Die kleine Welt der Amazone
Eine Ameisenart praktiziert eine Methode der Sklavenhaltung mittels „Propaganda“, die an menschliche Gesellschaften erinnert.
Wer sich mit den Entwicklungen menschlicher Organisationsstrukturen auseinandersetzt, kommt mit verschiedenen Bereichen der Gesellschaftswissenschaften, Systemtheorien, Science-Fiction-Literatur und früher oder später mit staatenbildenden Insekten in Berührung. Das Sozialverhalten dieser Tiere erreicht zwar nicht im Ansatz die Komplexität menschlicher Gesellschaften, bei einigen Arten finden sich aber erstaunliche Parallelen zum Zivilisationsprozess. Die Art Polyergus rufescens zum Beispiel, die unter dem Namen Amazonenameise besser bekannt ist, hat den Einsatz von Propaganda perfektioniert und ihre ganze Existenz auf Sklavenhaltung begründet.
Die Instinkte für Nestbau, Brutpflege und Nahrungsbeschaffung sind bei der Amazonenameise völlig verkümmert (1). Die Männchen taugen nur zur Fortpflanzung. Die Königinnen und Arbeiterinnen sind voll und ganz auf Kriegsführung und Raub spezialisiert. Ihre Mundwerkzeuge sind zu fürchterlichen Waffen ausgeformt, mit denen sie effektiv töten, aber keine Nahrung aufnehmen können. Die Amazone muss gefüttert werden, damit sie nicht verhungert.
Um diese und die Vielzahl anderer Arbeiten zu erledigen, ohne die ein Ameisenstaat nicht existieren kann, beschafft sich die Amazonenameise Sklaven. Deren Anteil an der Gesamtpopulation beträgt bis zu 90 Prozent. Regelmäßig werden Nester bestimmter Ameisenarten, sogenannte Sklavenameisen, überfallen. Sie sind der Amazone, die mit einer Körperlänge von bis zu 9 Millimetern kein Gigant ist, militärisch deutlich unterlegen.
Die Angegriffenen werden nicht nur mit den mächtigen Beißwerkzeugen in Schach gehalten. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommen bei den Überfällen auch Pheromone zum Einsatz, die normalerweise zur Informationsübertragung zwischen den Individuen innerhalb einer Art dienen. Mit ihnen stiftet die Amazonenameise in den Reihen der Verteidiger Verwirrung und bricht ihren Willen zum Widerstand. Dadurch kann sie praktisch ungehindert die Brut, das wertvollste Gut, das ein Ameisenvolk besitzt, stehlen und in ihr Nest schleppen.
Der geraubte Nachwuchs wird von anderen gefangenen Ameisen aufgezogen. Damit die Häftlinge ihre Identität vergessen und nicht revoltieren, werden sie mit Propagandapheromonen zugedröhnt. Ihnen wird suggeriert, dass sie ein Teil der Gemeinschaft sind und zu den Amazonen gehören. Die lassen sich von ihren gestohlenen Dienern, die arbeiten müssen, bis sie tot umfallen, liebevoll umsorgen.
Um den Nachschub an Sklaven zu sichern, werden Kundschafter ausgeschickt. Die suchen nach Nestern, die ausgeraubt werden können, und legen eine Duftspur zum Ziel. Um sich als Art zu verbreiten, beteiligen sich junge Königinnen an den Raubzügen. Im Idealfall dringt eine von ihnen in den Bau der Sklavenameisen ein. Dort sucht sie nach der Königin, um die lästige Konkurrentin zu ermorden und den Thron zu besteigen. Das gelingt nicht immer.
Die Beziehung zwischen den Sklavenjägern und den Sklavenvölkern findet langsam ein Ende. Die Amazonenameise ist in Mitteleuropa vom Aussterben bedroht. Die fortschreitende Umweltzerstörung und der wachsende Widerstand der Sklavenvölker machen ihr zu schaffen. Die einen verstecken sich und ihren Nachwuchs unter Blättern oder auf Grashalmen, in der Hoffnung, sie werden nicht entdeckt. Andere verbarrikadieren die Eingänge zu ihren Nestern — sofern sie schneller sind als die anrückende Amazonenarmee. Und dann gibt es noch Ameisen, die einen Befreiungskrieg führen. Sie sind gegenüber der Amazone besonders aggressiv, greifen ihre Scouts an und bringen sie um.
So ungefähr stellt sich auch die Lage in der Welt dar. Die Grundlage von Frieden ist Freiheit. Ihr voraus geht die Befreiung von der Unfreiheit. Solange aber Unfreiheit für die Masse der Menschen die Realität darstellt, ist das Wort Frieden nichts weiter als Propaganda.