Die kleine Retterin

Wo eine Katze ist, ist keine Angst — das erfährt eine Gruppe von Geflüchteten in dieser Adventsgeschichte.

Wir nähern uns der längsten Nacht des Jahres. Die Sehnsucht hat uns nicht verlassen, dass genau dann, wenn die Nacht am dunkelsten ist, ein Licht geboren wird. Im Augenblick des größten Durcheinanders, der stärksten Reibung, entsteht ein Lebensfunke, der etwas vollkommen Neues hervorbringt. Das ist die Botschaft des Advents. Um dieses Neue zu empfangen, müssen wir die alten Wege verlassen. Wir müssen es wagen, den ersten Schritt ins Leere zu setzen, um zu spüren, dass die Brücke hält. Den Helden, die es hierfür braucht, werden Geschichten mit auf den Weg gegeben, die ihnen nicht nur Mut machen, sondern auch Inspiration schenken, um die Pausen zu genießen. Die Rubikon-Leserin Marianne Vogt und ihr Team bieten auch in diesem Jahr wieder Geschichten an, die über ihren Audiokalender gehört werden können. Jeden Tag öffnet sich ein Türchen und lässt ein Mosaik aus Herzenswünschen entstehen in einer dunklen Zeit, die insgeheim so viel Licht in sich birgt.

von Marianne Vogt

„Na ihr Süßen.“ Sonja steuert mit einem strahlenden Lächeln auf den Eingang ihres Arbeitsortes zu — eine von außen etwas schäbig wirkende, von innen aber mit viel Herzblut hergerichtete Unterkunft für geflüchtete Menschen in Berlin. Auf der morschen Holzbank seitlich der Treppe haben es sich Mika und Esma gemütlich gemacht, dick eingemummelt, mit zwei Decken fest umschlugen. Dieses ungleiche Duo rührt Sonja immer wieder tief im Herzen an.

Esma, die 17-jährige Enthusiastin aus Syrien, die sich unermüdlich für alle Frauen in der Unterkunft, alle ihre Schwestern wie sie selbst sagt, einsetzt und Mika, das kleine 5-jährige, verträumte Mädchen aus Eritrea, in deren Spiel sich alle gerne mit einem Schmunzeln einbinden lassen. Esma lächelt und prostet Sonja mit ihrer Kaffeetasse in der Hand zu, während sie mit der anderen der 5-Jährigen weiter den Kopf krault. Sie übernimmt gerne die große Schwesternrolle. Mika schlürft einen dampfenden Kakao und freut sich ebenfalls, die Sozialarbeiterin nach ein paar Tagen, in denen sie im Urlaub war, wiederzusehen.

„كل عام وأنت بخير“ bringt Sonja etwas holprig heraus, als sie sich schwungvoll vor die beiden postiert. Esma schmunzelt und Mika kichert, während die Sozialarbeiterin mit zusammengekniffenen Augen auf ihr Urteil wartet. „Ja dir auch ein frohes neues Jahr“, antwortet Esma schließlich. „Das war doch schon ganz gut, dein Arabisch wird immer besser.“ „Ja, ich habe dich gut verstanden“, pflichtet ihr Mika bei. Sonja grinst zufrieden. „Wo ist denn Soli“, will sie dann von dem kleinen Mädchen wissen. Soli ist das Kätzchen, das Mika vor einer Weile zugelaufen ist und seitdem nicht mehr von ihrer Seite weicht. Es hatte einige Überzeugungskünste der Sozialarbeiterin gebraucht, um das Einverständnis der Hausleitung für ein Haustier in der Unterkunft einzuholen.

Mika lüpft ihre Decke ein bisschen und Soli, die zusammengekringelt auf ihrem Schoß liegt, kommt zum Vorschein. Sonja lächelt, beugt sich zu den beiden hin und streichelt sie behutsam. „Du“, beginnt das kleine Mädchen ihr ins Ohr zu flüstern, „können wir heute mal alleine reden, ich habe schon sooooo lange auf dich gewartet.“

Obwohl Mika schnell die Herzen der Menschen um sie herum für sich gewinnt, fällt es ihr selbst oft schwer, Vertrauen zu fassen. Sonja mochte sie allerdings schon von Anfang an so sehr, dass sie gleich bei der ersten Begegnung auf ihren Schoß kletterte und sich von ihr durch ihr krauses Haar streichen ließ. „Klar“, antwortet Sonja, die sich für die 5-Jährige auch irgendwie besonders verantwortlich fühlt, „ich habe heute viel im Büro zu tun, komm’ mich doch dort einfach besuchen.“ Mika nickt zufrieden und Sonja verabschiedet sich von dem Trio, um diesmal möglichst pünktlich ihre Schicht zu beginnen.

