Die letzte Barriere

Es ist eine fiktionale Zukunftsvision, die schon morgen beginnen kann: Digitale Identitäten ersetzen den Menschen.

Was, wenn der Alltag plötzlich nicht mehr funktioniert, weil man kein Smartphone besitzt? Wenn man weder Geld abheben noch einen Arzttermin buchen kann, weil man keine digitale ID hat? Diese Geschichte ist Fiktion — noch. Sie zeigt, wie leicht ältere Menschen, freie Journalisten und ganze Gesellschaftsschichten im Netz einer technokratischen Zukunft zerrieben werden könnten, die sich selbst als „fortschrittlich“ verkauft.

Der Anfang vom Ende der Normalität

Otto ist 72, Rentner, gelernter Schlosser. Er lebt bescheiden, kennt seine Nachbarn, holt morgens Brötchen, liest Zeitung und zahlt seine Rechnungen über das Onlinebanking seiner Sparkasse. Seine Nachbarin Meta, 82, hat ein altes Tablet, mit dem sie ab und zu mit den Enkeln telefoniert. Beide sind zufrieden, bis sich im Herbst 2028 alles ändert.

Eines Morgens kommt ein Brief von der Bank. Otto solle „aus Sicherheitsgründen“ seine neue digitale Identität verknüpfen, um „gesetzliche Anforderungen der EU“ zu erfüllen. Bis dahin würden „einige Funktionen eingeschränkt“. Er versteht nur Bahnhof, irgendetwas mit „Wallet“, „Verifizierung“ und „KYC“.

Meta erlebt das Gleiche beim Hausarzt: Rezepte werden ab sofort nur noch digital ausgestellt, über ein Onlineportal, das eine digitale ID-Freigabe verlangt. „Das ist jetzt Standard“, sagt die Arzthelferin, als Meta mit Tränen in den Augen erklärt, dass sie weder ein Smartphone noch jemanden hat, der ihr helfen kann.

Die schöne neue Welt

In den Nachrichten klingt alles harmlos. Politiker sprechen von „Sicherheit“, „Effizienz“ und „Bürgernähe“. Die EU hat gerade die eIDAS-Verordnung reformiert. Bürger sollen künftig eine digitale Identitäts-Wallet besitzen, mit der sie sich europaweit ausweisen können: beim Arzt, bei Banken, im Rathaus, im Internet. „Endlich weniger Bürokratie“, jubelt ein Nachrichtensprecher.

„Mehr Schutz vor Betrug“, loben Wirtschaftsvertreter. In der Praxis bedeutet das: Wer keine Wallet hat, verliert Schritt für Schritt den Zugang zu grundlegenden Dingen. Was als freiwillig begann, wird stillschweigend zur Voraussetzung, genau wie damals das Onlinebanking, das Bargeld verdrängte, weil Filialen schlossen.

Otto geht zur Bank, um das Problem zu klären. Der Schalter ist geschlossen. Nur noch „Termine nach Onlinebuchung“. Er ruft die Hotline an, eine synthetische Stimme erklärt, dass er sich „aus Sicherheitsgründen“ digital authentifizieren muss.

Meta versucht, telefonisch beim Arzt einen Termin zu bekommen. Eine Computerstimme sagt: „Bitte loggen Sie sich mit Ihrer Digital-ID ein.“ Sie steht da, das Telefon in der Hand, und spürt zum ersten Mal in ihrem Leben: Sie ist ausgeschlossen. Nicht, weil sie etwas falsch gemacht hat, sondern, weil sie nicht in die neue, „effiziente“ Welt passt.

Die Logik der Bequemlichkeit

Alles begann mit den besten Absichten. Die Regierung versprach einfachere Behördengänge, weniger Papier, mehr Sicherheit. Doch hinter dem schönen Schein steckt ein gefährlicher Mechanismus: Wer „Sicherheit“ ruft, bekommt Zustimmung. Wer „Effizienz“ sagt, erspart sich Kritik. Und wer Digitalisierung als Fortschritt verkauft, muss nicht erklären, wer auf der Strecke bleibt.

