Die größte Herausforderung
Die Begegnung mit Narzissten kann zerstören oder helfen, in ein neues Bewusstsein zu finden.
Narzissten sind unangenehme Zeitgenossen. Sie kennen keine Empathie, sie haben immer recht, sie stellen sich niemals selbst infrage und geben immer anderen die Schuld für ihre Probleme. Von einem narzisstischen Elternteil geprägt worden zu sein, hinterlässt tiefe Spuren. Um uns zu schützen, können wir zu Stein werden. Oder wir können versuchen, die Prägungen und Verletzungen noch einmal anzuschauen. Dahinter gibt es eine Kraft, die helfen kann, uns von den Menschen zu befreien, die uns im privaten und im öffentlichen Alltag das Leben schwer machen.
Kriegsgefahr, Paradigmenwechsel, eine grundlegende Veränderung des Lebens, wie es bisher war, sind Herausforderungen, denen wir alle ausgesetzt sind. Das Zeitalter des auf die Spitze getriebenen Dualismus und der Projektion der eigenen Unzulänglichkeiten auf andere geht mit der Aufforderung zu Ende, von den äußeren Feindbildern abzulassen, um endlich Frieden zu schaffen. Der Schweizer Philosoph Jean Gebser nannte es den Übergang vom mentalen ins integrale Bewusstsein (1).
Wir treten aus der Schnipselwelt heraus, deren Erschaffung um 1500 mit der Überbewertung von Rationalität und Logik begonnen hat, und finden in ein neues Gleichgewicht, in dem wir die bisherige Entwicklung integriert haben und die kindliche Ichhaftigkeit überwunden. Die Welt dreht sich nicht mehr um den eigenen Bauchnabel, sondern wird als Reflektion des Niveaus der eigenen inneren Reife verstanden.
Wir nabeln uns bildlich gesprochen ab von der alten, zerstörerischen Matrix und verbinden uns mit einer leuchtenden und Leben spendenden Matrix, in der wir uns als Schöpferwesen wahrnehmen und offenbaren. In diesem Bewusstsein ist die vielzitierte Apokalypse kein Weltuntergang, sondern der Untergang der eigenen Illusionen. Wir treten hinter dem Vorhang hervor und zeigen uns, wie wir wirklich sind.
Schmerzhafte Kur
Dabei behilflich können uns gerade die Zeitgenossen sein, die uns das Leben besonders schwer machen. In der Psychologie ist heute viel von Trauma und Narzissmus die Rede. Hier werden die ganz tiefen Abgründe berührt. Narzissten sind Menschen, die zumeist in ihrer Kindheit so stark traumatisiert worden sind, dass sie eine innere Zerrissenheit erfahren haben, die zu einem unstillbaren Mangelgefühl geführt hat. Die in ihnen entstandene Leere versuchen sie, durch die Energie anderer Menschen zu füllen (2).
Vampiren gleich gehen sie durchs Leben und projizieren ihren Mangel auf andere.
Narzissten sind nicht einfach Menschen, die sich hervortun und egoistisch verhalten. Sie sind unfähig, sich selbst zu reflektieren. Denn da ist nichts.
In welcher Form diese Persönlichkeitsstörung auch auftritt, ob exhibitionistisch, grandios oder vulnerabel — es ist der andere, der bearbeitet wird. Er ist schuld. Er ist böse, missraten, undankbar, falsch. Er ist es, der sich irrt.
Ein Narzisst ist unfähig, sein eigenes Verhalten infrage zu stellen oder sich zu entschuldigen, wenn er einen Fehler gemacht hat. Narzissten machen keine Fehler. Sie haben immer recht. Alles dient dazu, sich selbst in möglichst gutem Licht darzustellen. Hierfür drehen Narzissten einem das Wort im Munde um und behaupten, sie selber hätten so etwas nie gesagt. Sie wüssten es ganz genau.
Ihre Spezialität ist es, für Verwirrung zu sorgen. Sie sind Meister im Erfinden von Vorwürfen und Unterstellungen. Um sich selbst zu erhöhen, erniedrigen sie ihre Opfer und tragen ihnen alles nach, was diese jemals in ihrem Leben gesagt oder getan haben. Die Tafel der Schuld wird niemals getilgt. Narzissten sind gnadenlos. Denn sie können sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und kennen keine Empathie. Ihr Herz ist hart und verschlossen.
In der Falle
Wer es mit einem Narzissten zu tun hat, merkt oft erst nach Jahren, welches Spiel mit ihm gespielt wird. Kinder, deren Mutter oder Vater eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatten, haben oft ein Leben lang damit zu tun, sich aus den Manipulationen, Erniedrigungen und Schuldzuweisungen zu befreien. Da Narzissten gar kein Bewusstsein für das Problem haben, gelten sie gemeinhin als unheilbar. Da sowieso immer die anderen schuld sind, kommen sie überhaupt nicht auf die Idee, nach Hilfe zu suchen oder sich in eine therapeutische Behandlung zu begeben.