Einige Stunden später am Tag schiebt sich Mika, gefolgt von Soli, vorsichtig durch die Tür des schmalen Büros in der ersten Etage und schließt diese leise hinter sich. Sonja hängt am Telefon, zwinkert den beiden zu und kritzelt dann weiter auf einem kleinen Zettel herum, während sich ihre Miene wieder verzieht und sie etwas genervt wirkt. Mika nimmt indes auf der gelben Couch Platz, die seitlich zum Schreibtisch steht. Allein schon wegen der Gute-Laune-Farbe sitzt sie hier gerne. Soli stolziert auf dem Sofakragen hin und her und scheint ebenso entzückt von der auffälligen Sitzgelegenheit.

Nach ein paar Minuten nimmt Sonja den Hörer mit einem Seufzen vom Ohr und atmet einmal tief durch. Mit Blick auf die beiden kleinen Damen, die inzwischen zusammengekuschelt auf der Couch lümmeln, kehrt ein Lächeln auf ihre Lippen zurück und sie gesellt sich zu ihnen. Mika schmiegt sich an sie und so verweilen sie eine kleine Weile still. Dann rückt Mika gespielt beiläufig mit ihrem Anliegen raus, während sie Soli unterm Kinn krault.

„Duuu, Sonja, weißt du, Soli ist manchmal ein bisschen ängstlich. Das merk’ ich. Und ich glaube, dass sie sich manchmal hier zwischen uns ein bisschen einsam fühlt, weil sie ja eine Katze ist und kein Mensch.“ Die 5-Jährige hält kurz die Luft an. Sonja ist gerührt von der Fürsorge der kleinen Katzenbesitzerin und ahnt, dass Mika für dieses Problem auch schon eine Lösung parat hat. Sie wartet still darauf, dass Mika fortsetzt. „Soli braucht unbedingt eine Schwester“, platzt es da aus dem kleinen Mädchen heraus. Erwartungsvoll schaut sie die Sozialarbeiterin mit großen Augen an. Sonjas Gesichtszüge frieren augenblicklich ein.

Gerade erst hatte sie wieder eines der zähen Gespräche mit der Hausleitung. Für noch so einen Kampf um eine Katze hatte sie jetzt wirklich nicht die Nerven. „Mika, Schätzchen“, versucht sie es möglichst sanft, „vielleicht besorgen wir für Soli ein bisschen mehr Spielzeug. Darüber freut sie sich sicher auch. Eine zweite Katze kommt aber im Moment nicht in Frage. Tut mir leid.“

Um dem enttäuschten Blick des kleinen Mädchens auszuweichen, erhebt sich Sonja von der Couch und verschanzt sich hinter dem Schreibtisch. „Aber du verstehst das nicht“, wendet sich Mika nun etwas verzweifelt an sie, „Soli braucht kein Spielzeug, sie braucht eine Schwester.“ „Mika, es tut mir leid, ich muss jetzt hier aber wirklich weitermachen. Wir können morgen nochmal zusammen drüber nachdenken, wie wir Soli eine Freude machen können, ok?“ Damit wendet sie sich wieder den Unterlagen vor sich zu und Mika schleicht mit hängenden Schultern, die kleine Soli im Arm, aus dem Zimmer.

(Klopfen) „Jaaaa“, antwortet eine Mädchenstimme. Sonja öffnet die Tür und tritt in die kleine, schlichte Wohneinheit von Mika und ihrer Mama. Die 5-Jährige sitzt auf ihrem Bett an der Wand und kämmt einem kleinen Barbie-Pferd großzügig die Mähne. Als sie die Sozialarbeiterin sieht, hält sie inne. „Hey, Mika“, beginnt diese zögerlich, „kann ich mich zu dir setzen?“ Mika wendet sich zunächst wieder ungerührt ihrer Tätigkeit zu, bevor sie einlenkend verlauten lässt: „Meinetwegen.“ Sonja setzt sich neben sie und beobachtet, wie sie nun mit ihren kleinen Händen versucht, das immer noch recht zottelige Kunsthaar zu einem Zopf zu flechten.

„Ich möchte gerne nochmal mit dir über unser Gespräch vorhin reden“, durchbricht sie die schwere Stille. „Bekommt Soli jetzt doch eine Schwester?“, schöpft Mika Hoffnung. „Ehrlich gesagt nein.“ Sonja windet sich innerlich, es fällt ihr schwer, die Kleine zu enttäuschen. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so abweisend zu dir war. Wie kommst du denn eigentlich darauf, dass Soli Angst hat und sich unter Menschen einsam fühlt?“ Mika unterbricht ihr Spiel und ihre Miene wird verlegener. Sie ringt sichtbar einen kurzen Moment mit sich. „Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen“, will sie sich dann zunächst bei Sonja versichern. „Ja, sicher“, antwortet diese. „Also, naja, eigentlich hat Soli gar keine Angst, also vielleicht schon manchmal. Aber wirklich Angst hat Esma. Deswegen kann sie so schlecht schlafen.“

Die Augen der Sozialarbeiterin werden ganz feucht neben der kleinen Retterin, die sie jetzt etwas verunsichert anblickt. Nachdem sich Sonja wieder gefasst hat, fragt sie neugierig, was denn Esmas Angst mit ihrem Wunsch nach einer weiteren Katze zu tun hat.

