Die künstlichen Höllen der Guten
Auch wenn es normalerweise nicht so ausgedrückt wird — Gefängnisse sind weiße Folter. Diese Art der „Rechtspflege“ endet in nicht wenigen Fällen tödlich.
Eine Organisation sperrt tausende Menschen in kleine Räume ein, mit verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern. Über viele Tage, Monate oder gar Jahre sehen sie sich der Langeweile und ihren dunklen Gedanken ausgeliefert oder werden zusammengepfercht mit anderen, die infolge der Gefangenschaft aggressiv und nahe einem „Koller“ sind. Wehrt sich ein Gefangener, wird er zur Strafe in einen noch kleineren Raum gesperrt, ohne ein Fenster, durch das die Sonne scheint, schlechtem Essen, schlechten Gerüchen, nervenaufreibenden Geräuschen hilflos ausgeliefert. Und er mag noch so viel weinen, schreien oder aufbegehren, sie halten ihn weiter unbeirrt in diesem Raum fest und lassen selbst dann nicht von ihrem Tun ab, wenn etliche Betroffene sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Nun die Frage: Sind die Menschen, die solches tun, eher gut oder eher böse? „Böse“ würden viele nun spontan antworten. Falsch: Es sind Gute, die sich Gefängnisse ausgedacht haben. Was man unter normalen Umständen als einen Akt extremer Grausamkeit verabscheuen würde, zeigt sich unter zwei Voraussetzungen als gerechtfertigt und gleichsam geadelt: Erstens haben die, denen so etwas angetan wird, zuvor selbst Verbrechen begangen. Zweitens handelt es sich bei der Organisation, die so etwas tut, um den Staat — also die moralisch reine und reinwaschende Instanz schlechthin. Eine merkwürdige Sache ist es mit den Strafen und mit der Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit der „unbescholtenen“ Bürger zu diesen. Der ehemalige Gefängnisdirektor Joachim Walter hat in einem Buch aufgrund eigener Erfahrungen über „Sinn und Unsinn des Strafvollzugs“ nachgedacht.
„Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen Stützpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts.“
In Stefan Zweigs „Schachnovelle“ berichtet Dr. B., ein ehemaliger Gefangener der Gestapo, über seine Erlebnisse in der Isolationshaft. Da sein Geist sich in einer Umgebung ohne jede sensorische Anregung an nichts klammern konnte, hielt den Helden der Geschichte nur ein Buch mit Schachpartien psychisch am Leben. Im Kontext des Buches würde niemand zögern, von Folter zu sprechen — einer Tortur, die ohne die Zufügung körperlicher Schmerzen auskommt. Klar, bei den Tätern handelte es sich in dieser Novelle um Nazis. Aber wären solche Zustände auch im selbst ernannten Reich des Guten, der Bundesrepublik Deutschland, möglich?
Die bekannteste Gefangene, die man einer Isolationshaft unterzogen hatte, war Ulrike Meinhof. Im Gefängnis Stuttgart-Stammheim war sie nicht nur in einer Einzelzelle, sondern sogar isoliert in einem eigenen Gebäudetrakt untergebracht. Ihr Biograf Mario Krebs beschreibt Meinhofs Situation so: „Auf diese Weise ist sie nicht nur sozial isoliert, sondern auch akustisch, kann weder Geräusche noch Stimmen wahrnehmen, lebt fast 24 Stunden täglich in totaler tödlicher Stille.“ Ihr Zimmer war vollständig mit weißer Farbe gestrichen und mit weißem Neonlicht beleuchtet, das nachts nicht ausgeschaltet werden konnte.
Ihr Verteidiger Ulrich K. Preuß schrieb, Meinhof habe „praktisch 24 Stunden lang ohne eine unterscheidbare Umwelt gelebt“. Preuß sagt unter Verweis auf den holländischen Psychiater J.P. Teuns: „Die Herstellung und Aufrechterhaltung einer künstlichen Umgebung legt im Laufe der Zeit die Sinnesorgane lahm und führt zu einer extremen Desorientierung des isolierten Individuums.“ Die Wirkung sensorischer Deprivation, getestet in einem psychologischen Experiment, beschreibt Teuns so: Die Teilnehmer „klagten vor allem darüber, dass sie nicht mehr imstande waren, zusammenhängend zu denken. Plötzliche Wutanfälle und Anfälle von Angst vor weiterem Aufenthalt im geschlossenen Raum traten auf. Einige Versuchsteilnehmer hatten Halluzinationen, hatten das Gefühl, zwei Körper zu besitzen, oder glauben, dass sich ihr Kopf vom Rumpf getrennt habe“.