Bei Narzissten stoßen wir auf Granit. Um sich zu schützen, bleibt den Betroffenen nur, auf Abstand zu gehen oder den Kontakt abzubrechen. Um die Begegnung mit solchen Menschen zu ertragen, verwandelt sich mancher selbst in Stein und wird hart und undurchdringlich — und damit ein Stück so wie der Narzisst.
Wir verdrehen uns und verhalten uns nicht so, wie wir uns eigentlich gerne verhalten würden. Damit steigert sich oft noch der Abscheu vor sich selbst, unter dem Opfer von Narzissten leiden.
So wünscht sich mancher, nicht geboren worden zu sein. Denn einen Ausweg aus dieser Falle scheint es nicht zu geben. Es bleibt uns nicht einmal, um Gnade zu flehen. Je kleiner wir uns machen, desto mehr genießt es der Narzisst. Den anderen am Boden zu sehen, ist sein Lebenselixier. Es bleibt uns die Wahl, entweder zu People-Pleasern und Fußmatten zu werden, um zu beweisen, dass wir doch nicht so schlecht sind, wie der Narzisst es sieht, oder zu verhärten und damit ein Stück so zu werden wie der Narzisst.
Das Vorbild befreien
Es soll einmal einen Menschen gegeben haben, der trotz aller Anfeindungen, Unterstellungen und Angriffen nicht zugelassen hat, dass sein Herz sich verhärtete, sondern es im Gegenteil strahlend vor Liebe gemacht hat. Ob er tatsächlich existiert hat, ist letztlich unerheblich. Der Gedanke ist in die Welt gekommen, dass einmal ein Mensch gelebt hat, der sich auf keine Gegnerschaft eingelassen hat, keine Feindschaft, keine Abwehr.
Ihm hängt heute das Stigma des Softis an, der sich nicht getraut hat, anderen die Stirn zu bieten. Er war so blöd, die andere Wange hinzuhalten und sich ans Kreuz nageln zu lassen, obwohl er andere Möglichkeiten gehabt hätte. Bis heute hängt er erniedrigt, gefoltert und blutüberströmt herum, ein Mahnmal dafür, was geschieht, wenn man Liebe predigt, aber Hass erntet.
Ihm sind im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. Holt man ihn vom Kreuz, bleibt seine Liebesbotschaft. Doch auch Liebe, das hat sein Schicksal gezeigt, hat ihre Grenzen. Sagt man einem Narzissten, dass man ihn liebt, wird er es nicht glauben. „Nach allem, was du mir angetan hast.“ Ein Narzisst kann keine Liebe zu sich selbst empfinden. So kann er sie auch nicht von anderen empfangen. Nur eines bleibt uns jetzt noch: unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.
Zur Sonne werden
Die wirkungsvollste Möglichkeit, sich vor einem Narzissten zu schützen, ist die Selbstliebe. Menschen, die sich selbst lieben, sind für einen Narzissten uninteressant. Er kann sie nicht erniedrigen und sich zu Diensten machen. Seine Macht über andere zerrinnt wie Butter in der Sonne, wenn er nicht mehr mit Schuldgefühlen, Minderwertigkeitskomplexen und schlechtem Gewissen gefüttert wird.
Einen Narzissten kann man nicht verändern. Doch wir können uns verändern. Wir können es lernen, Liebe für uns selbst zu entwickeln und sie aus uns heraus strahlen zu lassen.
Das liebende Herz ist wie ein Feuer, in dem alles verbrennt, was nicht Liebe ist. Wer Liebe ausstrahlt, wird gewissermaßen zu einer Sonne, die es nicht kümmert, ob jemand versucht, sie abzudunkeln. Es ist ihr gleichgültig, ob sie erniedrigt wird, gedemütigt, beschuldigt oder verletzt. Sie strahlt ganz einfach.
Strahlen: Das ist es, was im Umgang mit Narzissten hilft. Nicht auf den nächsten Schlag warten. Egal, woher die nächste Kriegserklärung kommt — aus der Familie, vom Partner, vom Kollegen, aus der Woke-Bewegung oder aus der Politik: zur Sonne werden. Sonnen, die strahlen, so hell und klar sie können, und die lieben, so viel es geht. Sonnen, die ihr Licht von keinem dunklen Schlund verschlingen lassen, Sonnen, die so stark strahlen, dass die eigenen Verletzungen geheilt werden und mit ihnen die Verletzungen auch von denen, die sie ihnen zugefügt haben.