Die Lebensschule

Gemeinsame Projekte stehen und fallen mit der Bereitschaft des Einzelnen, sich mit den eigenen Schwächen auseinanderzusetzen.

Isoliert gehen wir unter. Nur gemeinsam kommen wir weiter. So lautet ein geflügeltes Wort. Doch damit wir es zusammen schaffen und individuelle Befindlichkeiten nicht das großartigste Projekt zum Scheitern bringen, muss der Einzelne bereit sein, zunächst an sich selbst zu arbeiten. Wir können nicht mit anderen teilen, was wir nicht haben. Um also das Beste von uns geben zu können, müssen wir gewissermaßen durch unsere schwachen Seiten hindurchgehen. So erfahren wir, dass der eigentliche Motor unserer Entwicklung nicht unsere Stärke ist, sondern die mutige Anerkennung unserer Schwächen.

Wir lernen nie aus. Zeit unseres Lebens ist unser Gehirn dazu in der Lage, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Auch wenn wir bisweilen vergesslich werden: Bis zum Schluss ist unser Gehirn für uns da. Rund 100 Milliarden Nervenzellen, die durch mehr als eine Trillion Synapsen miteinander verbunden sind, arbeiten ein Leben lang für uns, wenn sie nicht durch Krankheit beschädigt werden.

5,8 Millionen Kilometer messen unsere Nervenbahnen insgesamt. 145-mal könnte die Erde mit ihnen umspannt werden (1). Doch so weit müssen wir nicht gehen, um unsere Neuronen auf Trab zu halten. Es reicht, wenn wir in kleinen Schritten vorangehen und darauf achten, nicht auf den spiegelglatten Benutzeroberflächen auszurutschen, die uns eine Welt reflektieren, mit der die Realität nicht unbedingt etwas zu tun hat.

Auf den ersten Blick sehen wir Krieg. Überall auf der Welt wird gezündelt. Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Mikroben, Mensch gegen die Natur, Mensch gegen sich selbst. Als real erscheint uns, was uns mit Pauken und Trompeten eingetrichtert wird. Betäubt vom Waffengerassel und geblendet von Scheinlösungen lassen wir die ungeheuerlichsten Informationen in unsere Gehirne Einzug halten und machen sie zu unseren eigenen Gedanken.

Den zweiten Blick wagen

Ein Organ, das zu wenig benutzt wird, verkümmert. Zähne, die das weiche Fastfood nicht mehr kauen müssen, verfaulen, Hände, die nicht mehr zupacken, werden unbeweglich, und Füße, die sich nicht auf den Weg machen, träge. Entsprechend ähnelt auch ein zu wenig benutztes Gehirn zunehmend dem Brei, der ihm verabreicht wird. Wohin diese Entwicklung führt, sehen wir, wenn wir die Linie umdrehen, auf der unsere Evolution so akkurat angeordnet zu sein scheint: Wir beugen uns immer mehr, bis wir schließlich zum Tier werden.

Tiere werden eingesperrt, bekommen einen Maulkorb angelegt und das Markenzeichen ihres Besitzers eingebrannt. Menschen, die sich ihres Menschseins bewusst sind, lassen das nicht zu. Sie haben Besseres zu tun, als zu gehorchen, sich Gassi führen zu lassen und auf Leckerli zu hoffen. Sie denken und handeln eigenständig. In der ganzen Welt haben sie Initiativen und Projekte gebildet, in denen sie mit anderen zusammenkommen, die den Sinn des Begriffes Selbstverantwortung erkannt haben.

Lebendige Kooperation

Solidarische Landwirtschaften sind entstanden (2), verschiedenartige Lebensgemeinschaften, Reparaturcafés, Schenkoasen, Food-Coops, Initiativen zum Humusaufbau oder Lernorte zur Potenzialentfaltung für Kinder und Erwachsene. Im Jahr 2014 wurde in Köln von einer Gruppe von Künstlern und Umweltaktivisten aus Kolumbien, Deutschland und Frankreich ein agro-kulturelles Projekt namens Minkalab gegründet, das sich der Erschaffung von Räumen widmet, in denen lokale indigene Gruppen und Kleinbauern gemeinsam nachhaltige Praktiken entwickeln, um nicht nur das Land wiederzubeleben, sondern die Kultur zurückzugewinnen, die Gemeinschaft zu stärken und Isolation und Marginalisierung entgegenzuwirken (3).