Ein „erpresster Selbstmord“
Meinhof selbst schrieb in einem Brief:
„Das Gefühl, es explodiere einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müsse eigentlich zerreißen, abplatzen) … das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt; nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen. Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert — man friert. (…) Das Gefühl, man verstummt — man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten (…) Kopfschmerzen (…) das Gefühl innerlich auszubrennen.“
Als Grund für die harten Haftbedingungen wurde die Befürchtung angeführt, Meinhof könne andere Gefangene aufwiegeln, sich mit ihnen absprechen, ihren politischen Kampf aus der Haft heraus fortsetzen. Krebs: „Folgt man dieser Logik, so bedeutet das, dass die Gefangenen erst dann mit normalen Haftbedingungen rechnen können, wenn sie ihre politische Identität aufgeben würden.“ Aber wie sollte man eine eventuelle Gesinnungsänderung signalisieren? Meinhof sah darin ein perfides Manöver, um sie in den Tod zu treiben oder zum Verrat an ihren Mitstreitern zu zwingen. Im Stammheimer Prozess sagte sie:
„Das heißt, es gibt in der Isolation exakt zwei Möglichkeiten: Entweder sie bringen einen Gefangenen zum Schweigen, das heißt, man stirbt daran, oder sie bringen einen zum Reden. Und das ist das Geständnis oder der Verrat.“
Meinhof sah ihre Form der Unterbringung als Versuch, sie in den Selbstmord zu treiben. Der erfolgte dann am 9. Mai 1976, als Wärter die Gefangene erhängt am Gitter ihres Zellenfensters vorfanden.
Staatsfeindin Nr. 1
Ulrike Meinhof war wegen Mordes in Gemeinschaft mit anderen RAF-Mitgliedern, wegen Mordversuchs, Banküberfällen, Brandanschlägen und Gefangenenbefreiung — im Fall von Andreas Baader — inhaftiert. Man sollte das nicht vergessen. Tatsache ist aber auch, dass die Todesstrafe im deutschen Justizwesen normalerweise nicht vorgesehen ist.
De facto wurde Ulrike Meinhof aber durch ihre unerträglichen Haftbedingungen in den Tod getrieben. Die Verantwortlichen machten sich erkennbar einen schlanken Fuß. Sie wollten Meinhof vernichten, nahmen ihren Tod zumindest fahrlässig in Kauf, wollten es aber nicht gewesen sein.
Die Öffentlichkeit drängte damals nicht auf restlose Aufklärung. Es hatte sich ja „nur“ eine Terroristin getötet, jemand der es verdient hatte.
Meinhof war zweifellos ein Sonderfall, damals „Staatsfeindin Nr. 1“. Wenden wir uns also von dieser historischen Ausnahmesituation, in der sich die Staatsmacht von einer kleinen Gruppe gewalttätiger Gegner bedroht sah und quasi Feindstrafrecht praktizierte, ab und schauen wir auf den „Normalfall“ in deutschen Gefängnissen.
Die designte Hölle
Der Rechtsanwalt Burkhard Benecken beschreibt in seinem Buch „Inside Knast“ gravierende Missstände in Gefängnissen. Diese stellen teilweise vermeidbare Härten dar, welche grundsätzlich eine einsichtige Gefängnisleitung abmildern könnte; teilweise hängen sie aber auch mit dem destruktiven Wesen derartiger Einrichtungen zusammen. Beneckens gravierendster Vorwurf betrifft die vielen Selbstmorde hinter Gittern: Laut einer Statistik des Bundesamtes für Justiz seien dies binnen 20 Jahren fast 1.400 Gefangene in deutschen Haftanstalten gewesen.
