Die letzte rote Ziffer

In den letzten Jahren griff eine kaum fassbare Beklemmung in unseren Alltag ein.

Der Autor hat während der Coronajahre zwei existenzialistisch-poetische Bücher vorgelegt: „Minima Mortalia“ und „Die Corona-Litanei“. Die beiden Werke haben über das Vorgefallene mehr ausgesagt als mancher Sachtext. Das Geschehen ist weitergegangen und ebenso Werner Koehnes Kampf um Sprache und gegen das Verstummen. Daraus bringen wir eine kurze exemplarische Erzählung in zwei Teilen — zugleich sind es Ausschnitte aus einem beabsichtigten Roman.

I.

In letzter Zeit wachte P schon früh auf — aufgeschreckt aus Träumen, die ein Gefühl der Beklemmung zurückließen. Es schien, als ob sich etwas endgültig verschoben hätte, eine ganze Welt, und die Träume bildeten davon ein diffuses Abbild. Umso deutlicher bemächtigten sich seine Vorstellungen mit der Wucht von Albträumen. Es waren in ihm aufsteigende Erfahrungen vom Vortag, eigentlich harmlose Vorkommnisse, aber die enge Schlucht, durch die er aus dem Schlaf ins Erwachen stieß, verlieh ihnen das Gewicht des vollkommen Ausweglosen. Ein Brief vom Finanzamt hatte ihm die willkürliche Festsetzung der Steuer angedroht, wenn er nicht umgehend seine Erklärung abgebe. Ein ausgebliebener Rückruf war nur zu begreifen als eine Absprache aller Telefon-Teilnehmer, die am anderen Ende der Leitung schon längst eine Realität ohne ihn fertigten. Der braune Fleck auf seiner Schulter war, wie er im Spiegel beunruhigt bemerkte, größer und fransiger geworden.

Daraus gab es kein Entrinnen. Natürlich wusste der im plötzlichen Erwachen Geübte, dass die Engführungen der Nacht bald vorübergingen — aber das half in diesen Augenblicken gar nichts. Wie man überhaupt viel wusste, aber wenig daraus ableiten konnte — einem das gar nichts half.

Die letzte rote Ziffer der Weckuhr schlug um auf sieben. Die erste Ziffer war drei. Tiefste Nacht. Und alles ging weiter.

Er wälzte sich ein paar Mal hin und her, um all das abzuschütteln. Dann sah er auf die neben ihm liegende Frau. Sie schlief auf dem Rücken, den Mund ein wenig geöffnet. Wecken mochte er sie nicht, eher schon kurz mit der Hand an der Schulter rühren, wonach sie sich erfahrungsgemäß nach rechts rollen würde, mit einem leichten Seufzer, vielleicht auch einer Gegenberührung. Aber auch das hätte ihm die Verheerung seines Zustands nicht auflösen können.

Es ging nun darum, wieder einzuschlafen. Am ehesten war das möglich durch das Eingeständnis der vollkommenen Ohnmacht, des Sichkleinmachens bis in Bilder und Vorstellungen hinein, die er niemandem mitteilen konnte. Das hieß einige davon schon. Er sah sich unter einer Masse erdrückt, mit dem Kopf aufschlagend auf nasses Holz, auf dem Rücken, den Kopf weit nach hinten verdreht an einer Böschung liegen, im Hintergrund das monotone Gerausche einer Autobahn, oder eine scharfe Stimme ließ ihn erstarren.

Überhaupt waren die Einschlafbemühungen am erfolgreichsten, die das Maß der Albträume, hinter denen er zurecht die Wirklichkeit seines Lebens vermutete, durch ein Körper-Maß ersetzten. Das war nicht leicht, denn alles, was die Nacht ihm während und nach den Alpträumen aufdrängte, waren körperlose hektische Zustände, Überdrehungen. Er geriet dann ganz außer sich, mutierte zum beschleunigten Puls oder zur Maschine, seine Brust machte sich von ihm unabhängig, fragmentierte. Dazu die Reste des Traums: irgendwelche Betonflächen oder vergebliche Fluchtbewegungen. Davon ließ sich nur fortkommen, wenn er die ungreifbare Gewalt der Traumbilder durch Vorstellungen des Schmerzes, der Erniedrigung, der sinnlich ausgetragenen Macht ersetzte.

Es waren Gedanken von Feuchtigkeit, von regennassen Straßen und schweren Körpern, aus denen sich die Gewichte des Lebens, der Macht und Ohnmacht, wiedergewinnen ließen. Jenseits davon gab es ja ohnehin nichts.

Eine andere Wiedereinschlafstrategie: das Gleiten über die Konturen des Bildes, das an der Seitenwand hing: Es war eine auf vierzig mal sechzig Zentimeter vergrößerte Fotografie einer bewaldeten Winterlandschaft. Im Vordergrund ein Stacheldrahtzaun, stellenweise umwachsen von Hecken und Ginster, im Mittelgrund eine abschüssige Wiese mit einigen kahlen Obstbäumen und im Hintergrund der gebogene Saum eines Fichtenwaldes. P hatte das Foto gemacht, als er vor vielen Jahren einmal mit den Langlaufschiern in diesem Gebiet unterwegs war. Es war der Augenblick gewesen, kurz bevor ein heftiges Schneegewitter einsetzte, das schlimmste, das er je erlebt hatte. Die Farbe der Luft war in einem Schwefel- Gelb-Grau gehalten, das sah man auch jetzt noch. Es hob sich leicht und bedrohlich von dem helleren Schnee ab und dem dunkelgrünen Wald. Die Kamera hatte den Zustand aus Licht, Raum und Zeit fixiert. Unwiderbringlich. Sooft er das Bild sah, glaubte er, dass es für eine so plötzlich durchbrechende Sinnlichkeit keine Worte gab. Sie erinnerte ihn an einen Film, in dem der Himmel über Golgatha direkt nach dem Tod des Jesus gezeigt wurde. „Und der Vorhang im Tempel zerriss“ — Was war in der Bibel wohl damit gemeint?