„Es ist so“, erklärt es ihr Mika, „wenn Soli neben mir im Bett liegt, dann kann ich ganz gut einschlafen, weil ich keine Angst zu haben brauche, sie ist ja ganz nah bei mir. Und wenn Esma auch mit einer Katze einschlafen könnte, dann würde sie nicht mehr so schlecht träumen und bräuchte keine Angst mehr zu haben.“

Jetzt laufen Sonja vor Rührung die Tränen über die Wangen. Sie zieht die 5-Jährige dicht an sich heran und legt den Arm um sie. Mika hat aber noch weitergedacht. „Weißt du, wann bei uns in Eritrea Weihnachten gefeiert wird?“, fragt sie Sonja, während sie sich eine ihrer Haarsträhnen um den Finger wickelt. „Hm, wenn du so fragst, wahrscheinlich nicht am 24. Dezember so wie wir, aber ich weiß es leider nicht“, muss die Sozialarbeiterin zugeben. „Am 7. Januar“, schließt das kleine Mädchen ihre Wissenslücke. „Und zu unserem Weihnachten möchte ich gerne Esma eine Katze schenken, weißt du, weil ich sie so liebhabe und sie auch immer auf mich aufpasst und sie keine Angst mehr haben soll.“

Sonja, die jetzt in den Plan des kleinen Mädchens eingeweiht ist, stellt sich nun vor, wie Mika ihrer gefühlt großen Schwester ein kleines Kätzchen mit Schleife um den Hals überreicht und diese es zwar sehr gerührt entgegennimmt, sich jedoch gleichzeitig fragt, wie sie sich in ihrem vollen Alltag um ein Tier kümmern soll. „Und kannst du dir vorstellen, Esma auch etwas anderes zu schenken, wenn es ihr dabei hilft, besser zu schlafen und weniger Angst zu haben“, fragt Sonja vorsichtig. „Hmm, ja vielleicht“, antwortet Mika versonnen, „aber was könnte das denn dann sein?“ „Lass“ uns mal nachdenken“, ermuntert Sonja, „uns fällt zusammen bestimmt etwas ein.“

Einige Tage später, es ist der 7. Januar. Mika und Soli sitzen etwas hibbelig auf dem gelben Sofa im Büro. Neben ihnen ein kleines Paket, eingeschlagen in Regenbogen-Geschenkpapier, mit einer großen roten Schleife drumherum. Sonja nimmt den Telefonhörer vom Ohr, hält die Sprechmuschel zu und flüstert: „Sie kommt.“ Dabei ist das Telefongespräch schon beendet. Jetzt kann sich die 5-Jährige nicht mehr halten und springt auf, um sich tänzelnd im Raum zu bewegen. „Gleich ist es soweit, gleich ist es soweit“, trällert sie vor sich hin.

Da klopft es auch schon an die Tür. Sonja und Mika antworten im Chor: „Jaaaa.“ Esma tritt herein, ist etwas verdattert, als ihr Blick von der hibbeligen Mika zu Sonja und zurückwandert, schließlich nimmt sie auch das farbig leuchtende Geschenk auf dem Sofa wahr. „Heute ist aber nicht mein Geburtstag, Leute“, kommentiert sie das Szenario. „Nein, aber unser Weihnachten“, entgegnet ihr Mika entschlossen. Beherzt greift sie sich das Paket und überreicht es der 17-Jährigen feierlich. „Hier, das ist für dich, weil du die allerbeste Esma bist.“

Etwas errötet nimmt es die Ältere entgegen und bedankt sich. Mika kann es gar nicht erwarten, bis sie es ausgepackt hat. „Mach’ es gleich auf“, fordert sie von Esma. Esma kommt der Anweisung nach und nachdem sie sich durch das Geschenkpapier gekämpft hat, hält sie etwas fragend einen kleinen MP3-Player samt Kopfhörern in den Händen. „Wir haben dir Katzengeschichten aufgenommen“, versucht Mika sie aufzuklären, „damit du sie zum Einschlafen hören kannst und keine Angst mehr hast. Soli hat auch mitgemacht.“ Sie zeigt auf das kleine, von der Aufregung ungerührte Kätzchen, das auf der Sofalehne ein Nickerchen hält.

Weitere Erklärungen braucht Esma nicht, sie versteht sofort und ist zu Tränen gerührt. „Danke mein Schatz“, flüstert sie ihrer kleinen Schwester ins Ohr, während sie sie fest an sich drückt, „Danke.“ Sonja, die ebenso ergriffen ist, gesellt sich dazu, legt ihren rechten Arm der Älteren um die Schulter und ihren Linken der Jüngeren und verkündet mit Blick auf das schlummernde Kätzchen bedeutungsvoll: „Ein Hoch auf unsere Soli, auf dass sie unser Haus weiterhin beschützt. Denn da, wo eine Katze ist, ist keine Angst.“


Redaktionelle Anmerkung: Dies ist ein Gedicht aus dem Audiokalender von Mittengold & friends.