Natürlich tut das System etwas gegen die Selbstmordneigung seiner „Schutzbefohlenen“. Laut Burkhard Benecken kommen Risikokandidaten in einen „BgH“ (besonders gesicherten Haftraum), bekannt auch als der „Bunker“ — eine komplett videoüberwachte Zelle. „Lediglich eine dünne Matratze nebst Toilette komplettieren die Ausstattung.“ Warum videoüberwacht? Das Gefängnisregime will mit dieser Maßnahme Selbstmorde verhindern, zu denen es ohne die von ihr selbst herbeigeführten Umstände gar nicht gekommen wäre. Man kann sich denken, wie sich die Unterbringung in einer solchen Zelle — die übrigens auch als verschärftes Strafmittel für gewalttätige und renitente Insassen eingesetzt wird — auf die „Heilungschancen“ von depressiven Menschen auswirkt.
Solche Hafträume bedeuten verschärfte psychische Folter, die dem Gefangenen auch noch den letzten Ausweg — den Freitod — versperren.
Selbstverständlich sind solche Maßnahmen nicht Alltag in deutschen Strafanstalten. Es lässt aber aufhorchen, was ein Klient Beneckens zu Protokoll gab: „Dass ich hier nicht das Paradies vorfinde, war mir schon klar. Aber mir war nicht bewusst, dass es so eine Hölle ist.“ Diese Hölle ist jedoch eine inszenierte und extra zu diesem Zweck „designte“ Hölle, die von keiner Gottheit und keinem Teufel erdacht worden war, sondern von Menschen, die sich – und das ist das Besondere in diesem Fall – für gut halten.
Grausamkeit mit gutem Gewissen
Ohne die Taten, die besagte Gefangene begangen hatten, klein reden zu wollen: Es besteht die Gefahr, dass besonders brutale Strafen den Reueprozess, der sich im „Schuldigen“ vielleicht entfalten könnte, eher behindern. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat diesen Gedanken formuliert, den ich hier sinngemäß wiedergebe. Der Bestrafte beobachtet, dass der Staatsapparat ihm all das antut, was er vielleicht seinen Opfern angetan hat: Belauern, Beschimpfen, Überwältigen, Berauben, Einsperren — das ganze Repertoire, nur mit gutem Gewissen ausgeführt. Der Staat sagt also nicht, dass Freiheitsberaubung grundsätzlich schlecht sei — sie ist dies nur dann, wenn sie von Einzelpersonen durchgeführt wird, nicht vom Staat selbst.
Freilich kann man solche Fragen nur schwer gerecht beurteilen, ohne Justizvollzugsbeamte dazu anzuhören. Hilfreich ist diesbezüglich das neue Buch des ehemaligen Gefängnisdirektors Joachim Walter: „Die Freiheit nehm‘ ich dir. Sinn und Unsinn des Strafvollzugs.“ Der berentete Leiter der Justizvollzugsanstalt Adelsheim lehnt darin zwar Gefängnisse nicht in Bausch und Bogen ab, meldet aber doch erhebliche Bedenken an, die Gewicht haben, wenn ein Insider sie formuliert. Er mahnt Reformen an, von denen er einige in seinem Einflussbereich auch anstoßen konnte. Jedenfalls beschreibt er das selbst so.
Walter gibt die Zahl der derzeit in Deutschland Inhaftierten mit 56.557 an. Daneben befinden sich 11.663 in Untersuchungshaft, was in der Regel Einzelhaft bedeutet. Jeder Gefangene belastet den Bundeshaushalt mit durchschnittlich 109,38 Euro pro Tag, monatlich 3.281,40 Euro. Auch das ist in Rechnung zu stellen, wenn man darüber diskutiert, ob die Vorteile des Gefängnissystems die Nachteile überwiegen.