Das Minkalab in den Bergen Kolumbiens ist eine Kombination aus Bio-Bauernhof, Naturschutzgebiet und Begegnungsstätte und versteht sich als Plattform für die Stärkung von Minderheiten und die Förderung von interkulturellem Austausch im Sinne aller Lebewesen. „Minka“ ist Quechua, eine Sprache, die im Andenraum Südamerikas gesprochen wird, und bedeutet Zusammenarbeit. Denn nur die Kooperation kann uns in unserer Entwicklung weiterbringen. Isoliert sind wir machtlos.

Jeden Monat werden Workshops veranstaltet, Bauprojekte, Werkstätten, Diskussionen zu den Themen Umwelt, Kunst, Technologie, Tradition und ganzheitliche Medizin. Jung und Alt kommen zusammen, Landwirte und Künstler, Einheimische und Ausländer, um die Probleme des jeweils anderen zu verstehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Bei den Treffen geht es neben dem Austausch über den Verlust der biologischen Vielfalt, die Folgen der globalisierten Wirtschaft und die Auswirkungen der Monokultur und des Mono-Denkens um konkrete Initiativen wie biologisches Bauen, Selbstversorgung, natürliche Architektur, indigene Rituale, die Einrichtung einer Saatgutbank oder die Entwicklung von Programmen zur Förderung der Verwendung einheimischer Heilpflanzen zur Vorbeugung und Heilung von Krankheiten. Alle Projekte sind darauf ausgerichtet, mit bestehenden sozialen Einrichtungen zusammenzuarbeiten und die Entwicklung eines aktiven und autonomen Netzwerks zu fördern, in dessen Zentrum der Erhalt der Gesundheit, der Schutz der Umwelt und die Entwicklung einer friedlichen Gemeinschaft steht.

Gemeinsam heilsam

Es war eine Rubikon-Leserin, die mich auf die Existenz der Minkalabs aufmerksam machte. Wie beflügelt schaute ich mir die Ausschnitte aus den verschiedenen Workshops an.

Ich sah Menschen, die, während auf den Mattscheiben die globale Verdummung ihrem Höhepunkt entgegengetrieben wird, ihre Wut, ihre Angst und ihre vermeintliche Ohnmacht in etwas Kreatives verwandeln. Sie erinnern sich daran, wozu Menschen in der Lage sind, die nicht irgendwelchen äußeren Mächten das Steuer ihres Lebens überlassen, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Sie bieten anderen Menschen das an, was sie am besten können: gärtnern, kochen, nähen, tanzen, singen, Hütten bauen, Instrumente und Werkzeuge herstellen, gewaltfrei kommunizieren oder anderen verzeihen. Die Angebote gehen von Yoga zu Permakultur, von Familienaufstellungen zur Ahnenkunde, von der Erinnerung an alte Traditionen zu der Kunst, Emotionen auszudrücken. Da ich selbst Lehrerin bin, frage ich mich, was ich denn anzubieten hätte, wenn vor meiner Tür ein Minkalab entstünde. Was würde ich mit anderen Menschen in dieser Zeit des Übergangs teilen wollen?

Als Erstes kommt mir in den Sinn, dass ich keine Lehrerin mehr sein will. Ich will keine Lektionen mehr erteilen. Ich will keine festgelegten Rollen, keine Hierarchien, keine Benotungen, keine Kontrollen, keine von oben gegebenen Ratschläge. Ich will nicht, dass auf der einen Seite die stehen, die wissen, und auf der anderen die, die nicht wissen. Ich will Wissen teilen, es gemeinsam mit anderen erfahren und weiterentwickeln. Ich will anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen, mit dem, was ich weiß, und mit dem, was ich nicht weiß, dem, worin ich stark, und dem, worin ich schwach bin. Ich will ein ganzer Mensch sein.

In der Schule des Lebens, wie ich sie mir vorstelle, gibt es keine Konsumenten von Lernprogrammen. Hier ist sich jeder seine Besonderheit bewusst und kennt seine ganz eigenen Talente und Gaben. Jeder ist kreativ und für die Lerninhalte verantwortlich, die er aktiv mitgestaltet. Die Lauten bekommen nicht mehr Platz als die Leisen, und die Rationalen zählen nicht mehr als die Emotionalen. Auf jeden Einzelnen kommt es an. Jede Stimme zählt, auch wenn sie vielleicht zunächst schräg klingt.

