Die Kunst zu lieben

Liebe hat nichts mit Besitz oder Aufopferung zu tun — sie ist ein tiefgehender, innerer Prozess, der in all seinen Ausprägungen das Schöne im Menschen und in der Welt hervorbringt.

Manche sagen zu schnell „Ich liebe dich“ zu einem anderen Menschen. Anderen kommen diese drei kleinen Worte nicht über die Lippen. Das liegt auch an einer allgemeinen Ungewissheit darüber, was Liebe eigentlich ist. Ein Gefühl? Ein Zustand? Eine Entscheidung? Wie so oft geben die Weltreligionen ebenso Orientierung wie jüngere philosophische Strömungen. Liebe bedeutet weder, alles hinzunehmen, noch anderen alles zu geben, was sie gerne hätten. Sie ist ein Seins- und Geisteszustand, der geprägt ist von einer Reife, die auch unangenehmer Arbeit an sich selbst nicht aus dem Weg geht. Selbstverständlich jedoch ist Liebe nicht gleich Liebe. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind unterscheidet sich von der eines Vaters und natürlich noch stärker von der, die zwei Partner füreinander empfinden. Dann gibt es noch Nächsten-, Feindes- und Selbstliebe. Am Ende aber gehen all diese Formen auf denselben Kern zurück.

Liebe wird im Buddhismus und im Hinduismus als eine bedingungslose und uneigennützige Haltung allen Wesen gegenüber verstanden. Erich Fromm spricht von einer allumfassenden Liebe. Sie ist eine Einstellung, eine Grundhaltung, die sich eben nicht nur auf eine Person bezieht. Alle folgenden Formen beziehungsweise Objekte der Liebe bringen diese Haltung mehr oder weniger zum Ausdruck.

Die folgenden Aussagen können selbstverständlich — wie alles in dieser Welt — nicht verallgemeinert werden, treffen in meinen Augen aber auf sehr viele Verhältnisse und Beziehungen in der beschriebenen oder auf ähnliche Weise zu.

Nächstenliebe

Im Neuen Testament bedeutet „Agape“ die uneigennützige Liebe zu jedem Menschen.

Der bekannte Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ stammt ursprünglich aus dem Alten Testament, aus dem Hebräischen Tanach — die Heilige Schrift des Judentums —, und ist demnach ein jüdisches Gebot, das später von Jesus mehrfach zitiert wurde. Im Neuen Testament findet es sich unter anderem bei Markus 12,31, Matthäus 22,39 und Lukas 10,27. Jesus stellt die Nächstenliebe auf eine Stufe mit dem Gebot, Gott zu lieben.

Jesus geht sogar noch weiter und sagt in der Bergpredigt:

„Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“
(Matthäus 5,44)

Diese radikale Sichtweise verlangt von gläubigen Menschen viel ab. Viele verstehen „Liebe deine Feinde“ fälschlicherweise im Sinne von „Habe warme Gefühle für sie“, „Lass dir alles gefallen“, „Verzeihe sofort“ oder „Tu so, als wäre nichts passiert“.

Das meint Jesus in meinen Augen jedoch nicht.

Feindesliebe heißt nicht, Missbrauch zu tolerieren, Grenzen aufzugeben, sich selbst aufzuopfern oder Unrecht gutzuheißen. Jesus fordert mit der Feindesliebe meines Erachtens keine Gefühle, sondern eine innere Haltung, die auf Vergeltung und auf Entmenschlichung verzichtet, und anerkennt, dass auch der Feind ein Mensch mit Verletzungen und Verblendungen ist. Der Feind ist ebenfalls ein Gefangener seiner Muster, was ihn zwar nicht unschuldig, aber sein Verhalten verständlicher macht. Wenn Jesus uns auffordert, für den Feind zu beten, dann heißt das nicht, seine Taten gutzuheißen, sondern zu wünschen, dass seine Verblendung enden, seine Gewalt neutralisiert und er menschlicher werden möge.

