Die Rückeroberung der Selbstbestimmtheit
Im Gespräch mit Lilly Gebert erklärt Bertrand Stern, wie wir unsere Rolle als Objekte der Abrichtung durch Autoritäten abschütteln können. Teil 1 von 2.
In den Fugen einer Welt, die Freiheit predigt, doch Selbstbestimmtheit knebelt, traf die Autorin den Bildungsphilosophen Bertrand Stern. Seine Gedanken, die sie schon zuvor verfolgt hatte, wurden letztes Jahr bei der Manova-Autorenkonferenz zur gelebten Begegnung. Nun sprachen beide erneut miteinander. Und wie selbstverständlich entzündete das Gespräch die Frage: Was macht uns zu Subjekten, die sich aus Zwang und Trance lösen? Wie entstehen innere Grenzen, äußere Zwänge und der Mut, das eigene Leben bewusst zu gestalten?
Lilly Gebert: Lieber Bertrand, worin besteht die menschliche Freiheit?
Bertrand Stern: Ich verwende lieber den Begriff Selbstbestimmtheit, da der Begriff Freiheit oft missbraucht wird — etwa in der Politik, wo in Österreich die „Freiheitlichen“ nicht unbedingt die Freiheit vertreten, wie wir sie in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstehen. Selbstbestimmtheit kennzeichnet den Menschen als Subjekt, das danach strebt, sich gedanklich in einer unterstützenden, „freien“ Umgebung zu entfalten. Doch Freiheit hat Grenzen, sei es durch natürliche Bedingungen — wie das Unvermögen, am Nordpol Zitronen zu ernten — oder durch soziale Kontexte. Meine Freiheit endet, wo deine beginnt oder wo Schaden entstünde. Daher muss Freiheit immer im Kontext betrachtet und nicht übertrieben werden.
Jedoch wäre es schön, wenn unsere Vorstellungskraft überhaupt so weit ginge, dass wir uns ausmalen könnten, am Nord- oder Südpol Zitronen zu pflanzen — oder: Wenn wir erst einmal darüber nachdenken würden, was Freiheit bedeuten könnte, dehnten wir sie aus bis in den Raum, in dem wir zwar niemand anderem schaden, uns selbst jedoch nicht länger in den gewohnten Sicherheiten bewegen. Doch die Realität ist ernüchternd: Wir scheinen oft gar kein Gespür mehr dafür zu haben, was unsere Freiheit ausmacht. Wir kämpfen nicht nur mit äußeren Grenzen, wie einem System, das uns fast schon daran hindert, freiheitlich zu denken. Gleichzeitig tragen wir auch innere Schranken in uns, die verhindern, dass unser Freiheitsverständnis oder unser Vermögen zur Selbstbestimmtheit zur Entfaltung kommt. Warum fällt es uns so schwer, diese Selbstbestimmtheit wirklich zu leben — sowohl nach außen als auch in uns selbst?
Ich möchte die ursprüngliche Aussage differenzieren und vertiefen, um die komplexen Mechanismen zu beleuchten, die Menschen dazu bringen, eine künstliche Identität anzunehmen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass wir durch einen Prozess der Wohlerzogenheit — oder, um einen härteren Begriff zu verwenden: der erzieherischen Abrichtung — dazu gebracht werden, eine zweite, künstliche Identität zu entwickeln. Diese Identität steht im Widerspruch zu unserem natürlichen Zustand als Subjekte, die wir bei unserer Geburt sind — und ein Leben lang bleiben.
Durch diese erzieherische Abrichtung werden Menschen dazu gedrängt, die Rolle eines Objekts zu übernehmen. Diese Rolle ist nicht nur künstlich, sondern auch schmerzhaft, da sie an Bedingungen und Ziele geknüpft ist, die oft unerreichbar sind oder deren Versprechen — wie eine paradiesische Zukunft — sich als Illusion erweisen.