Knastgeruch und Radau
Joachim Walter schildert recht anschaulich einige Details aus dem Alltag der Gefangenen. Er konstatiert unter anderen eine unangenehme Lärmkulisse, zusammengesetzt aus Türenschlagen, Getrampel, Rufen der Insassen und Wärter und dem Rasseln von Schlüsselbünden. Der Grund für die Lautstärke liegt auch im völligen Fehler textiler Abdämpfung. „Denn das Einzige, was den Lärm dämpfen kann, ist die Kleidung der Gefangenen und der Uniformträger. Ansonsten gibt es nur Mauerwände, Stahl und Glas.“
Weiter schildert Walter einen charakteristischen „Knastgeruch“. Er beschreibt ihn als eine „Mischung aus Männerschweiß, kaltem Zigarettenrauch, schlecht gelüfteten Hafträumen und dem Mief abgestanden Essens — undefinierbar, aber unverwechselbar. Als Abendessen, welches über eine Essensklappe in die Zelle gereicht wird, nennt er „lauwarmen Kräutertee, zwei bis drei Scheiben Graubrot, etwas Wurst oder Käse“. In warmen Sommernächten fände in den schlecht belüfteten Zellen „kaum einer Schlaf“. Weiter störten — je nach Lage der Zelle — „unartikulierte Schreie“ und grelles Scheinwerferlicht aus dem Außenbereich die Ruhe. Manchmal schlagen mehrere Gefangene — einer scheinbar ansteckenden Dynamik folgend — „wütend mit ihren Löffeln gegen die blechernen Essgeschirre“ oder „mit den Fäusten gegen die Zellentüren“.
Klassenjustiz: Die Unterschichten wegsperren
Im Gefängnis traf der Exdirektor „überwiegend sehr junge Männer“, die er nicht als „gestandene Kriminelle“ einstufte. Das Durchschnittsalter an einem seiner Arbeitsplätze in der JVA Heilbronn sei 28 Jahre gewesen. Weiter erschien ihm auffällig, dass die Gefangenen in der Regel „aus schwierigen sozialen Verhältnissen, aus armen und zerstörten Familien stammten. Mit einem Wort: aus der Unterschicht“.
Das Gefängnisindustrie scheint, wie auch in den USA und in anderen Ländern, überwiegend ein Disziplinierungsinstrument für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft zu sein, exekutiert von Menschen aus „guten Verhältnissen“.
Er schreibt mit Bedauern: „Sie standen am Anfang ihres Lebens — und hatten schon fast keine Zukunft mehr.“ Richter stammen nach Walters Beobachtung „ausnahmslos aus der Mittel- und Oberschicht“.
Hellsichtig und gesellschaftspolitisch sehr aufschlussreich ist die Beobachtung, „dass im Gerichtssaal zuweilen eine Straflust waltet, die auf Vorurteilen und Unduldsamkeit gegenüber Minderheiten beruht, gegen ‚die da unten‘“. Sogar ein Richter soll diesbezüglich von „Klassenjustiz“ gesprochen haben. Joachim Walter sieht aber neben der sozialen Schieflage auch ein grundsätzliches Problem: Die Institution Vollzugsanstalt erscheint ihm „selbst als eine ziemlich unbarmherzige Maschinerie. In erster Linie bestimmt zur Disziplinierung der ungebärdigen, unangepassten männlichen Jugend mittels abgenötigter und deshalb selten echter Reue und erzwungener ‚guter Führung‘“.
Weg vom Fenster
Die Frage, die sich anschließt, ist: Was passiert einem Gefangenen bei „schlechter Führung“? Man kann ihm ja kaum mehr mit Gefängnis drohen, da er sich bereits in einem solchen befindet. Die Antwort liegt, wie man sich denken kann, in einer Verschärfung der „Übelzufügung“. Bei einem Ausbruchsversuch kann zum Beispiel verschärfter Arrest angeordnet werden. Was heißt das?
„Unter ‚Arrest‘ versteht man die Unterbringung in andauernder Einzelhaft in einer separaten Arrestzelle. ‚Bunker‘ oder ‚Kaschott‘, sagen die Gefangenen. 24 Stunden am Tag, meist ohne jede Unterbrechung. In der Heilbronner Anstalt befinden sich die Arrestzellen weit entfernt von allen anderen Zellen und Gemeinschaftsräumen im Kellergeschoss.“
Die Betroffenen sind buchstäblich „weg vom Fenster“, denn ein solches gibt es „in der Arrestzelle natürlich nicht“. Der Arrest würde deshalb von vielen Gefangenen als „reiner Racheakt empfunden, der zwischen Wut und Ohnmacht wechselnde Gefühlslagen erzeugt“. Eine weitere Verschärfung des Arrests kann bedeuten, dass der Gefangene nur jeden dritten Tag eine Matratze erhält. „Ansonsten muss er auf einer harten Pritsche schlafen, Holzlatten auf Betonsockel.“ Ebenfalls nur jeden dritten Tag bekommt er „normale Anstaltskost“. An den anderen beiden Tagen bekommt er nur Wasser und ein paar Scheiben Graubrot. Joachim Walter nennt das „eine verkappte Körperstrafe“.