Das digitale Identitätssystem wird zum Filter: Nur wer sich verifizieren lässt, gilt als vertrauenswürdig. Nur wer digital existiert, darf teilnehmen. Der Rest verschwindet im Schatten der Datenbanken.

Im Netz wird Ottos Profil abgewertet. Plattformen, die Inhalte sortieren, bevorzugen „verifizierte“ Konten. Seine Kommentare erscheinen kaum noch. Die Nachbarschaftsgruppe, in der er früher mitdiskutierte, ist jetzt „ID-pflichtig“. Selbst die Onlinezeitung, die er liest, blendet Pop-ups ein: „Verifizieren Sie Ihre Identität für ein sicheres Nutzererlebnis.“

Meta versucht, ihre Medikamente in der Apotheke zu bekommen. „Ohne eID keine Freigabe durch das System“, sagt die Mitarbeiterin. „Aber ich habe doch mein Rezept!“ — „Tut mir leid, das läuft jetzt alles digital.“ Zwei Wochen später liegt Meta im Krankenhaus. Kreislaufversagen. Die Diagnose: nicht lebensbedrohlich. Die Ursache: Bürokratie.

Die neue Welt wird in Hochglanz verkauft: Wer sich digital identifiziert, kann alles „schneller und sicherer“ erledigen. Doch das System funktioniert nur, wenn es alle benutzen. Also wird Druck aufgebaut, nicht offen, sondern durch schleichende Sanktionen: weniger Zugriff, weniger Komfort, weniger Rechte.

Was aussieht wie Fortschritt, ist in Wahrheit ein System der stillen Ausgrenzung. Nicht der Staat allein, sondern Banken, Versicherer, Plattformen und Gesundheitsdienste kontrollieren, wer dazugehört. Ein Zusammenspiel aus Technik, Verwaltung und Industrie, mit einem gemeinsamen Nenner: Daten.

Auch die Medienwelt verändert sich. Freie Journalistinnen und Blogger können ihre Arbeit kaum noch finanzieren. Zahlungsdienste verlangen Identitätsprüfungen; Spenden werden blockiert, wenn die Empfänger „nicht ausreichend verifiziert“ sind. Alternative Nachrichtenportale werden algorithmisch herabgestuft, weil sie „nicht vertrauenswürdig“ seien. Whistleblower, die Missstände aufdecken wollen, verlieren den Schutz der Anonymität, jede Kommunikation, jeder Upload, jede Zahlung ist einer Person zuordenbar. So versiegt der Informationsfluss, noch bevor Zensur sichtbar wird.

Der neue Zensor trägt keinen Stempel, keine Uniform: Er ist der Code.

Der Widerstand

Nicht alle akzeptieren das. Eine kleine Gruppe von Aktivisten, IT-Spezialisten, Anwälten, Journalisten und ein paar mutigen Senioren organisiert sich. Sie helfen Menschen wie Otto und Meta, die vom System ausgeschlossen wurden. Sie drucken Formulare, bieten analoge Beratung an, fechten Sperrungen vor Gericht an. Ein Anwalt aus Berlin zieht vor das Verwaltungsgericht und argumentiert: „Das Grundrecht auf Teilhabe darf nicht an eine technische Bedingung geknüpft werden.“

Ein IT-Spezialist programmiert eine offene Plattform, auf der Bürger anonym Anträge stellen können. Ein kleines Netzwerk freier Medien berichtet über die Fälle, die der Mainstream ignoriert. Es sind wenige, aber sie halten die Idee einer freien Gesellschaft am Leben. Doch sie stoßen auf Mauern:

Die Rechtsmauer: Verfahren dauern Monate, während Betroffene kein Geld und keine Medikamente bekommen.
Die Datenmauer: Die Systeme sind proprietär, ihre Algorithmen geheim. Niemand kann nachvollziehen, warum jemand gesperrt wurde.
Die Wahrnehmungsmauer: Die Mehrheit der Bevölkerung bemerkt das Problem erst, wenn sie selbst betroffen ist.
Die Ressourcenmauer: Aktivisten haben kaum Mittel, die Gegenseite Billionen an Infrastruktur.

