sogenannten Siege als Pyrrhussiege erwiesen; jeder einzelne treibt Israel tiefer in Isolation, Bedrohung und Hass. Die Nakba von 1948 schuf die Flüchtlingskrise, die sich hartnäckig hält, und legte den Grundstein für das Apartheidregime. Der Sieg von 1967 führte zu einer Besatzung, die den palästinensischen Widerstand weiter anheizt. Der Krieg vom Oktober 2023 eskalierte zu einem Völkermord, der Israel zu einem globalen Paria machte.
Das israelische Militär — das in diesem gesamten Prozess eine zentrale Rolle spielt — ist zu einer sinnlosen Massenvernichtungswaffe geworden. Es behauptet seinen hohen Status in einer betäubten Öffentlichkeit durch spektakuläre Aktionen: Pager explodieren in den Taschen von Männern auf einem libanesischen Markt, oder eine Drohnenbasis wird im Herzen eines feindlichen Staates errichtet. Und unter dem Kommando einer völkermordenden Regierung verstrickt es sich immer tiefer in Kriege, aus denen es keinen Ausweg sieht.
Unter dem Bann dieser vermeintlich allmächtigen Armee hat sich die israelische Gesellschaft so viele Jahre lang selbst davon überzeugt, dass sie unverwundbar sei.
Die totale Verehrung des Militärs auf der einen Seite und die arrogante Verachtung der Nachbarn in der Region auf der anderen Seite haben den Glauben genährt, dass wir niemals einen Preis zahlen müssten. Dann kam der 7. Oktober 2023 und zerstörte — wenn auch nur für einen Moment — die Illusion der Unantastbarkeit. Aber anstatt sich mit der Bedeutung dieses Moments auseinanderzusetzen, gab sich die Öffentlichkeit einer Rachekampagne hin. Denn nur durch Gemetzel ergab die Welt wieder einen Sinn: Israel tötet, Palästinenser sterben. Die Ordnung war wiederhergestellt.
Deshalb waren die Bilder der bombardierten Gebäude in Ramat Gan, Rishon LeZion, Bat Yam, Tel Aviv und Tamra, einer arabischen Stadt in Galiläa, so erschütternd. Sie ähnelten auf erschreckende Weise denen, die wir aus Gaza gewohnt sind: verkohlte Betonskelette, Staubwolken, mit Trümmern und Asche bedeckte Straßen, Kinderspielzeug, das von Rettungskräften aufgesammelt wurde. Diese Bilder haben unsere kollektive Illusion, wir seien gegen alles immun, kurzzeitig zerstört. Die zivilen Opfer auf beiden Seiten — 13 Israelis und mindestens 128 Iraner — verdeutlichen die menschlichen Kosten dieser neuen Front, auch wenn das Ausmaß bei Weitem nicht an die Verwüstungen heranreicht, die Gaza regelmäßig erleidet.
Die Armee als Doktrin
Es gab eine Zeit, in der einige jüdische Führer in Israel verstanden, dass unsere Existenz in dieser Region nicht durch die Illusion völliger Immunität aufrechterhalten werden konnte. Sie waren vielleicht nicht frei von einem Gefühl der Überlegenheit, aber sie begriffen diese grundlegende Wahrheit.
Der verstorbene linke Politiker Yossi Sarid erinnerte sich einmal daran, wie Yitzhak Rabin zu ihm sagte: „Ein Volk, das fünfzig Jahre lang seine Muskeln spielen lässt, wird irgendwann müde.“
Rabin verstand, dass ein Leben auf ewig mit dem Schwert, entgegen Netanjahus horrorverzierter Versprechung, keine gangbare Option ist.
Heute gibt es in Israel keine jüdischen Politiker dieser Art mehr. Wenn die zionistische Linke einen rücksichtslosen Angriff auf den Iran bejubelt, offenbart sie damit ihre hartnäckige Verbundenheit mit der Fantasievorstellung, dass die Armee uns immer beschützen wird, egal was wir tun oder wie sehr wir uns von der Region, in der wir leben, entfremden.
„Ein starkes Volk, eine entschlossene Armee und eine widerstandsfähige Heimatfront. So haben wir immer gewonnen, und so werden wir auch heute gewinnen“, schrieb Yair Golan, Vorsitzender der Demokratischen Partei — einer Fusion der zionistischen Linksparteien Meretz und Arbeitspartei — in einem Beitrag auf X nach dem Angriff am Freitag. Seine Parteikollegin, MK Naama Lazimi, schloss sich an und dankte „den fortschrittlichen Nachrichtensystemen und der Überlegenheit der Geheimdienste. Der IDF und allen Sicherheitssystemen. Den heldenhaften Piloten und der Luftwaffe. Israels Verteidigungssystemen.“
In diesem Sinne ist die Fantasie von der Immunität, die durch die Armee gewährt wird, in der zionistischen Linken noch tiefer verwurzelt als in der Rechten. Die Antwort der Rechten auf ihre Sicherheitsängste lautet Vernichtung und ethnische Säuberung — das ist ihr Endziel. Die Mitte-Links-Parteien hingegen setzen ihr Vertrauen fast ausschließlich in die vermeintlich unbegrenzten Fähigkeiten der Armee. Ohne Frage verehrt die jüdische Mitte-Links-Bewegung in Israel das Militär weitaus leidenschaftlicher als die Rechte, die es lediglich als Werkzeug zur Umsetzung ihrer Vision von Vernichtung und ethnischer Säuberung betrachtet.
Wir Israelis müssen verstehen, dass wir nicht immun sind. Ein Volk, dessen gesamte Existenz allein von militärischer Macht abhängt, ist dazu verdammt, in den dunkelsten Ecken der Zerstörung zu enden und letztlich besiegt zu werden. Wenn wir diese grundlegende Lektion aus den vergangenen zwei Jahren nicht gelernt haben, geschweige denn aus den letzten achtzig Jahren, dann sind wir wirklich verloren. Nicht wegen des iranischen Atomprogramms oder des palästinensischen Widerstands, sondern wegen der blinden, arroganten Hybris, die eine ganze Nation erfasst hat.
Orly Noy ist Redakteurin beim israelischen Onlinemagazin Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von persischer Lyrik und Prosa. Sie ist Vorsitzende des Vorstands der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem und Aktivistin der politischen Partei Balad. In ihren Texten beschäftigt sie sich mit den Schnittpunkten und Definitionen ihrer Identität als Mizrachim, linke Frau, Frau, temporäre Migrantin inmitten einer permanenten Einwanderungsgesellschaft und dem ständigen Dialog zwischen diesen Identitäten.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Israel’s greatest threat isn’t Iran or Hamas, but its own hubris“ auf +972Magazine. Er wurde von Elisa Gratias übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert. Eine längere Version des Artikels wurde zuvor auf Hebräisch auf Local Call veröffentlicht.