Viele Menschen erkennen, dass die ihnen versprochene Zukunft nicht existiert, und leben daher in einem Zustand des Betrugs und Selbstbetrugs. Dieser Selbstbetrug wird durch gesellschaftliche Mechanismen wie Konsum oder öffentliche Medien aufrechterhalten, die darauf abzielen, Menschen in einer Art negativer Trance zu halten. Medien „informieren“, setzen Menschen in Form, manipulieren sie in einer sich immer schneller drehenden Manege, die viele auswirft oder überfährt.
In dieser Situation gibt es zwei Gruppen: Diejenigen, die aus diesem System ausbrechen wollen — oft ausgelöst durch eine Krise oder Erkenntnis — und jene, die die Lüge um jeden Preis aufrechterhalten. Letztere — oft die Mehrheit — arbeiten hart daran, ihre Illusion zu bewahren, und verdrängen die Wahrheit durch „mehr desselben“. Sie leben in einem Zustand, den ich als negative Trance bezeichne, gefüttert durch Konsum und Medien, die sie in ihrer Selbsttäuschung bestärken. Dies führt zu meiner — oft kritisierten — negativen Sicht, dass diese Massen in ihrem Morast versinken werden, gefangen in ihrer Lüge.
Und wann endet diese Trance und durch was werden sich die Menschen ihrer bewusst?
Die Hoffnung besteht darin, dass Menschen, die zu sich selbst finden, eine Energie entwickeln, die stärker ist als das System. Dieses System — ein fragiles Kartenhaus — ist im Zusammenbruch begriffen. Wir waren durch unsere Wohlerzogenheit so gutgläubig, an seine Stabilität zu glauben. Besonders junge Menschen zeigen zunehmend Widerstand. Viele sagen „Nein danke“ zu diesem System, was Konflikte mit ihren Eltern auslöst. Diese stehen vor der Frage: Sollen sie ihre Töchter und Söhne mit Gewalt — im wörtlichen oder übertragenen Sinne — auf den „richtigen“ Weg zwingen, der in Wahrheit eine Sackgasse ist? Oder erkennen sie im Widerstand ihres Nachwuchses eine Chance, selbst aufzuwachen und aus dem Gefängnis der erzieherischen Abrichtung auszubrechen?
Dieser Widerstand der jungen Generation ist nicht immer verbal. Oft äußert er sich in körperlichen Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, die ein Zeichen dafür sind, dass die zu wohlerzogenen Schülern gemachten, erniedrigten jungen Menschen sich weigern, als Objekte in die Schule „geschickt“ zu werden — wie Briefe oder Pakete — also in ein System, das sie ablehnen. Doch anstatt diesen Widerstand zu respektieren, greift die Gesellschaft zu Maßnahmen wie Nachhilfe, Psychopharmaka oder erzieherischen Verboten, um die sogenannten Kinder auf den vermeintlich richtigen Weg zu zwingen. Ein blühendes Geschäft nur, um die gesunde Rebellion der Jungen zu unterdrücken?
Die Begegnung mit dieser jungen Generation kann für Eltern eine Chance sein, ihre eigene Subjekthaftigkeit wiederzuentdecken. Was die renitente Tochter oder der resistente Sohn in ihnen weckt und sie selbst womöglich verdrängt hatten, ist eine Einladung, aus dem Gefängnis der erzieherischen Abrichtung auszubrechen und sich als Subjekt neu zu definieren.
Dies ist kein abstraktes Konzept, sondern zeigt sich konkret in den Kämpfen vieler Familien, wo der Widerstand der Jungen — sei es durch Worte oder Symptome — ein Weckruf ist.
Entscheidend ist, dass es nicht viele braucht, um Veränderung zu bewirken. Eine kleine, aber entschlossene Gruppe junger Menschen, die „Nein“ sagen, kann ausreichen, um die Dynamik des Systems zu durchbrechen. Ihre Energie, ihre Klarheit und ihr Mut sind stärker als die künstlichen Strukturen, die sie zu unterdrücken versuchen. Die Frage bleibt: Werden wir diese Chance nutzen, um gemeinsam aus der negativen Trance auszubrechen — oder werden wir weiter in der Illusion eines zusammenbrechenden Kartenhauses leben?
