Die Ohnmacht der Sprache
Jetzt darüber zu streiten, ob man die Geschehnisse in Gaza einen Genozid nennen kann oder nicht, ist unsinnig, denn Begriffe ändern rein gar nichts.
Sprache schafft Realität. Dieser Satz ist heute kaum mehr These, sondern vielmehr Allgemeinplatz, der nicht hinterfragt wird. Sprache soll sensibilisieren, repräsentieren und eine Art linguistische Gerechtigkeit herstellen. Ob diese sich jedoch in der Wirklichkeit niederschlägt, ist gar nicht so klar. Politische Konflikte drehen sich mittlerweile oft mehr darum, wie das, was passiert, zu benennen ist, als darum, wie man tatsächlich damit umgeht. So war und ist es bei der Migrationsdebatte sowie der um Corona oder den Ukrainekrieg und aktuell besonders brisant bei der Frage danach, wie man das israelische Vorgehen im Gazastreifen bezeichnet. Doch in harten politischen Fragen gerät Sprachphilosophie an ihre Grenzen.
Ja, was trifft denn nun zu? Genozid oder eher nicht? Darf man das überhaupt ausdiskutieren? Ist es noch statthaft, skeptisch zu bleiben, und die Informationen, die man erhält, auf beidseitige — israelische wie palästinensische — Propaganda abzuklopfen? Oder ist diese Prüfung an sich schon ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Und macht es für jene, die von der Militärgewalt betroffen sind, überhaupt einen Unterschied, wie wir im fernen Deutschland die Ereignisse einordnen?
Die Hartnäckigkeit, mit der diese Diskussion hierzulande geführt wird, hilft nicht nur nicht weiter, sie wird pietätlos geführt, weil sie das Leid von Menschen instrumentalisiert, um abermals die eigene Egozentrik zu betonen.
Dass Begriffsfestlegungen die Weltsicht ändern könnten, ist außerdem ein Irrtum des 20. Jahrhunderts, an den noch viele glauben.
Nur noch Positionsfragen
Deutschland ist ohne große Leitthemen, die das Land in zwei unversöhnliche Lager spalten, gar nicht mehr vorstellbar. Vor zehn Jahren nahm das Unheil seinen Lauf: Die Flüchtlingskrise, die Grenzöffnung der damaligen Bundeskanzlerin, ließ zwei Positionen entstehen, die recht schnell keinen Draht mehr zueinander fanden. Die einen wollten Willkommenskultur, wo immer es geht, und damit Menschen aufnehmen, so viel als möglich oder auch noch einige mehr — die anderen lehnten das strikt ab. Nur die wenigsten führten ihre Positionierung argumentativ aus, schnell verkam der „Diskurs” zur Haltungsfrage und wurde ad hominem geführt.
Danach folgte das Virus und eine Pandemie der Grundrechtseinschränkung — zwei Lager, die sich bis aufs Blut bekriegten, formierten sich. Sicher haben die einen argumentativ mehr aufzubieten gehabt als die anderen, dennoch wurde diese Positionsfrage medial so aufgepeitscht, dass man erstmals ausgiebig von der Spaltung des Landes sprach. Während der Flüchtlingskrise und den Jahren danach vermied man diese Offenheit, der Mainstream redete sich ein: „Wir sind mehr!” — und deutete damit die Gegenposition zu einer Randerscheinung um, ja, zu einer Schrulle von Wenigen, die nicht weiter beachtenswert sei. Während der pandemischen Jahre war das nicht mehr möglich. Spaltung: Seither ist dies das Thema. Der Ukrainekrieg hat das nochmals gezeigt. Es wurden tiefe Gräben gezogen, gegenüberstanden — und stehen — sich diejenigen, die eine weitere Eskalation zugunsten der Ukraine fordern, und solche, die die Ukraine nicht instrumentalisieren möchten, um der NATO einen Dienst zu erweisen und Russland weiter in die Enge zu treiben. Mit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 etablierte sich noch so ein polarisierendes Thema, mit dem die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr gelassen umgehen konnte — und zwar von Anfang an nicht und nicht erst, als die israelische Armee dazu überging, einen Völkermord zu begehen.
