Die Pflicht, Nein zu sagen

Die Warnungen wacher Geister vor den Gräueln des Krieges blieben im letzten Jahrhundert meist ungehört, können heute aber als Weckruf dienen.

Der Erste und Zweite Weltkrieg sind als Mahnung ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingraviert wie nichts anderes. Geschichte, Kunst, Philosophie — alles nach 1945 trägt das Grauen der beiden zerstörungswütigen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit sich, manchmal offen und klar, manchmal subtil und als stille Grundlage. In den letzten Jahren jedoch verblasst das „Nie wieder“ zusehends aus den Büchern, Galerien und Klassenzimmern. Es weicht einer neuen Eskalation — militärisch wie gesellschaftlich, die es notwendig macht, sich zu besinnen auf das, was die letzten 100 Jahre uns gelehrt haben sollten: ein Nein zum Krieg.

„Was ist uns noch bekannt in dieser entstellten Zeit?“, fragte sich Rainer Maria Rilke 1919. „Sie verwüstet mir meine Erinnerung (…) und wenn man dann plötzlich entdeckt, wie man sich mit den Ausdrücken der Zeitung unterhält, so ergreift einen Ekel und Grauen vor dem eigenen Munde.“

Oft beugt sich der Körper unter dem Gewicht der zu großen Seelen, heißt es bei Proust. Auf Rilke traf das zu. Der Uniformkragen hatte ihn zu lange eingezwängt und sein lyrisches Schöpfertum erdrosselt. Er wankte aus dem Krieg und schloss sich der Münchner Räterepublik an. Es war der verzweifelte Versuch, in einer vom Wahnsinn befallenen Welt Halt zu finden, wie jemand, der in einer Straßenbahn aus dem Gleichgewicht gerät und nach einer herabbaumelnden Schlaufe greift.

Die Münchner Räterepublik wurde am 7. April 1919 ausgerufen — ein Hoffnungsfunke in „dieser entstellten Zeit“, den unter anderem die Schriftsteller Ernst Toller und Erich Mühsam befeuerten. Knapp fünf Wochen später, am 3. Mai 1919, wurde das Experiment von den Freikorps brutal beendet. Freikorps waren Freiwilligenverbände außerhalb des Heeres, die sich vor allem aus demobilisierten Soldaten rekrutierten. Ihr Coup forderte über 600 Tote.

Hier trifft ein weiterer Satz Rilkes auf tragische Weise zu:

„Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.“

Es ist die der Geschichte innewohnende Dauerschleife, die ewige Wiederkehr der alles zermalmenden mit Dummheit gepaarten blinden Gewalt, die sensiblen Seelen die Luft zum atmen nimmt. „Geschichte wiederholt sich,“ erkannte schon Karl Marx, „zunächst als Tragödie, dann als Farce.“

Am 2. September 1936 wurde Reichsmarschall Hermann Göring auf dem Obersalzberg folgende „Denkschrift“ übergeben:

  1. Die Sowjetunion bereitet einen Überfall auf Europa vor.
  2. Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein.
  3. Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.

Klingelt da was? Müsste eigentlich.

Vom 25. bis 29. September findet mitten in Hamburg unter dem Codenamen „Red Storm Bravo“ eine NATO-Großübung statt. Dazu gehören Truppentransporte und die Verlegung von schwerstem Kriegsgerät vom Flughafen zum Hafen und von dort an die NATO-Ostflanke, inklusive endloser Militärkolonnen durch die Stadt mit nächtlicher Hubschrauber-Eskorte.

In Schulen wird der Gehorsam bei Luftschutzübungen trainiert. Krankenhäuser sollen ihre Funktionsfähigkeit als erweiterte Feldlazarette unter Beweis stellen. Arbeitsämter sollen proben, ausfallende Arbeitskräfte für „verteidigungsrelevante“ Konzerne zu ersetzen, und Bezirksämter zur Unterstützung der Militärlogistik herangezogen werden. Zweck des Ganzen ist es, auszuloten, inwieweit die Bevölkerung einen NATO-geführten Krieg gegen Russland mitzumachen bereit ist. Für den „Ernstfall“ sieht der „Operationsplan Deutschland“ eine umfassende Aushebelung der Grundrechte vor, die einer Generalmobilmachung gleichkommt. Tragödie oder Farce — was meint ihr?

Wie hilflos, wie verloren stehen die Mahner wieder einmal auf verlorenem Posten. Wenn Eugen Drewermann in seinen Vorträgen Wolfgang Borcherts Gedicht „Dann gibt es nur eins: SAG NEIN!“ vorträgt, jenes Manifest, das der Dichter noch kurz vor seinem Tod im September 1947 verfasste, wird die Ohnmacht von uns Überrollten besonders deutlich.

Borcherts Appell an unser aller Vernunft gehörte in den fünfziger und sechziger Jahren zum Unterrichtsprogramm in deutschen Schulen:

„Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen — sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“

Es folgen zwölf weitere Aufrufe an das „Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro“, den „Besitzer der Fabrik“, den „Forscher im Laboratorium“, den „Dichter in deiner Stube“, den „Arzt am Krankenbett“, den „Pfarrer auf der Kanzel“, den „Kapitän auf dem Dampfer“, den „Pilot auf dem Flugfeld“, den „Schneider auf deinem Brett“, den „Richter im Talar“, den „Mann auf dem Bahnhof“ und den „Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt“, die ebenfalls mit der Aufforderung „Sag NEIN!“ enden, ehe der umfangreichste Aufruf an die Mütter der ganzen Welt mit dem Übergang schließt:

„Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!

Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:“

Ja dann …

Ja, dann wirbt die Bundeswehr in einer martialischen Plakataktion um junge Männer und Frauen, die in diesem Jahrhundert geboren wurden und kaum noch wissen, welche Kriege der Unterhaltung dienen und welche nicht.

Die Plakate sind hinter Glas ausgestellt und kehren in kurzen Abständen auf Rolltiteln in Video-Optik zurück, als ständige Reminder. Die unterstützenden Slogans, die zwischen Nutella, Sonnenschutzcreme und anderem Tinnef regelmäßig erscheinen, wären noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.

  • Das Gefühl, wenn eine ganze Armee hinter dir steht
  • Was zählt, wenn wir wieder Stärke zeigen müssen
  • Was zählt, wenn wir über den Wolken Grenzen aufzeigen müssen
  • Mit Hightech Haltung zeigen
  • Die stärkste Friedensbewegung Deutschlands

Zum Schluss möchte ich einen Satz aus der Antrittsrede Gustav Heinemanns als Bundespräsident zitieren. Er stammt vom 1. Juli 1969 — also nicht so lange her:

„Nicht der Krieg ist der Ernstfall, sondern der Frieden, in dem wir alle uns zu bewähren haben.“