Man stimmt den Taten des Feindes deswegen innerlich nicht zu, aber man lässt sich nicht von Hass beherrschen und schützt damit die eigene Seele vor Zerstörung. Hass schadet vornehmlich dem, der ihn trägt. Dem Feind zu vergeben, bedeutet insofern auch, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Deshalb sollte man nicht an Feindbildern festhalten, die eigene Würde nicht vom Verhalten des Feindes abhängig machen, sich somit emotional befreien und nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.

Diese Haltung haben viele Damen und Herren in Brüssel, Paris, London, Warschau und Berlin verloren. Sie verhalten sich beispielsweise in ihrer Dämonisierung Putins und Russlands unchristlich — und reißen aus eigenem Unvermögen möglicherweise Millionen von Menschen in den Abgrund. Man sollte ihnen Einhalt gebieten und die Scheinheiligen an die Worte Jesu aus der Bergpredigt erinnern. Anstatt die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und beispielsweise die Friedensbemühungen von den USA und Donald Trump zu unterstützen, gießen sie immer wieder neues Öl ins Feuer. Viele europäische „Spitzenpolitiker“ sind eine Gefahr und eine Schande für ihre Nationen.

Auch diese unheilbringenden Leute im oben beschriebenen Sinne zu lieben, wie Jesus es fordert, fällt mir wahrlich schwer. Ich werde es dennoch versuchen, um nicht ihre Logik des Bösen zu übernehmen.

Der Begriff Nächstenliebe kann auch im Sinne helfenden Handelns für andere Menschen gedeutet werden. Im Vordergrund steht uneigennütziges Handeln und weniger die Sympathie für einen Menschen. Nächstenliebe zeigt sich beispielsweise, wenn man einem — auch „wildfremden“ — Menschen, also seinem „Nächsten“, in einer konkreten Notlage hilft.

„Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und ‚Erkenntnis‘, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern.“

„Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen.“
Erich Fromm

Nächstenliebe bezieht sich nicht auf eine konkrete Person, sondern auf alle Menschen, ungeachtet äußerer Umstände wie zum Beispiel deren soziale Schicht und anderes mehr. Nächstenliebe ist einerseits eine fundamentale und gleichzeitig eine sehr hochstehende Form der Liebe, zu der nicht jeder fähig ist. Sein eigenes Kind zu lieben ist nicht schwer; aber andere zu lieben, die für uns keinen konkreten „Nutzen“ bringen, stellt eine Fähigkeit, eine Kunst dar.

Auch seinen „Feinden“ zu helfen — wie es beispielsweise Abraham Lincoln gegenüber seinen Wahlkampfgegnern nach gewonnener Wahl tat — ist wohl eine Fähigkeit, die nur sehr hoch entwickelte Menschen ihr Eigen nennen können.

Fromm meint mit Nächstenliebe eine universale, nicht-exklusive Liebe, eine Haltung des Wohlwollens gegenüber jedem Menschen, und sieht sie als Grundlage für jede reife Beziehung und als Fundament für alle anderen Formen der Liebe.

Alle Formen der Liebe oder auch der Freundschaft können nicht reifen, wenn sie nicht in einer universellen Menschenliebe verwurzelt sind. Wenn Liebe selektiv und exklusiv auf bestimmte Subjekte oder Objekte gerichtet bleibt, wenn keine menschenfreundliche Grundhaltung vorhanden ist, kann keine reife Liebe entstehen.

Mutterliebe

Eine Mutter liebt ihr Kind, weil es einfach da ist. Diese Liebe ist oftmals bedingungslos, das heißt, sie liebt ihr Kind ohne Wenn und Aber. Das Kind wird geliebt und fühlt sich von der Mutter geliebt, weil es existiert. Eine Mutter bejaht bedingungslos das Leben und die Bedürfnisse ihres Kindes. Es ist eine Liebe zu Hilflosen.

