Die Privatisierung der Überwachung
Konzerne haben einen gigantischen Apparat zur Kontrolle und ökonomischen Verwertung der Bürger geschaffen — die Politik schläft.
Es gibt eine bemerkenswerte Blindstelle in unserer politischen Debatte: Seit zwanzig Jahren reden wir über staatliche Überwachung, über Innenminister, über Geheimdienste und über Polizeigesetze. Doch der eigentliche Überwachungsstaat entsteht längst woanders — im Schatten der Einkaufszentren, Versicherungsportale und Kundendatenbanken. Während Politiker über die Vorratsdatenspeicherung streiten, hat sich im Hintergrund ein zweiter Apparat gebildet: unscheinbar, allgegenwärtig, effizient und demokratisch völlig unkontrolliert. Seine Sensoren hängen nicht an Straßenecken oder in Polizeiwagen, sondern an den Glasfassaden privater Unternehmen. Sein Rohstoff sind nicht Ermittlungsakten, sondern Kundenprofile. Und seine Macht wächst nicht durch Gesetzesverschärfungen, sondern durch Marktlogik.
Der neue Überwachungsstaat ist privat — und genau darin liegt seine Gefahr. Denn er braucht keine Gesetze, um sich auszubreiten. Er braucht nur unsere Bequemlichkeit.
Wer heute einen Supermarkt betritt, tritt bereits in ein Labor der Verhaltensanalyse ein. Moderne Filialen setzen Kameras ein, die längst nicht mehr nur Bilder aufzeichnen, sondern Verhalten entschlüsseln: untypische Bewegungen, Zögern, Muster, Abweichungen. Die Algorithmen wissen, ob jemand zielstrebig einkauft oder nervös durch die Gänge läuft. Sie erkennen, wer häufiger zum Regal zurückkehrt, wer suchend umherblickt, wer sich „auffällig“ verhält. Es ist die gleiche Logik, die vor 15 Jahren als „predictive policing“ begann — nur findet sie heute im Konsumtempel statt. Kein Richter prüft das. Kein Parlament kontrolliert es. Die Überwachung ist keine staatliche Maßnahme mehr, sondern ein Geschäftsmodell. Ein Kunde, der zweimal im Gang stehen bleibt, ist für die KI eine Wahrscheinlichkeit. Eine potenzielle Anomalie. Ein Risiko und Risikobewertung ist in der neuen Ökonomie nichts anderes als Profilbildung.
Was die meisten Menschen nicht wissen: Viele dieser Systeme gehören nicht den Supermärkten selbst, sondern werden von externen Dienstleistern betrieben, die die Daten technisch auswerten, speichern, modellieren und daraus „Lösungen“ für mehrere Einzelhandelsketten entwickeln. Wer einmal erfasst ist, taucht möglicherweise in Datenpools auf, von deren Existenz er nie erfahren wird. Es entsteht ein Paralleluniversum von Risikobewertungen, Verhaltensmustern und algorithmischen Zuordnungen — vollkommen außerhalb jeder demokratischen Kontrolle.
Das ist keine Übertreibung, sondern der Kern des Problems: privatwirtschaftliche Überwachung ist unsichtbar, entgrenzt und entpolitisiert.
Niemand ruft „Skandal!“, wenn ein Supermarkt eine neue Analyse-Software einsetzt. Niemand protestiert gegen das algorithmische Screening einer Versicherung. Niemand spricht darüber, dass millionenfache Verhaltensdaten inzwischen die Grundlage von Risikomodellen bilden, die über unser Leben entscheiden. Und genau deshalb wächst die neue Überwachungsordnung schneller als jede staatliche.
Besonders deutlich wird das im Versicherungs- und Finanzsektor. Versicherer sammeln längst nicht mehr nur Daten aus Verträgen oder Fragebögen. Sie greifen auf Bewegungsprofile von Smartphones zu, analysieren GPS-Daten aus Autos, verwerten Gesundheitsdaten aus Fitness-Trackern, erstellen psychologische Muster aus Online-Verhalten und nutzen externe Analysedienste, die Lebensstile, Konsumverhalten und soziale Muster auswerten. Auch Banken verwenden Systeme, die in Sekundenbruchteilen ein „Risikoprofil“ erstellen — basierend nicht auf Bonität, sondern auf Verhalten, Standort, Zeitpunkten, Browserhistorien, Kontaktmustern und Datenpaketen, die über Drittanbieter eingekauft werden. Der Kunde glaubt, er beantragt einen Kredit. In Wahrheit bewertet ein Algorithmus die Wahrscheinlichkeit seiner Angepasstheit.
Wer so durchs Raster fällt, bekommt keine Begründung. Keine Rechtsgrundlage. Kein Widerspruchsverfahren. Das System sagt lediglich: „Nein.“ Die digitale Klassengesellschaft wird nicht von Politikern erlassen, sondern von Datenmodellen erzeugt. Und sie ist härter, unbarmherziger und endgültiger als jede staatliche Entscheidung, weil sie automatisiert ist.