Gefangene im Arrest werden täglich vom Anstaltsarzt und einem Beauftragten des Anstaltsleiters aufgesucht. Wenn Sorge um den Gesundheitszustand der Gefangenen besteht, fragt sich allerdings, warum man sie nicht in den „normalen“ Gefängnistrakt entlässt, der ja ohnehin nicht mit Freiheit gleichzusetzen ist. Manchmal hat dieses System der Sonderstrafen für ohnehin schon Bestrafte tragische Folgen. Joachim Walter berichtet von einem schockierenden Vorfall:
„Als ich am Morgen des achten Arresttages zusammen mit dem Vollzugsdienstleiter dieser Pflicht nachkomme, hängt der Gefangene Supeljak leblos am Metallrahmen des oben in der Wand angebrachten Glasbausteins, der zu Lüftungszwecken gekippt werden kann. Er hat seine Oberbekleidung in Streifen gerissen und daraus einen Strick geflochten. Mit dem hat der sich erhängt.“
„Christen“ ohne Gnade
Ulrike Meinhof war beileibe nicht die Einzige, die aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende setzte. Sie ist nur vielleicht eine der prominentesten Selbstmörderinnen in der deutschen Justizgeschichte. Der erwähnte Gefangene Supeljak hatte sich lediglich einen „Ausbruchsversuch“ zuschulden kommen lassen — konkret einen „einen Millimeter tiefen Kratzer am Zellengitter“ verursacht. „Hat niemand an die schwarze Verzweiflung gedacht, die einen Gefangenen nach vielen Tagen Isolation und Leiden überwältigen kann?“
Nach eigenen Angaben weigerte sich Walter in vielen Fällen, den Anweisungen seiner Vorgesetzen Folge zu leisten, wenn ihm diese zu hart erschienen. Er bot an, ihn von seinem Amt zu entbinden, was dann aber nicht in die Tat umgesetzt wurde, weil es ihm gelungen sei, die Ordnung in den von ihm geleiteten Anstalten immer ohne Arreststrafen aufrecht zu erhalten.
Alle Verfasser eines Erlasses, der den Justizbeamten besonders harte Disziplinarmaßnahmen bei „schweren Pflichtverstößen“ anbefahl, so erzählt er, seien „bekennende Christen“ gewesen. „Einer von ihnen pflegte manchen öffentlichen Auftritt mit den Worten ‚… und Gottes Segen!‘ zu schließen.“
Gelegentlich fragte sich Walter angesichts solcher Zustände: „Was machen wir hier eigentlich? Wie ist das alles zu rechtfertigen?“
Man kann sich natürlich Gedanken darüber machen, ob Joachim Walter das von ihm heftig kritisierte Gefängnis-Unwesen frühzeitig hätte verlassen können oder sollen. Tatsache ist aber: Sein Verbleib als Anstaltsleiter, der zwar Verbesserungen der Haftbedingungen anstieß, das System letztlich aber durch seine Mitwirkung stützte, gibt uns als Lesern einen sehr aufschlussreichen Einblick in eine sonst buchstäblich verschlossene Welt. Gerade in seinen selbstkritischen Passagen ist „Die Freiheit nehm‘ ich dir“ von faszinierender Ehrlichkeit. Ein Freund unterstellte dem Gefängnisdirektor „sublimen Sadismus“. Erstaunlicherweise weist Walter dies nicht pauschal von sich, sondern gerät ins Nachdenken. „Mir war deshalb bewusst, dass die Identifizierung mit der strafenden Gesellschaft vielen Juristen das Ausleben von Aggressionen in erlaubter Form ermöglicht.“ Walter spricht auch von „der notorischen Straflust im Justizapparat“ — ein Wort mit sexueller Konnotation, das zumindest auf eine Art geistige Freude am Zufügen von Leid verweist.
Nach unten treten
Die Grausamkeit pflanzt sich innerhalb des Gefängnis-Mikrokosmos quasi viral fort.