Echte Mutterliebe zeigt sich eben auch darin, dass eine Mutter durch die Liebe zu ihrem Kind auch alle anderen Kinder liebt, ihr eben eine Liebe zu diesen hilflosen Geschöpfen innewohnt, die der Unterstützung der Mutter bedürfen, um zu überleben, um das wunderbare Gefühl zu haben: „Es ist gut, dass ich geboren wurde“, und: „Das Leben ist schön“.

John Bowlby, der Vater der Bindungstheorie, beschreibt Mutterliebe als eine biologisch verankerte Bindung, die eine fundamentale Voraussetzung für die seelische Gesundheit des Kindes schafft. Die Mutter ist eine „verlässlich präsente“ Bezugsperson, die Urvertrauen, emotionale Stabilität und die Fähigkeit des Kindes zu späterer Intimität erzeugt.

Viktor Frankl ist der Ansicht, dass Mutterliebe eine „wertverwirklichende Liebe“ sei, die dem Leben des Kindes Sinn gibt, aber auch der Mutter selbst Sinn schenkt; dass Mutterliebe nicht an Bedingungen geknüpft ist und auch bei starkem Leid bestehen bleiben kann.

Für Rainer-Maria Rilke ist mütterliche Liebe ein Akt tiefer, stiller Hingabe, die „trägt“, ohne zu fordern. Leo Tolstoi betont die unerschütterliche, moralische Kraft der Mutter, für Albert Camus steht sie für die menschliche Grundform von Güte — oft im Kontrast zur absurden Welt —, und Hermann Hesse meint, Mutterliebe gibt Identität „von innen“ und wird so zu einer spirituellen Wurzel des Menschen.

Schwierigkeiten haben manche Mütter, wenn es um den notwendigen Abnabelungsprozess ihrer Kinder geht. Anstatt das Kind dabei zu unterstützen, sich freizuschwimmen, versuchen einige Mütter, es noch stärker an sich zu binden. Sie lassen ihre Kinder nicht los und verhindern bewusst oder unbewusst die Entwicklung ihres Sprösslings zu einem erwachsenen Menschen.

Ihnen fällt es schwer, ihr Kind, das sie ein Leben lang umsorgt und verwöhnt haben, ziehen zu lassen. Da kommt Angst und Verzweiflung auf, und die eine oder andere Mutter fühlt sich zu nichts oder zu wenig mehr nutze. Was machen mit dem Restleben? „Ach, da halte ich doch das Kind noch so lange wie möglich im Haus, und wenn es sich wirklich eine eigene Wohnung nimmt und vielleicht mit einem Partner — Gott bewahre — zusammenzieht, dann komme ich dreimal pro Woche zum Aufräumen und Putzen und bringe ihm sein Lieblingsessen mit. Und zwei-, dreimal pro Woche kann er ja auch nach Hause kommen und bei Bedarf auch in seinem Zimmerchen schlafen, mein erst 30-jähriger Bub! Was soll nur werden aus ihm?“ Ja, was soll nur werden aus ihm?! Da wird doch oft die Sorge um das Kind vorgeschoben, das ja angeblich ohne Mama kaum existieren kann. Meistens wird jedoch nur die eigene Trennungsangst und der damit verbundene Trennungsschmerz durch oben beschriebene Verhaltensweise kaschiert.

Ich will diese Verhaltensweise einiger Mütter auch gar nicht heruntermachen oder verspotten, zumal manche Mütter vor lauter Kummer und Schmerz und nachlassendem Selbstwertgefühl ernsthaft erkranken.

Viele Partner, insbesondere Frauen, beklagen sich meist zu Recht über „Muttersöhnchen“, da sie die Ängste der „Schwiegermütter“ — zum Beispiel, nicht mehr gebraucht zu werden — und deren teilweise vorhandenen Egoismus oftmals ausbaden dürfen.