Du sprichst ganz viele wichtige Punkte an, ehe wir gleich zum Schulsystem kommen. Warum tragen manche Menschen diese Selbstbestimmtheit in sich, um das System und die als „endgültig“ verkaufte Realität zu hinterfragen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, während andere diese Stärke nicht haben? Bei den Eltern sind wir im Bereich der Bindungstraumata. Du hast von Liebe gesprochen, aber für mich handelt es sich hier oft um eine verdrehte Form von Liebe, die nicht bedingungslos ist, weil viele Eltern sie selbst nie erfahren haben. Würden sie ihre Kinder in ihrer Rebellion anerkennen oder einfach so sehen, wie sie sind, und zulassen, wie sie ihre Freiheit nehmen, wären sie mit ihrer eigenen mangelnden Beziehungsfähigkeit konfrontiert. Viele Eltern können das nicht, weil sie an ihre eigenen Traumata erinnert würden und das nicht aushalten. Meine Generation versucht, diese Muster aufzubrechen, fühlt und stellt sich dem. Das bedroht ein System, das auf Verdrängung und Unterdrückung basiert. Dabei geht es nicht nur um äußere Strukturen, sondern auch um die innere Bereitschaft, sich diesen schmerzhaften Wahrheiten zu stellen. Nur so können wir neue Formen von Beziehungen und Freiheit schaffen.
Ich beschreibe das Phänomen mit dem Bild der Zwiebel, die aus vielen Hüllen besteht.
Anpassung, Fleiß, Gehorsam, Pünktlichkeit — diese „spießbürgerlichen Untugenden“ bilden Mauern, die wir um uns errichten, um gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen. Doch in uns brennt die Flamme des Subjekts, die unser wahres Selbst ausmacht.
Manche bauen so dicke Mauern, dass sie diese Flamme nicht mehr spüren. Andere werden durch Erlebnisse wie Träume, Krisen, Begegnungen oder sogar einen Unfall daran erinnert, wer sie wirklich sind. Eine Krise, etwa im Beruf, kann ein Moment der Erkenntnis sein, ebenso wie ein Urlaub oder ein inspirierender Artikel bei Manova. Solche Situationen wecken die Besinnung auf das eigene Selbst. Es sind oft unerwartete Momente, die uns aus der Routine reißen. Ein Gespräch mit einem Fremden kann ebenso viel auslösen wie ein Buch, das uns tief berührt. Entscheidend ist, dass diese Erfahrungen uns helfen, die Schichten der Zwiebel abzuschälen und uns darauf zurückbesinnen lassen, wer wir eigentlich sind.
Manche erkennen plötzlich die Verlogenheit und Lügen des Systems, etwa wenn ich mich weigere, etwas zu tun, was von mir verlangt wird, wie meine Tochter oder meinen Sohn zu etwas zu zwingen, das ich als schädlich erkannt habe. Dieses Verhalten, das weder für sie noch für mich oder irgendjemanden gut ist, findet sich oft im erzieherischen Kontext, sei es im Kindergarten, in der Schule oder in anderen Bereichen.
Du hast zuvor den Begriff „Gewalt“ verwendet — ein Wort, das viele zwar empfinden, sich aber kaum trauen auszusprechen. Und da stellt sich für mich die Frage: Wie holen wir uns das Monopol darüber zurück, was wir als Gewalt empfinden — nicht nur im Zusammenhang mit Schule? Gerade in den letzten vier Jahren wurde uns vieles unter verschiedensten Begriffen als richtig verkauft, obwohl viele darunter gelitten haben. Doch dieses Leid durfte oft nicht benannt werden — es wurde heruntergeschluckt. Wie also gewinnen wir das Recht zurück, unsere Empfindungen ernst zu nehmen — ob es um Schmerz, Leid oder auch persönliche Grenzen geht? Und wie hören wir auf, Diener eines Systems zu sein, und werden wieder zu Gestaltenden unseres Lebens? Welche Bilder nutzt du diesbezüglich vielleicht auch in deinen Vorträgen, um solche Mauern aufzubrechen?