Die Gequälten können den Druck nicht an die Quälenden, also die Vertreter des Staates, selbst zurückgeben, da sich diese meist in einer unangreifbar starken Stellung befinden. Die aggressive Energie, die nach „oben“ nicht abgeführt werden kann, richtet sich folglich nach „unten“, in Richtung von Mitgefangenen, die schwach oder wehrlos wirken.
Innerhalb einer Anstalt bilden sich zwischen den Gefangenen Hierarchien heraus, die — was überraschen mag — auch moralisch aufgeladen sind. Joachim Walter illustriert diese Dynamik eindrucksvoll am Beispiel eines Kindermörders. Der Täter hat einen 12-jährigen vor der Tat noch missbraucht. Sicher handelt es sich dabei um eines der schlimmsten Verbrechen.
Auffällig ist dennoch, wie schnell und gleichsam befriedigt ein Kollektiv von Ausgestoßenen, eine Gruppe verurteilter Verbrecher, die Gelegenheit ergreift, um sich gegenüber einem moralisch noch tiefer Gefallenen als (Ver-)urteilende zu positionieren. Das extreme Böse-Sein des Kindermörders lässt die Delinquenz „normaler“ Verbrecher vergleichsweise geradezu als Güte hervorleuchten. Betrüger, Gewalttäter, Diebe, vielleicht sogar Mörder positionieren sich als performativ Anständige. Es mag nun verschiedene Ansichten darüber geben, was ein Kindermörder und Missbrauchstäter „verdient“ hat — Tatsache ist, dass solche Menschen Erfahrungen machen, die selbst innerhalb der höllenartigen Gesamtsituation „Knast“ noch außergewöhnlich qualvoll sind. Die „Teufel“, die ihnen einheizen, sind dabei nicht so sehr die Wärter, sondern vielmehr ihre Mitgefangenen.
Besagter Kindermörder sprach Joachim Walter gegenüber von extremem Mobbing seitens der anderen Inhaftierten und von der Todesangst, die er durchlebte. „Jeder, der an meiner Zelle vorbeikommt, aber wirklich jeder, donnert mit der Faust gegen die Tür oder tritt mit dem Fuß dagegen. Und dann brüllen sie: ‚Kinderficker, wenn du rauskommst, bringen wir dich um.‘“ Dem Mann gelingt es schließlich, auf das Dach der Strafanstalt zu gelangen, wo er unter den Augen seiner Mitgefangenen herumturnte, offenbar gewillt, in die Tiefe zu springen, dann doch wieder davor zurückschreckend.
„Einige schreien: ‚Spring doch Kinderficker, spring doch!‘ Sie wollen Blut sehen! Wenn er dann am Rand des Daches erneut in ihr Gesichtsfeld kommt, steigert sich das Geschrei zum vielstimmigen Chor. Wie in der antiken Tragödie — im Unterschied zu dieser allerdings extrem laut, brutal und gehässig. Mit dem nächstbesten Gegenstand im Stakkato an das Zellengitter gehämmert, findet der abscheuliche Schlachtgesang dann seinen Rhythmus, und sie skandieren: ‚Spring — doch! — Spring — doch! — Spring — doch!‘“
Der Kindermörder kann schließlich von der Feuerwehr vom Suizid abgehalten werden.
Das Freiheitsabstandsgebot
Man kann sagen, dass Misshandlungen durch Mitgefangene vom Gefängnissystem als Teil der Bestrafung billigend in Kauf genommen oder zumindest als unvermeidlich hingenommen werden. Es ist eine Möglichkeit, einige Aspekte der Bestrafung quasi zu delegieren und sich dabei selbst als unschuldig, in vielen Fällen sogar als über solche Verrohung entrüstet zu positionieren.
Die Grausamkeiten von Mitgefangenen bilden ein chaotisches System, das in keiner Weise den Anforderungen an einen geordneten, an den Gesetzen orientierten Strafprozess genügt. Gefangene werden von Gefangenen gequält. Die Wärter schauen oft weg, der Rest der Gesellschaft sowieso, denn „es trifft ja keinen Unschuldigen“.