Reife Menschen unterstützen das Kind bei seinem Bedürfnis, auf eigenen Beinen zu stehen. Also, liebe Mütter, wenn ihr eure Kinder wirklich liebt, solltet ihr sie loslassen, oder noch besser, den Abnabelungsprozess der Kinder fördern. „Was man liebt, soll man nicht halten“ hat schon Napoleon gewusst.

Vaterliebe

Im Buddhismus wird der Vater oft als Symbol für weise Führung, Belehrung und moralische Leitung gesehen. Nach John Bowlby ist der Vater oftmals die Brücke zur Außenwelt und spielt eine Schlüsselrolle bei dem Erkundungsverhalten, der Risikobereitschaft und der Problemlösefähigkeit des Kindes.

Vaterliebe läuft anders ab als Mutterliebe, da sie an Bedingungen geknüpft ist. Das trifft natürlich nicht auf alle Väter zu, aber auf viele. Da das Kind um diese Bedingungen weiß, versucht es sich richtig im Sinne des Vaters zu verhalten, um so seine Anerkennung zu ergattern und sich geliebt zu fühlen. Vaterliebe ist demnach nicht selbstverständlich, sondern bedingt. Vaterliebe vermittelt Normen, Werte, Orientierung und fordert das Kind auf, verantwortungsbewusst zu handeln sowie moralisch zu reifen. Vaterliebe vermittelt dem Kind Wissen, um die Welt zu verstehen. Gute Väter sind gerecht, fördernd, aber auch fordernd, und ermutigen ihr Kind, sich zu entwickeln. Sie helfen dem Kind auf dem Weg von ihrer Abhängigkeit durch Verantwortungsübernahme in die Freiheit. Sie wollen, dass etwas aus ihren Kindern „wird“.

Viele Väter bauen eine starke Erwartungshaltung bei ihren Kindern auf und hoffen, ihre Kinder mögen in ihre Fußstapfen treten. Kein Kind kann in die Fußstapfen seines Vaters treten, weil es keine zwei Personen auf der Welt gibt, die gleich gestrickt sind. Das Kind kann aber sehr wohl größere Spuren hinterlassen als sein Vater. Wie auch immer: Fehlt die Anerkennung durch den Vater, fühlt sich das Kind meist auch nicht geliebt von ihm.

Der Vater sollte auch Vorbild für das Kind sein und ihm eine „Richtung“ für sein Leben zeigen, damit es Verantwortung für sein Leben übernehmen kann. Gerade für Jungen ist das Vorbild des Vaters von herausragender Bedeutung. Ein Vater, der in der Familie Verantwortung übernommen und wichtige Entscheidungen getroffen hat — oder zumindest daran beteiligt war —, hat einen großen Einfluss auf die späteren Verhaltensweisen seines Sohnes.

Väter sehen viele Sachverhalte oftmals lockerer als Frauen und gehen sie auch mutiger an, sind nicht immer so „überbesorgt“. War der Vater jedoch körperlich nicht anwesend oder emotional nicht erreichbar, und gab es auch keine anderen nennenswerten männlichen Vorbilder, fällt es später einem Jungen meist schwer, sich wie ein erwachsener Mann zu verhalten, weil ihm einfach die Muster hierfür fehlen. Die Bindung zur Mutter wird dann sehr stark, was oftmals mit einer größeren Unselbständigkeit des Nachkommen einhergeht. Und das Ergebnis sind dann oftmals die im Abschnitt „Mutterliebe“ beschriebenen Muttersöhnchen.

Während die Mutter fürsorglich über das Kind wacht — und dies gelegentlich auch übertreibt —, ist es die Aufgabe des Vaters, es an die Hand zu nehmen und in die Welt der Erwachsenen zu überführen, damit es imstande ist, eigenständig zu leben. Mutterliebe schenkt Geborgenheit, Vaterliebe Orientierung.