Die Stärke hinter der Schwäche

Es ist die Vielfalt, von der das Gelingen eines Projektes abhängt. Nur allzu oft haben wir beobachten können, wie die besten Ideen scheitern und die großartigsten Initiativen sich spalten, verdrehen und besetzen lassen, wenn sie uniform geworden sind. Muss nicht jede Art von Monokultur letztendlich verkümmern? Sollten nicht, wie in der ayurvedischen Ernährung, alle Geschmacksrichtungen zu gleichen Teilen vertreten sein, damit der Organismus im Gleichgewicht bleibt: die süßen und die sauren, die salzigen und die scharfen, die bitteren und die herben?

Das Gelingen eines gemeinsamen Projekts hängt von allen Zutaten ab, nicht nur von unserer Begeisterung und unserem Engagement und von dem, was wir mögen und besonders gut können. Es steht und fällt mit dem, wo wir empfindlich und verletzbar sind. Jeder von uns hat seine Befindlichkeiten.

Jeder von uns trägt unverheilte Verletzungen in sich. Jeder möchte seine Bedürfnisse und Wünsche erfüllt sehen und jeder fürchtet mehr oder weniger, nicht akzeptiert zu werden, wenn bestimmte Dinge ans Licht kommen.

Wenn wir unsere schwachen Seiten verdrängen, verhindert dies auch das Annehmen unserer Stärke und macht uns überheblich, rücksichtslos, gierig, eitel, eifersüchtig, stur, neidisch, herrschsüchtig, aggressiv. Auf dem Boden des Verdrängten reifen die faulen Früchte, die eine ganze Gemeinschaft verderben können, dann, wenn wir Verletzungen durch Verführungsmanöver, Manipulation, Druck oder Intrigen zu kompensieren versuchen.

Eine Lösung gibt es nur, wenn wir lernen, ehrlich zu uns selbst zu sein und unsere Verletzungen und Schwächen anerkennen wie eine Mutter ihr krankes Kind. Ja, ich fühle mich hier ganz klein. Ich habe Angst. Ich fühle mich einsam. Wer sich selbst annehmen und verzeihen kann und den Mut hat, auch das auszusprechen, was ihm nicht schmeichelt, der wird zu einem Leuchtturm für andere. Denn er schafft die Voraussetzung für wirkliche Begegnung und echte Zusammenarbeit.

Die Vögel singen noch

Das Wechselspiel zwischen Stärken und Schwächen wirkt wie die Pedale eines Fahrrades, mit dem alle vorankommen. So gelangen wir gemeinsam aus einer Welt, in der sich die Gegensätze ausschließen, in eine Welt, in der sie sich gewissermaßen umarmen. Wir sind stark und schwach, groß und klein, fähig zum Höchsten und zum Niedrigsten. Wir sind nicht das eine oder das andere, sondern das eine und das andere.

Die Überwindung der inneren Spaltung ist die anspruchsvolle Aufgabe, vor die die Lebensschule uns heute stellt. Nur über sie kann es uns gelingen, durch das Herzenstor in eine neue, friedliche Welt zu treten. Diese Welt ist schon da und wartet auf uns. Trotz aller Zerstörung, die wir angerichtet haben, singen noch die Vögel und blühen die Blumen. Können wir das noch wahrnehmen? Sehen wir die Schönheit noch, die trotz allem da ist, die Klarheit, die Üppigkeit, die überspringende Lebensfreude?

Verbinden wir uns damit.

Es ist keine Zeit mehr, gegen die Zerstörung anzukämpfen. Jetzt geht es darum, keine Kraft mehr zu verlieren. Die heile Welt braucht unsere gesammelte Energie und all unser Engagement.

Stärken wir die Schönheit, die Freude, die Zuversicht! Lassen wir aus dem Humus dessen, was wir nicht mehr brauchen, neue, kräftige Pflanzen erwachsen, und verbinden wir uns wie die Bäume im Wald, die über ein unendlich fein verzweigtes Wurzelwerk miteinander verbunden sind und sich gegenseitig schützen und nähren.

Machen wir uns bereit für ein neues Wissen und eine neue Art zu lernen. Öffnen wir uns. Halten wir nicht an dem alten Paradigma fest. Machen wir uns das Geschenk, in uns zu gehen und zu ergründen, wie wir wirklich leben wollen und was wir zu geben bereit sind. Wir sind so reich an Talenten! So viel wartet in uns darauf, zum Leben erweckt und (mit-)geteilt zu werden! Jetzt sofort kann es zum Vorschein kommen, wenn wir nur endlich den Weg freiräumen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.bvmed.de/de/technologien/gehirn-nervensystem/wunder-im-kopf-die-leistungen-des-gehirns
(2) https://www.solidarische-landwirtschaft.org/startseite
(3) https://www.minkalab.org/