Analog zum Begriff des „Lohnabstandsgebots“, das sicherstellen soll, dass sich Arbeit im Vergleich zum Empfang staatlicher Transferleistungen lohnt, spreche ich hier auch gern von einem Freiheitsabstandsgebot. Es muss Strafgefangenen spürbar schlechter gehen als Menschen in Freiheit, weil sonst die abschreckende Wirkung des Strafvollzugs nicht wirkt. Anders ausgedrückt: Wenn das Gefängnis nicht quält, verfehlt es seinen Auftrag. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn das Gefängnis quält, kommt es zu einem Prozess fortschreitender Verrohung, zu verschärftem Hass der Insassen gegen „das System“, zur Traumatisierung und sehr oft zu neuer Straffälligkeit, wenn der Gefangene später wieder in Freiheit gelangt.
Das Prinzip des Freiheitsabstandsgebots ist insofern schwer aufrechtzuerhalten, als die Lage der Menschen „draußen“ auch nicht immer das reine Paradies darstellt. Man denke dabei nur an die Lage von Obdachlosen, die nicht einmal — wie Gefangene — einen überdachten Raum und eine Grundversorgung mit Nahrung sicher haben. Weiter ist an die Situation von Soldaten bei der Bundeswehr zu denken — konfrontiert mit Sieben-Bett-Zimmern, mit schlechtem Essen, mit körperlichen Strapazen und einer „Kultur“ permanenter verbaler Entwertung durch Vorgesetzte, was unter den Rekruten auch zu einer Gruppendynamik gegenseitiger Aggressivität führt. Eine Art Gefängnis für Unschuldige — mit dem allerdings nicht zu verachtenden Vorteil, dass man an den meisten Wochenenden nach Hause „darf“.
Die Situation in manchen Alten- und Pflegeheimen, in Flüchtlingsunterkünften und sogar in einigen Betrieben, in denen autoritär anbefohlene Qualarbeit zu verrichten ist —alle diese Höllen lassen es für die Justiz schwierig erscheinen, noch etwas zu kreieren, was Häftlingen als Verschlimmerung, also als wirklich abschreckende Strafe wahrnehmen. Eine Herausforderung, der sich das Justizvollzugssystem aber tapfer stellt.
„Die Hölle, das sind die anderen“
Laut Joachim Walter ist die Suizidrate „bei (männlichen) Gefangenen etwa achtmal höher als in der entsprechenden Allgemeinbevölkerung“. In Deutschland haben zwischen 2020 und 2022 insgesamt 1.698 Gefangene Selbstmord begangen. „Suizid ist weltweit die häufigste Todesursache in Gefängnissen“, erklärt der MDR. „Besonders hoch ist die Suizidgefahr für Gefangene in Untersuchungshaft. Hier ist die Unsicherheit, was passiert oder passieren könnte, am größten.“ Wobei angemerkt werden muss, dass die Untersuchungshaft Menschen betrifft, die nicht mit Sicherheit schuldig, vielfach unschuldig sind — wie im Fall des „Querdenken“-Gründers Michael Ballweg.
In den oberen Stockwerken eines Gefängnisses, dem Joachim Walter vorstand, waren „Sprungnetze gespannt, damit keiner, um sich das Leben zu nehmen, über das Geländer in die Tiefe springen kann“.
Eingesperrt zu sein ohne Mitgefangene — das Schicksal von Ulrike Meinhof — ist das eine Extrem; auch das Gegenteil davon kann jedoch tödlich enden: Wenn Gefängnisinsassen nämlich mit vielen anderen zusammengesperrt werden — oder mit den falschen. „Die Hölle, das sind die anderen“, zitiert Joachim Walter in seinem Buch Jean-Paul Sartre. Die erschütterndste Geschichte, die der ehemalige Gefängnisdirektor erzählt, ist eine, die er nicht selbst erlebt hat. Es handelt sich um eine wahre Begebenheit, die der Autor und Regisseur Philip Koch in seinem Film „Picco“ schildert. Im Jahr 2006 war in der Jugendstrafanstalt Siegburg „in einer Gemeinschaftszelle einer der Insassen von den anderen viele Stunden lang misshandelt und schließlich zum Selbstmord gezwungen worden“.