„Schau mal, Papa, was ich kann!“ Das Kind fischt mit solchen Aussagen nach Anerkennung, nach Liebe. In solchen Situationen sollten Eltern ihrem Kind Erfolgserlebnisse verschaffen. Wenn Eltern es an der notwendigen Anerkennung fehlen lassen, werden die Erwachsengewordenen ihren Kindern wahrscheinlich ebenfalls zu wenig Anerkennung und Liebe zukommen lassen.

Manche Jungs riskieren Kopf und Kragen, um von ihren Vätern ein wenig Anerkennung und Liebe zu erheischen. Gewährt ein Vater seinem Kind Anerkennung und Zuneigung, wird es auch weiterhin sein Bestes geben, um sich diese Anerkennung und Liebe zu verdienen.

Der Kampf um die Anerkennung kann für das Kind aber auch zu einer schwer schulterbaren Last werden. Die Anerkennung des Vaters spielt für viele Kinder eine zentrale Rolle in ihrer emotionalen Entwicklung. Wertschätzung, Interesse und klare Zuwendung vermitteln Sicherheit und Selbstvertrauen. Bleibt diese Anerkennung jedoch aus, kann das Kind in einen dauerhaften Kampf um Aufmerksamkeit geraten: gute Leistungen, angepasstes Verhalten oder ständiges Bemühen, „gut genug“ zu sein.

Dieser innere Druck führt oft zu Selbstzweifeln, Angst vor Fehlern oder einem übersteigerten Perfektionismus. Manche Kinder versuchen ein Leben lang, Erwartungen zu erfüllen, die nie ausgesprochen wurden. Fehlt dabei die bestätigende Rückmeldung des Vaters, kann dies zu langfristigen Belastungen führen — etwa zu geringem Selbstwertgefühl oder emotionaler Erschöpfung.

Ein wertschätzender, präsenter Vater hingegen stärkt das Kind nachhaltig: durch echtes Interesse, verlässliche Unterstützung und klare, respektvolle Kommunikation.

Abschließend lässt sich sagen: Die Vaterfigur ermöglicht dem Kind, Mut, soziale Verantwortung und Gemeinschaftssinn zu entwickeln. Ein hilfreicher und guter Vater fördert die Kooperation mit dem Kind und stellt seine Autorität nicht in den Vordergrund.

Die väterliche Rolle wird oft verbunden mit Echtheit, Klarheit, Verlässlichkeit und der Förderung von Selbstverantwortung. Aber auch wenn gute Väter eine eher fordernde Haltung einnehmen, sind sie in der Regel dennoch liebevoll orientiert.

Erotische Liebe

Bei dieser Form der Liebe geht es vorerst einmal nicht darum, die ganze Welt zu umarmen, sondern um den Wunsch, sich mit einer Person — von Dreierbeziehungen und dergleichen einmal abgesehen — zu vereinigen.

Aber selbst wenn man sich nur mit einem Menschen vereinigen kann und will, liebt ein wahrhaft Liebender in der Vereinigung mit diesem einen Menschen die ganze Welt. Insofern ist erotische Liebe wesentlich mehr als nur sexuelle Begierde, da man versucht, die Abgetrenntheit von der Natur beziehungsweise von Gott durch diese Vereinigung zu überwinden. Sex ist die Kraft, die alles entstehen lässt, und Liebe die Kraft, die alles zusammenhält.

Erotische Liebe umfasst laut Erich Fromm Körper, Seele, Gefühl, Denken sowie eine spirituelle Dimension — und stellt somit eine vollständige Verbindung zweier Menschen dar. Sie bedeutet, den anderen Menschen in seinem innersten Wesen wahrzunehmen, was weit mehr als Verliebtheit beinhaltet, nämlich die Durchdringung der Persönlichkeit des anderen. Erotische Liebe ist freiwillig und besitzt einen aktiven Charakter. Sie setzt zwei autonome, reife Menschen voraus. Sie ist demnach Handlung, und nicht bloßer Hormonzustand.