Oder ist es gar kein Völkermord?
Wer die Diskussionen in den Netzwerken betrachtet, stellt schnell fest: Das sind gar keine Diskussionen. Es sind parallel geführte Monologe, die dann und wann, wenn sie doch das Gegenüber ansprechen, zu polemisch geführten, geradezu beleidigend gestalteten persönlichen Angriffen mutieren.
Denn die Vertreter beider Positionen, pro-israelische wie pro-palästinensische, wähnen sich im Vollbesitz der Wahrheit — dass sowohl die russische wie die westliche Seite, die Hamas wie die Regierung Benjamin Netanjahus Propaganda einsetzen, blenden die Kombattanten solcher Pseudodiskurse geflissentlich aus.
Sie streiten sich bis aufs Blut, denn sie tun es aus einem Gefühl moralischer Überlegenheit heraus. Und wer — um beim aktuellen Bezug zu bleiben — den Völkermord an den Palästinensern anzweifelt, wer also kundtut, dass er zwar Gewalt sieht, Unmenschlichkeit, Mord und Zerstörung, aber das Wort „Genozid” nicht gebrauchen will, wird ungefähr in die Nähe von Holocaustleugnern gerückt.
Das Jahrhundert der Begriffsdeutung ist vorbei
Fast hat man das Gefühl, dass man hier Wiedergutmachung für die Verfehlungen der deutschen Geschichte leisten möchte. Wenn schon ein Völkermord auf dieser Erde geschieht, will vielleicht mancher deutsche Enkel die Gelegenheit ergreifen und auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Das mag ehrenvoll sein, wirft aber die Frage auf: Nützt es den Palästinensern, wenn man das aus der deutschen Komfortzone heraus so hält? Denn zu guter Letzt streitet man um einen Begriff — mehr ist es nicht. Bevor dieser Gedanke vertieft werden soll, möchte der Verfasser dieser Zeilen etwas klarstellen: Er nimmt an, dass die Geschehnisse in Gaza und teils auch in der Westbank dazu geeignet sind, um als Genozid wahrgenommen zu werden — ihm stellt sich nur eine Frage: Was nützt es nun den Leidtragenden und was hat die Welt davon, wenn er das für sich so annimmt? Andere mögen sich dabei gefallen, „den vollen Durchblick” zu haben und das auch allen — gefragt oder ungefragt — mitzuteilen: Aber wem dient das außer ihnen selbst?
Denn wir sprechen von einem bloßen Begriff — und Begriffe sind, wir lernen das gerade, nicht die Welt. Man hat den Menschen im 20. Jahrhundert vermittelt, dass mit den Worten die Realität beginnt, die Linguistische Wende hat da ihre Arbeit geleistet. Aber ein Stück weit war die Arbeit dieser philosophischen Schule ein Schattengewächs aus dem Elfenbeinturm. Die Ausläufer jener Betrachtung, wonach Sprache die Welt erst erfassbar macht und die gewissermaßen mit Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus ihren Anfang nahm — „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.” —, lassen sich in der zeitgenössischen Sprachpolizei erkennen: Wer gendert, der bildet angeblich alle Geschlechter ab und denkt sie sich mit, zeigt sich also sensibel für Frauen und Diverse — dass er danach dennoch nach Hause fahren und seine Gattin ohrfeigen kann, blendet diese Fokussierung auf eine Welt, die angeblich erst durch Sprache Welt werden kann, bequemerweise aus.
Im 20. Jahrhundert mochte man sich eine Weile lang einreden können, dass die Bezeichnung für ein Phänomen den Umgang mit eben jenem verändert — dass es also einen Unterschied macht, ob man von einer brutalen militärischen Säuberungsaktion spricht oder von einem Völkermord. Aber die politischen Realitäten zeigen uns, dass die Begriffswahl irrelevant bleibt — auch ein Internationaler Strafgerichtshof kann daran kaum etwas ändern.