Natürlich sah man in der Nacht wenig von diesen Anmutungen, aber es genügten manchmal schon die Konturen zwischen Dunkel und Schneelicht, um ihn selbst zu beruhigen und sich aus einem Zustand beklemmender Ichheit in einen Körper zurückzubilden. Meistens aber half auch das nicht mehr. Die Frau atmete nun ruhiger. Ein wenig hatte sie sich nach rechts gedreht.

Er stand auf und ging in die Küche. Der Kühlschrank sirrte, bevor er wieder einmal stotternd seinen Gang einstellte. Austrudeln in eine Ruhe wie nach einem Lauf. Das war mal eine Leidenschaft von P gewesen, aber seitdem er gesehen hatte, wie Mitvierziger verbissen ihre Runden drehten, war auch dieses Stück Welt verloren.

II.

Ein Zischeln, Schwitzen, eine Wand aus Halmen und Disteln fällt in- und aufeinander. Ein Schweißtropfen an seinem Oberlippenrand. In Augenhöhe des Kindes ein Blitzgewitter aus Sonnenstrahlen. Wo die Erde riecht, ist sie gelockert und ein wenig feucht. Das Sensenblatt des Vaters kreist. Unter dem Roggen-Dickicht, das niedergemäht ist, entstehen plötzlich unfassbar große stoppelige Räume. Eine Maus hetzt davon und verschwindet in einem Erdloch. Von ganz unten aus dem Dorf dringen Hämmergeräusche, aus der Schmiede — und ein Mädchen singt: I love you baby, ich liebe dich, du bist am Tage der Sonnenschein für mich. Auf seinem Kopf hat der Vater ein vierfach geknotetes Taschentuch gespannt. Ganz durchnässt schon von Schweiß, sein Gesicht ist wie immer bei der Arbeit gerötet.

Wo bleibt die Mama? — Wie sollte in diesen Augenblicken etwas zu Ende gehen? Warten ist ein Fallen von einem Augenblick in den anderen.

Da kommt sie endlich um die Ecke den Berg hinauf, das Kind sieht sie, wendet sich ihr zu, seine Lippen, seine Zungennot. Warum dauert es so lange, bis sie endlich auf dem Feld eintrifft und den Durst löscht? Diese Straße hinauf zieht sich und zieht sich, die Hitze schneidet Wellenblätter in die Luft über den weich werdenden Teer. So kommt sie ja nie an, so verdunstet ja alles. Jetzt ist sie auf Höhe des Kartoffelackers vom Nachbarn, die Wiese, die leicht angedeutete Kurve, in der ein Dreieck aus Brennnessel wuchert, in die das Kind einmal hineingefallen ist und seine Welt brannte. Doch dann ist die Mutter da mit der Tasche, mit der Flasche voll kaltem Himbeersaft. Sie hält ihre Hände wach an Stoppeln und Gras. Sie öffnet die Tasche. Für den Vater gibt es Lindes-Kaffee, für alle andern kalten Himbeersaft. Der Bruder sitzt quengelnd auf dem Boden. Alle haben Durst. Der Vater schwitzt so sehr, dass die Nässe nur so an ihm herunterrinnt und dunkle klebrige Flecken auf dem Hemd hinterlässt. Der Tod ist ganz weit weg — und doch ist er da, ein Nichtsein, in der jede Absicht und Erinnerung, in diesem Augenblick auch jede Zeit verdunstet. Die Hände der Mutter, das Warme das sie sind, ihr Kopftuch, ihre Nackenmulde, die schon damals tief war und ein wenig porig.

Jetzt erst hört der Vater auf mit dem Mähen. Er legt die Sense abseits der Decke, die die Mutter ausgebreitet hat, und kommt sich die Stirn abwischend zurück. Das Kind sieht nach oben, wo die Sonne sein soll. Die Sonne hat es auf Zeichen-Papier schon oft gemalt: einen Drittelkreis oben in der Ecke mit einem lachenden Mund und zehn gelben Strichen, die in alle Richtungen nach unten gehen, aber, wie das Kind jetzt nach oben schaut, ist da nur ein grelles Etwas, das sich in purpurne Punkte und Kreise verwandelt, wenn es die Augen zum Schutz zudrückt. Fester zudrücken bewirkt, dass sich das Purpurne verstärkt und die Bewegungen der Kreise und Punkte. Zuletzt bei noch stärkerem Druck geht alles in ein fleckiges Gelb über und da werden die Augen wieder aufgemacht. Vater und Mutter sind sich jetzt einander zugewandt, etwas Schweres, Müdes liegt zwischen ihnen. Wie abends, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kommt und die Mutter ihm die Tasche abnimmt, wortlos. Der Bruder quengelt noch immer, er will wohl als erster etwas trinken — oder zurück nach Hause zu seinem Stabilbaukasten, den hat er geschenkt bekommen, als er die lange Zeit krank war. Nun öffnet die Mutter die Flasche und reicht sie dem jammernden Kind. Dann ihm. Trinken bis auf den Grund.