Erotische Liebe ist nicht zu verwechseln mit dem „Egoismus zu zweit“, wenn beispielsweise zwei Verliebte nur einander lieben und alles andere von ihrer Liebe ausschließen. Eine einsame Zweisamkeit! Auch der Wunsch, den anderen zu beherrschen oder in der einen oder anderen Form Besitz von ihm zu ergreifen, sollte nicht mit erotischer Liebe verwechselt werden.

Erotische Liebe ist nach Fromm Teil einer umfassenden Grundhaltung der Liebe, neben dieser zu entwickelnden Fähigkeit auch in der Vereinigung mit dieser einzigen Person alles andere zu lieben.

Nach Platon ist erotische Liebe ein Antrieb zur Schönheit, der vom Körperlichen zum Seelischen aufsteigt. Ursprung der erotischen Liebe ist die Sehnsucht nach Ganzheit, wobei die Liebe zu einem schönen Körper nur die „erste Stufe“ darstellt. In einer zweiten Stufe erkennt man, dass Schönheit mehr als ein einzelner Körper ist — sie ist ein Prinzip. In der dritten Stufe beginnt der Aufstieg zum Geistigen. Man schätzt Tugend, Charakter, Bildung, und nicht nur äußere Schönheit. In der vierten Stufe entwickelt sich die Liebe zu schönen Gedanken, Wissenschaft und Kultur, und in der fünften Stufe wird die Liebe zur Schönheit selbst, welche die höchste Form darstellt, da sie nicht mehr von Menschen oder Dingen abhängig und somit ein zeitloses, göttliches Prinzip ist.

Die sogenannte „platonische Liebe“ ist der geistige Teil dieses Aufstiegs (Stufen drei bis fünf), also die höheren Stufen des Eros. Bei Platon ist Erotik der Motor, der die Seele zur vollkommenen, überkörperlichen Schönheit führt.

Selbstliebe

Viele meinen ja, es wäre egoistisch oder gar eine Sünde, sich selbst zu lieben. Ein ziemlicher Schmarrn, würde ich einmal sagen! Selbstliebe sollte nicht mit Egoismus beziehungsweise Selbstsucht verwechselt werden.

Nur jemand, der sich selbst liebt, schafft damit die Voraussetzung, auch andere wirklich lieben zu können. Ein Mensch, der sich für andere aufopfert und kaum an sich selbst denkt, kommt meist nicht gut an, da die anderen ja merken, wie unwohl er sich dabei fühlt.

Kinder, Lebenspartner und sonstiges Umfeld des unzufriedenen Aufopfernden entwickeln möglicherweise Schuldgefühle. Denken Sie nur an Mütter, die sich für ihre Kinder „krummlegen“. Was passiert da wohl im Kopf und im Herzen der Kinder? Die denken natürlich: „Mama geht es so schlecht, weil wir da sind.“ Außerdem vermittelt eine so agierende Mutter ihren Kindern, das Leben sei hart und nicht schön — und das Leben einer Frau im besonderen Maße. Und warum ist das wohl so? Weil sie von ihren Eltern — meist von ihrer Mutter — möglicherweise gelernt hat, dass „es eben so ist“, dass Frauen für andere da zu sein haben („Sei gefällig“). Würde sie sich mehr um sich selbst kümmern und mehr Zeit für sich nehmen, wäre sie ausgeglichener und psychisch und körperlich gesünder, was auch bei ihren Kindern und ihrem sonstigen Umfeld positiv aufgenommen werden würde.