Noch düsterer ist die Entwicklung in Sozialbehörden. In mehreren Ländern Europas werden bereits Programme getestet, die Arbeitslose in Risikogruppen einteilen: Wer gilt als kooperationsbereit? Wer als unzuverlässig? Wer als potenzieller Betrugsfall? Die berühmte niederländische Katastrophe um das System SyRI hat gezeigt, wie zerstörerisch solche Modelle wirken können:
Tausende Familien wurden fälschlich als Sozialbetrüger markiert, allein weil Algorithmen Muster erkannten, die gar keine waren. Menschen verloren ihre Existenz aufgrund statistischer Verdachtsmomente.
Und diese Systeme kehren zurück, in neuem Gewand, mit neuen Begriffen: KI statt Algorithmus. „Modellierung“ statt Kontrolle. „Verhaltensanalyse“ statt Überwachung. Die Sprache wird weicher, die Systeme härter.
Armut wird nicht mehr politisch bekämpft, sondern algorithmisch verwaltet. Betroffene werden nicht mehr individuell betrachtet, sondern als Prozentwerte eines Modells. Die Entscheidung, wer gefördert wird und wer aussortiert, wird nicht mehr von Menschen getroffen, sondern von Software, die sich hinter dem Deckmantel der Objektivität verbirgt. Die Digitalisierung des Sozialstaats ist in Wahrheit eine Entmenschlichung des Sozialstaats.
Der privatwirtschaftliche Überwachungsstaat hat vier Eigenschaften, die ihn gefährlicher machen als jede staatliche Maßnahme: Erstens ist er unsichtbar — die Betroffenen erfahren nicht einmal, dass sie analysiert werden. Zweitens ist er unreguliert – politische Kontrolle greift nur, wenn der Staat handelt, nicht, wenn Unternehmen dieselben Eingriffe vornehmen. Drittens ist er profitgetrieben — je mehr Daten, desto größer der Gewinn. Viertens ist er total — er beschränkt sich nicht auf Sicherheit oder Verdachtsmomente, sondern greift in Alltag, Konsum, Gesundheit, Wohnen und Arbeit ein.
Die Frage ist nicht mehr, ob wir überwacht werden. Die Frage ist, durch wen. Und die Antwort auf die Frage „durch wen?“ ist oft die unangenehmste: durch jene Unternehmen, denen wir unsere Daten freiwillig geben, ohne zu begreifen, was sie daraus machen.
Der neue Leviathan ist nicht der Staat, sondern das Datenökosystem einer digitalisierten Gesellschaft. Er braucht keine Gewalt, er braucht nur Wahrscheinlichkeit. Er braucht keine Akten, er braucht nur Verhaltensmuster. Er braucht keine Beamten, er braucht nur eine Datenbank, die wir selbst füttern.
Man könnte glauben, der Staat würde sich gegen diese Entwicklungen stemmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Politik ist so sehr damit beschäftigt, „Digitalisierung“ zu rufen, dass sie nicht erkennt, wie viel Macht sie dabei aus der Hand gibt. Statt den digitalen Raum zu gestalten, lässt sie ihn gestalten — von Unternehmen, die nicht demokratisch legitimiert sind. Sie reguliert die Technologie nicht, sondern übernimmt sie. Sie versteht die Logik nicht, sondern vertraut ihr blind. Und was sie nicht versteht, kann sie nicht kontrollieren.
Damit verliert die Demokratie das Fundament, auf dem sie steht: die Kontrolle über die Kriterien, nach denen Menschen beurteilt werden. Wer bestimmt, was Risiko bedeutet? Wer bestimmt, welche Muster verdächtig sind? Wer bestimmt, welche Bürger „wertvoll“ sind? Früher waren das politische Fragen. Heute sind es mathematische.
Wenn wir diesen Prozess weiterlaufen lassen, wird die digitale Ordnung der Zukunft nicht von Verfassungen bestimmt, sondern von Geschäftsmodellen. Die Gesellschaft wird nicht mehr politisch geformt, sondern programmiert.
Der privatwirtschaftliche Überwachungsstaat ist keine Dystopie — er ist Realität. Er hat keine Mauer, kein Logo, keine zentrale Institution. Er entsteht überall gleichzeitig, weil überall Daten entstehen. Und er wird weiter wachsen, solange wir ihn nicht beim Namen nennen.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht mehr, ob wir überwacht werden wollen. Sie lautet: Wollen wir zulassen, dass private Konzerne jene Macht erhalten, die wir aus guten Gründen dem Staat nur unter demokratischer Kontrolle delegieren?
Denn die Überwachung der Zukunft wird nicht von Regierungen betrieben. Sie wird von Märkten betrieben. Und Märkte kennen keine Grundrechte.