Auf derselben Grundlage fußt der Umgang mit dem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg”. Im Wahn, dass Sprache die Perzeption beeinflusst, etablierte man auch solche Begriffe, die den Krieg in verschiedene Kategorien oder Qualitäten einteilte. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg war als die niederträchtigste Version des Waffenganges angelegt. Dennoch hat dies das Verhalten von Staaten nicht verändert — denn sie unterliegen anderen Logiken, ihren jeweiligen nationalen Interessen; eine Reflexion darüber, wie man parallel dazu begrifflich dasteht, ist ihnen im Regelfall keine Überlegung wert. Außerdem werden Begriffe dauernd politisch missbraucht, denn der völkerrechtswidrige Angriffskrieg des einen ist die notwendige Präventivoperation des anderen.
Das 20. Jahrhundert hat uns nicht klüger gemacht
Namen sind Schall und Rauch — Johann Wolfgang von Goethe ahnte bereits, dass die Erscheinungen in der stofflich erfassbaren Welt und die intellektuelle Leistung, diese mit Begriffen, Zuschreibungen und Namen zu versehen, überhaupt keinen Zusammenhang zeitigen müssen. Das 20. Jahrhundert hat uns weismachen wollen, dass die Sprache der Schlüssel zur Weltveränderung sei — und schon Gottfried Wilhelm Leibniz beschäftigte sich im 17. Jahrhundert mit der Beliebigkeit der Sprache, überlegte in Richtung eines Idioms, das gewissermaßen eine mathematische Logik in sich trage.
Die Protagonisten des linguistic turn, die im 20. Jahrhundert auftraten, schlossen hier und da an diese Vorstellung an. Mit Sprachanalyse und Sprachkritik könnte man sensibilisieren und die Welt neu reflektieren. Aber letztlich sind wir den Menschen, die vor dieser Sprachsensibilisierung lebten, ziemlich ähnlich geblieben.
Wir leben in einer kannibalistischen Weltordnung, um einen Begriff Jean Zieglers zu bedienen — und befinden uns gerade in einem Zeitalter, in dem der Krieg wieder zur „bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln” umfunktioniert wird. Wir können zwar von Völkermorden sprechen, darüber streiten — aber die Mächtigen dieser Erde ändern deshalb ihren Kurs nicht und intervenieren plötzlich. Denn Macht lässt sich nicht von Worten beeindrucken. Sie setzt sich arrogant darüber hinweg und peitscht ihre eigene Sprachregelung durch, um sich schadlos zu halten. Ob sich Menschen in den Netzwerken wegen der richtigen Bezeichnung bekriegen, dient der Macht nur insofern, dass die einhergehende Spaltung nutzbares Land zur weiteren Ermächtigung darstellt: Teile und herrsche — diese Polarisierungsdiskurse, die die letzten Jahre das Gesellschaftsklima belasteten, sind attraktiv für die Machthaber, denn sie lassen eine Bevölkerung, die gefährlich werden könnten für die Eliten, nicht zu.
So betrachtet ist der Umgang mit den Geschehnissen in Gaza wenig pietätvoll. Für die Mächtigen hierzulande ist der hasserfüllte Streit zwischen zwei Gruppen, die beide von der Richtigkeit ihrer Weltsicht überzeugt sind, eine wertvolle Ressource, um demokratische Prozesse weiter abzutragen — wer soll denn noch zusammen auf die Straße gehen und protestieren wollen, wenn keiner mit keinem mehr spricht und falls doch, so nur beleidigend und ehrabschneidend? Und die zerstrittenen Parteien nutzen das Leid in der Ferne aus, um sich selbst als integer und der deutschen Geschichte verbunden darzustellen. Nur denen, die heute sterben — oder vielleicht doch erst morgen —, hilft diese Streitkultur keinen Schritt weiter. Wobei die finale Frage lautet: Was hilft wirklich? Im Grunde ein Austausch des politischen Führungspersonals der globalistischen Eliten hierzulande. Aber wie durchsetzen, wenn doch keiner mehr keinem traut und jeder jeden hasst?