Klar, wer nur sich selbst sucht, hat auch die Fähigkeit zu lieben eingestellt. Aber ist es nicht so, dass gerade der Selbstsüchtige einen Mangel an Selbstliebe zu verzeichnen hat und deswegen ungesunde egoistische Züge aufweist? Gesunde egoistische und altruistische Handlungsweisen sollten sich im Gleichgewicht halten. Wie auch immer: Selbstliebe ist jedenfalls etwas völlig anderes als ungesunder Egoismus, als Selbstsucht. Menschen mit einem hohen narzisstischen Selbstwert sind psychisch instabil und abhängig von der Bewunderung anderer. Menschen mit einem hohen authentischen Selbstwert sind dagegen psychisch stabil und fähig zu einer reifen Liebe.

Für manche mögen obige Ausführungen jetzt ihr Weltbild in Frage stellen, da ja gerade christliche Lehren — das Gebot der Nächstenliebe — und die buddhistische Heilslehre vermitteln, das eigene Leben diene insbesondere dazu, andere zu unterstützen. Wenn in der Bibel steht „Geben ist seliger denn nehmen“ oder „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, dann heißt das jedoch nicht, den Nächsten mehr lieben zu sollen als sich selbst. Fangen Sie lieber beim „Selbst“ an, dann können Sie auch die Fähigkeit entwickeln, andere wirklich zu lieben, vielleicht sogar „wie sich selbst“.

Friedrich Nietzsche meinte, Selbstliebe ist die Voraussetzung der Selbstverwirklichung. Ohne Selbstachtung wird der Mensch „herdenhaft“. Die Liebe zu anderen hat nicht viel Wert, wenn man sich selbst verachtet.

Wie Erich Fromm vertrete auch ich die Auffassung, dass Liebe eine Grundhaltung, eine Einstellung gegenüber allen Objekten und Subjekten ist — und damit auch die eigene Person einschließt.

Abschließend lässt sich sagen: Selbstliebe ist kein Egoismus, sondern eine Grundbedingung jeder reifen Liebe.

Selbstliebe bedeutet, sich selbst als wertvolles Wesen anzuerkennen, für das man Verantwortung trägt. Die Liebe zu sich selbst ist wie die Nächstenliebe Grundlage für jede andere Form der Liebe.

Man kann nur geben, was man besitzt. Erkenne und schätze ich meinen Selbstwert, gelingt es mir auch besser, andere wertzuschätzen. Sorge ich in angemessener Weise für mich selbst, kann ich auch für andere besser sorgen. Verstehe ich mich selbst besser, bringe ich auch mehr Verständnis für andere auf.

Reife Selbstliebe ist nicht Selbstsucht, die versucht, ein inneres Vakuum zu füllen. Selbstliebe ist auch nicht Egoismus. Ganz im Gegenteil: Egoismus entsteht aus Mangel an Selbstliebe.

Selbstliebe ist ein „aktives Tun“ und umfasst die Fürsorge für das eigene Leben, die Verantwortung für eigene Entscheidungen, den Respekt vor der eigenen Würde und das Wissen um die eigene Natur.

Ein weit entwickelter Mensch liebt sich selbst in dem Maße, dass er fähig ist, Gutes für die Gemeinschaft zu tun.

Liebe zu Gott

Für Erich Fromm ist Gott nicht primär ein äußeres Wesen, sondern ein Symbol für menschliche Ganzheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Mitmenschlichkeit und das eigene moralische Ideal. Fromm hat eine „humanistische“ Gottesvorstellung und spricht von „humanistischer Religion“. Gott repräsentiert für ihn das, was im Menschen selbst wachsen soll. Gott ist das Symbol der innersten menschlichen Kräfte.

Die Liebe zu Gott ist für Fromm die Liebe zum Menschsein. Er interpretiert Gottesliebe als eine Form der Selbstverwirklichung und der Liebe zum Leben selbst. Der Mensch ist dazu aufgerufen, die eigenen ethischen Potenziale zu entfalten, Verantwortung für das eigene Sein und Handeln zu übernehmen und anderen Menschen mit Güte und Reife zu begegnen. Gott zu lieben bedeutet, das Höchste im Menschen zu lieben.