Die Digitalisierung, die einst als Befreiung begann, ist zu einem Verwaltungsapparat geworden, der niemandem mehr gehört, außer denen, die ihn betreiben. Trotz allem überschlagen sich die Schlagzeilen: „Deutschland wird digital!“, „EU-Wallet erfolgreich eingeführt!“, „Digitale Identität spart fünf Millionen Stunden Verwaltung!“ Niemand fragt: Wessen Zeit wurde gespart? Wessen Freiheit hat es gekostet?

Denn solange Otto und Meta keine Pressekonferenz geben, gilt das Problem als gelöst. Solange sie still leiden, bleibt die Statistik sauber. So funktioniert der technologische Zynismus unserer Zeit: Die Opfer sind real, aber unsichtbar.

Otto stirbt im Jahr darauf. Nicht an Krankheit, sondern an Erschöpfung. Er hatte keine Kraft mehr, die Briefe zu verstehen, die Mahnungen, die Sperrungen. Seine Tochter fand ihn am Küchentisch, neben einem Brief der Rentenversicherung: „Ihre Zahlung konnte aufgrund fehlender Verifikation nicht ausgeführt werden.“

Meta überlebt, mithilfe der Aktivisten. Sie erzählt ihre Geschichte in einer kleinen, kaum bekannten Onlinesendung. „Früher“, sagt sie, „haben wir immer gesagt: Wir haben doch nichts zu verbergen. Heute wünschte ich, ich hätte etwas zu verstecken gehabt, wenigstens ein bisschen Würde.“

Die Europäische Union hat nie ein „Social-Credit-System“ gefordert, und doch entsteht es durch die Hintertür. Nicht als politische Doktrin, sondern als ökonomische Bequemlichkeit. Wenn jede Zahlung, jeder Kommentar, jede Gesundheitsakte mit einer ID verknüpft ist, braucht niemand mehr eine offene Zensur. Das System sanktioniert automatisch. Es erkennt, wer „nicht konform“ ist, wer zu oft widerspricht, wer verdächtig wenig digitale Aktivitäten zeigt. So wird Demokratie durch Datenmanagement ersetzt.

Wofür das alles?

Wofür also dieser ganze Aufwand? Für fünf Minuten weniger Wartezeit auf dem Amt? Für den Komfort, den Personalausweis nicht mehr aus der Tasche ziehen zu müssen? Für den Stolz, „digital vorne“ zu sein? Wenn der Preis dafür ist, dass Millionen Menschen von Grundrechten abgeschnitten werden, dass Journalismus verarmt, dass Bürger unsichtbar werden, dann ist dieser Fortschritt eine Farce.

Der Mensch wurde nicht geschaffen, um eine App zu bedienen. Er wurde geschaffen, um frei zu handeln, zu denken, zu zweifeln. Und genau das steht jetzt auf dem Spiel.

Was wir jetzt tun können

  1. Gesetzlich sichern: Niemand darf wegen fehlender digitaler ID den Zugang zu Bank, Arzt, Rente oder öffentlicher Versorgung verlieren.
  2. Transparenzpflichten: Jede Sperrung, jedes De-Ranking, jede Einschränkung muss dokumentiert und überprüfbar sein.
  3. Rechtsschutzfonds: Aufbau unabhängiger Rechtsfonds für Betroffene.
  4. Digitale Bildung, analog gedacht: Menschen müssen befähigt werden, die Kontrolle über Technik zu behalten, nicht umgekehrt.
  5. Freie Medien stärken: Ohne kritische Presse gibt es keine Kontrolle über diese Prozesse.

Vielleicht werden wir in zwanzig Jahren zurückblicken und sagen: „Wir haben damals alles gewusst, aber wir haben nichts getan.“ Oder wir sagen: „Wir haben verstanden, dass Bequemlichkeit keine Freiheit ersetzt.“

Die Zukunft liegt nicht auf den Servern von Brüssel oder Palo Alto. Sie liegt in der Frage, ob wir den Mut haben, „Nein“ zu sagen, wenn man uns ein System verkauft, das uns in Wahrheit enteignet.

Otto und Meta hatten keinen Mut mehr. Wir haben ihn noch. Noch.