Der Filmemacher macht die Gruppendynamik unter den Gefangenen dafür verantwortlich, die interne Rangordnung, die sich offenbar in vielen Fällen fast unvermeidlich herausbildet. Der Titel-„Held“ Picco schafft es, sich mit einigem Durchsetzungsvermögen in der Zellen-Hierarchie weit nach oben zu arbeiten. Der Preis dieses Erfolgs: „Er verlernt das Einfühlungsvermögen in andere, also Mitmenschlichkeit.“ Picco wird in Täterstrukturen verwickelt.
Das Leid der „Prügelknaben“
„Wo eine interne Rangordnung ausgekämpft und festgelegt wird, gibt es notwendig auch den mit dem niedrigsten Rang: den Schwächsten. Der kriegt vieles von dem ab, was die anderen an Entbehrung, Enttäuschung, Frust und Leid hinnehmen müssen. (…) Er ist der Prügelknabe.“
Es trifft einen Gefangenen, der einen besonders schwachen, verwundbaren Eindruck macht: den „Kleinen“.
„Es scheint beinahe gesetzmäßig so zu sein: Wer einen unter sich sieht, wird umso mehr nach unten treten, je mehr er selbst von oben getreten wird. Das ist bekanntlich keineswegs nur im Gefängnis so. Dort ist es aber viel schlimmer als andernorts, weil die Verhältnisse so unentrinnbar, so hermetisch sind.“
Mobbing trifft also nicht nur Gefangene, die sich eines bei den Anderen besonders verhassten Verbrechens schuldig gemacht haben, Kinderschänder zum Beispiel — auch Menschen mit der Ausstrahlung „geborener Opfer“ können unter die Räder kommen. In Siegburg kommt es an einem Tag, an dem die Personaldecke besonders dünn ist und die Zellengenossen sich selbst überlassen bleiben, zur Eskalation.
„Die Quälereien steigern sich zunehmend und unaufhaltsam bis zu einer wahren Orgie der Gewalt. Der Kleine, ohne den Mut und die Chance, sich dagegen zur Wehr zu setzen, wird stundenlang geschlagen, gefesselt, geknebelt, gefoltert, sogar vergewaltigt. Fast jede erdenkliche Demütigung wird ihm angetan.“
Auch Picco beteiligt sich nach anfänglichem Zögern schließlich an den Quälereien. „Er fürchtet, sonst selbst unter Druck zu geraten, jedenfalls aber seine mühsam erarbeitete Position im Ranking zu riskieren.“
„Zum Schluss, nachdem er schlimme Qualen zu ertragen hatte, wollen die drei den Kleinen davon überzeugen, dass es das Beste sei, wenn er ‚sich selbst weghängt‘. (…) Es erscheinen zwar Aufsichtsbeamte, sie werden aber unter Beteiligung aller, letztlich auch des völlig eingeschüchterten und apathischen Kleinen, getäuscht und abgewimmelt. Und irgendwann hängt er dann da im WC der Zelle: tot.“
Irrationaler Glaube an die Politik des „Wegsperrens“
Derartige „Kollateralschäden“ kommen immer wieder vor. Daher stellt Joachim Walter die Frage: „Müssen die womöglich, weil im Grunde unvermeidlich, letztlich in Kauf genommen werden?“ Walter suggeriert, dass dies nicht gerechtfertigt sei — faktisch läuft es im Gefängnisbetrieb aber genau darauf hinaus. Der Konsens unter Vollzugsbeamten und Richtern, sofern diese nicht mit überdurchschnittlicher Sensibilität ausgestattet sind, geht dahin, „dass Jugendstrafvollzug am einfachsten als Massenveranstaltung zu organisieren ist – mit schlichter Kasernenhofpädagogik — und auf diese Weise auch am billigsten“.
Angesichts knapper Staatskassen, wachsender Armutsbetroffenheit und damit auch Kriminalität in Deutschland stimmt vor allem dieser finanzielle Aspekt der Gefangenen-Unterbringung besorgt. Wird sich der Trend zur Massenmenschenhaltung mit abnehmender Betreuungsdichte fortsetzen?
Der Fall von Siegburg zeigt, „welche bitteren Folgen es im schlimmsten Fall haben kann, wenn der wesentliche Programminhalt darin besteht, die jungen Männer einfach wegzuschließen und dann sich selbst zu überlassen. Diese nachgerade einfältige Methode, die dem bloßen Wegsperren fast schon magische Kräfte zuschreibt, kann ja nicht funktionieren“.