Ein humanistischer Gott ist die Quelle menschlicher Kraft. Er fordert Reife, Verantwortung und Freiheit, und führt zu reifer Gottesliebe.

Im Vergleich zum Christentum, Islam und Judentum gibt es beim Buddhismus keinen „personalen“ Wegweiser, keinen personalen Gott. Die Liebe zu einem personalen Gott wird ersetzt durch die Liebe zum Leben, das Mitgefühl für alle Wesen und die Erkenntnis der Wirklichkeit. Damit kann ich persönlich etwas anfangen. Die buddhistische Sichtweise ist ziemlich nahe an Fromms humanistischer Gottesauffassung.

Nun, ich kann mich mit keiner Weltreligion besonders anfreunden, da jede Religion eine Vielzahl von dogmatischen Elementen enthält und meist für sich beansprucht, die einzig wahre zu sein. Ich halte diese Sichtweise der Ausschließlichkeit für eine äußerst arrogante und auch einfältige Denkweise, die letztendlich zu Elend und Leid, zu Missachtung der Menschenwürde, zu Aggression, zu unheilbringenden Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen führt. Sehr wohl bin ich jedoch davon überzeugt, dass es eine höhere Wesenheit, eine unbegrenzte Form von Liebe und Energie gibt, die ich als Gott bezeichnen würde. Die Energie, die jedes Jahr die Bäume wieder grün werden lässt, die Seelen von Menschen formt, und vieles andere mehr, ist für mich Gott.

Die Liebe zu Gott kann man meines Erachtens nicht eingleisig sehen.

Die bedingungslose und ewige Liebe der Schöpfung zu uns wird erwidert durch unsere Liebe zu Gott. In islamisch orientierten Texten finden sich Stellen, die beschreiben, dass sich die von Gott ausgehende Liebe in jedem Objekt — also auch in uns — befinde und auch wieder zu Gott strebe.

In der jüdischen Weisheitsliteratur wird von der Liebe gesprochen, welche den Tod überwindet und auf das gesamte Universum bezogen ist. Im Neuen Testament wird die wechselseitige Liebe zwischen Gott und den Menschen beschrieben, und dass die Liebe des Menschen zum Menschen gleichzeitig ein Zeugnis der menschlichen Liebe zu Gott sei. All diesen Ansichten ist etwas abzugewinnen, denke ich.

Was soll auch dieser menschenverachtende Blödsinn, den Glauben anderer zu verurteilen? Wer kann sich das anmaßen? Solche Menschen spielen Gott, lästern somit Gott und erhalten konsequenterweise die in der jeweiligen Religion hierfür vorgesehene Strafe — wenn man der jeweiligen Religion Glauben schenken möchte. Da findet man sich auf einmal im Fegefeuer oder in der Hölle oder in der ewigen Verdammnis wieder, und eben nicht neben Gott. Davon wollen aber viele „Gläubige“ — oder sollte ich sagen „Scheinheilige“ — nichts wissen. „Wer von euch ‚Gläubigen‘ sich anmaßt, die einzig wahre Religion zu vertreten, der werfe den ersten Stein!“

Gottesliebe entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein von ihm zu überwinden und die verlorene Einheit mit Gott, mit dem Kosmos wiederzuerlangen. Ich glaube, dass Menschen, die das nichterfüllende und trostlose Dahinvegetieren in einer materiellen Welt satthaben, in der sie lediglich mitschwimmen, um irgendwo dazuzugehören, in der sie von turbokapitalistischen Interessen zu kleinen unbedeutenden Rädchen in einer riesigen Maschinerie der Gier degradiert werden, in der Beziehungen zu Menschen nach ihrem Kosten-Nutzen-Verhältnis beurteilt werden, in der toten Dingen ein höherer Wert beigemessen wird als lebendigen — dass diese Menschen in solch einer Gesellschaft wieder Gott und ihre Liebe zu ihm entdecken, wie auch immer der Einzelne ihn sich vorstellen mag.