Die Real-Utopie

Ein Öko-Thriller weist den Weg in eine nachhaltige Zukunft. Exklusivabdruck aus „Das Tahiti-Projekt“.

„Gute Idee, aber das klappt ja doch nicht“, bekommen kreative Menschen oft zu hören, wenn sie Auswege aus der Sackgasse von Umweltzerstörung und Sozialdumping suchen. Oder: „Der Kapitalismus ist Mist, aber wir haben nun mal nichts Besseres.“ Wirklich? Der beste Gegenbeweis wäre eine Alternative, die funktioniert. Das Tahiti-Projekt ist mehr als ein spannender Öko-Thriller: Es ist eine Vision, die darauf drängt, Realität zu werden. Anknüpfend an die Ideale des Equilibrismus — Gleichgewicht, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit — entwirft Dirk C. Fleck die positive Utopie einer Welt, in der Menschen eine umweltverträgliche Lebensweise in der Praxis erproben. Gezeigt wird — leider bis jetzt nur in der Fiktion — ein Versuchslabor das Neuen, das die Menschheit so dringend braucht.

Kurz hinter dem Trou Du Diable, dem Teufelsloch, wie die Tahitianer den Fels nannten, durch den die Brandung rauschte, halfen Rudolfs Krieger Cording eine steinerne Terrasse hinauf, deren Stufen etwa eine Höhe von anderthalb Metern hatten. Die sieben Stufen, waren Restbestände eines jahrhundertealten Tempels. Doch er konnte die nötige Ehrfurcht für diesen historischen Ort im Moment nicht aufbringen, stattdessen verfluchte er die Steine, an denen er fortwährend abrutschte, während die anderen nicht die geringsten Schwierigkeiten mit ihnen zu haben schienen. Immerhin war Maeva diskret genug, seine peinlichen Bemühungen zu ignorieren.

Als er keuchend auf der Ebene anlangte, versuchte er als erstes, seinem rasselnden Atem Einhalt zu gebieten. Das funktionierte nur, indem er die Luft anhielt. Eine angemessene Reaktion angesichts eines solchen Bühnenbildes. Auf einer Fläche, die bequem fünfzig Personen und drei Kokospalmen Platz bot, saßen die Tänzer von OTahiti E im Gras.

Die Männer trugen weite Trainingshosen und die Mädchen sahen aus, als seien sie aus den muffigen Proberäumen eines Balletts in die Natur geflüchtet. Sie trugen wollene Stulpen und zerrissene Trikots, wie überall auf der Welt, wo der grazile Ausdruck des Tanzes auf hartem Training basiert. Ein Mann in Cordings Alter, der sich ein Handtuch um den Hals geschlungen hatte, trat vor die Truppe. Das fröhliche Geplauder erstarb und es war nur noch der Gesang der Vögel zu hören.

„Unsere Erde schreit vor Schmerz,“
deklamierte der Mann mit fester Stimme.
„Die nährende Erde leidet.
Aber hören wir sie?
Nein, wir wollen nicht hören.
Wir wollen ihr Leid nicht wahrnehmen.
Sind wir bereits so degeneriert, dass wir unsere eigenen Interessen höher stellen, als die Erde?
Schaut hin, schaut, was die Menschen machen:
SIE VERGEWALTIGEN IHRE MUTTER!
Die Erde wird uns dafür verschlingen. Die Menschen werden sterben.
Nur Liebe und Respekt können sie retten.“

Der Mann klatschte in die Hände: „So, das Ganze noch mal im Chor! Und denkt daran, es sind die Schlusssätze des Stücks. Also ein bisschen mehr Ausdruck, wenn ich bitten darf. Die Mädels nach links, die Jungs nach rechts! Wir proben den Text noch einmal von Anfang an!“

Cording saß die nächste Stunde wie gebannt im Gras. Dabei lernte er auf eindrucksvolle Art, wie die Choreografie an der Verbindung der Geschlechter arbeitete, wie sie federleichten Hüftschwung mit energischem Auftreten verband. Die polynesischen Tänze lebten von der männlichen wie der weiblichen Interpretation.

Gegensätzlicher als Omai und Cording hätten zwei Verbündete nicht sein können. Omai war Optimist, ein „hemmungsloser Optimist“, wie Cording ihn einmal scherzhaft genannt hatte. Der Präsident war von einem Urvertrauen gegenüber den Menschen beseelt, er resignierte nicht angesichts der immer wiederkehrenden, immer größer werdenden Probleme, er reagierte mit einem unbezähmbaren Veränderungswillen auf die Indikatoren der Katastrophe.

Cording war Pessimist, obwohl er sich selbst gerne als Realist bezeichnete. Er hatte ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Spezies, deren Wirken auf diesem Planeten er völlig wertfrei mit dem eines Krebsgeschwürs verglich. Seiner Meinung nach hatte die Evolution den Menschen dazu auserkoren, die Erde einmal kräftig umzupflügen, damit sie sich neue Bahnen suchen konnte. Wie war es sonst zu erklären, dass trotz aller medialen Aufklärung, die in den letzten fünfzig Jahren stattgefunden hatte, keiner der bedrohlichen Trends, die den Ökozid beförderten, gestoppt, geschweige denn umgekehrt werden konnten?

Noch immer regierten die Wachstumsökonomen, noch immer wurde Fortschritt am Pro-Kopf-Einkommen, am Verbrauch von Ressourcen und Energie gemessen. Den Mahnern und Aufklärern hingegen gingen allmählich die Begriffe aus. Der inflationäre Gebrauch ihrer Untergangsmetaphern hatte nicht etwa dazu geführt, dass die Menschheit zur Besinnung kam, sondern im Gegenteil eine Tendenz zur Schönfärberei befördert, als bräuchten wir angesichts der verheerenden und einzusehenden Faktenlage zuallererst ein ruhiges Gewissen.

Der verstörte Homo sapiens ahnte sehr wohl, dass die Aufgaben, denen er sich plötzlich gegenübersah, zu mächtig geworden waren. So urinierte er also munter weiter in sein Wohnzimmer. Anstatt aber seine Lebensweise in Frage zu stellen, zog er es lieber vor, in aller Wissenschaftlichkeit über die Saugfähigkeit des Teppichs zu diskutieren ...

Cording wusste, dass solch grundlegende Gedanken in der aktuellen Auseinandersetzung nicht weiterführten. In den Gesprächen mit Omai verzichtete er bewusst auf jeden zweiflerischen Einwand. Er begriff die Zusammenarbeit mit diesem charismatischen Mann als persönliche Chance. Indem er sich von der Zuversicht Omais anstecken ließ und sich ganz der gestellten Aufgabe widmete, verstand er plötzlich, dass es allemal besser war, den Kampf im Kleinen aufzunehmen, als sich als bezahlter Zeuge des großen Weltuntergangs an den Brandherden dieser Welt herumzutreiben und psychisch kaputtmachen zu lassen.