Die Frage, wann und wieso Menschen sich angesprochen fühlen, begleitet mich seit über fünf Jahrzehnten. Ich bin selbst durch Krisen gegangen, habe gezweifelt, gerungen, war unzufrieden — und doch wusste ich: Die Aussage ist wichtig, vielleicht nur der Weg nicht stimmig. Nach einem Vortrag vor größerem Publikum wurde mir klar, dass es nicht mehr nur darum gehen kann, Inhalte zu liefern — das habe ich lange genug getan —, sondern darum, Menschen emotional zu berühren, und zwar an Stellen, an denen sie es nicht erwarten. Nicht manipulativ, aber beeinflussend. In meinem neuen Vortrag erzähle ich zum Beispiel. vom Leben junger Menschen, die sich der Beschulung entzogen haben und dann aufblühen durften. Ich bringe auch juristische Elemente ein — einfach, um spürbar zu machen: Es gibt Alternativen.
Was das Wort „Gewalt“ betrifft, haben wir ein begriffliches Problem. Ursprünglich bedeutet es nur „Verwaltung“, wird aber heute als Übergriff verstanden. Wichtig ist:
Gewalt darf nie von denen definiert werden, die sie ausüben, sondern nur von denen, die sie erleiden. Wenn du etwas, das ich sage, als übergriffig empfindest, ist es nicht meine Aufgabe, dich vom Gegenteil zu überzeugen — sondern innezuhalten und das ernst zu nehmen.
Deine Wahrnehmung ist maßgeblich. Das gilt nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch zwischen den Geschlechtern — und sogar im Umgang mit der Natur. Ich frage nicht, ob jemand es gut meint, sondern ob er gut tut — und das bestimmt nicht der Handelnde, sondern der Empfangende.
Da schließt sich fast der Bogen zum Anfang — zur Selbstbestimmtheit. Warum also fällt es so vielen Menschen schwer, eine klare Grenzziehung vorzunehmen? Warum fehlt ihnen oft der Kontakt zu ihrem inneren Erleben — zu dem, was sie als übergriffig empfinden — und damit auch die Kraft, daraus Konsequenzen zu ziehen, um den eigenen Raum zu wahren? Oft liegt das in frühen Bindungsmustern begründet — in einer Tendenz zur Verschmelzung, in der die Autonomie als Gefahr erlebt wird. Die Angst, verlassen oder zurückgewiesen zu werden, führt dann zu einer Selbstverleugnung, die sich tief mit der Frage nach der eigenen Liebenswürdigkeit verbindet. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die mit den Grenzen des Gegenübers nicht umgehen können, sie als Kränkung erleben oder gar aggressiv reagieren — und damit die mühsam errichteten Mauern des anderen niederreißen. Wie also finden wir zurück in ein Gleichgewicht, in dem gesunde Bindung und echte Selbstbestimmtheit koexistieren können?
Also zunächst einmal: Das „Wie“ kann ich nicht beantworten. Ich bin Philosoph, kein Missionar, kein Politiker, kein Techniker. Das „Wie“ ruft nach einer technizistischen Antwort oder Lösung, wohingegen ein „Warum“ wesentlich ist, das für eine ethische Fragestellung steht. Was du beschrieben hast, lässt sich gut mit einem Begriff umreißen, den etwa Hans-Joachim Maaz verwendet: das Normopathische. Dieses ist untrennbar an Wohlerzogenheit gebunden. Ich kann dir beim besten Willen nicht sagen — obwohl ich mich das immer wieder frage — woran es liegt, dass Menschen sich dermaßen kaputt machen. Sie haben nichts davon. Es ist alles Lug und Trug. Sie belügen sich selbst, glauben felsenfest an etwas, obwohl alles dagegen spricht.
Dieses Normopathische kann so weit gehen, dass man bereit ist, in den Krieg zu ziehen, ihn zu befürworten und schlimmstenfalls sogar das eigene Leben auf dem Altar des Staates, der Heimat oder einer „guten Sache“ zu opfern. Es ist wahnhaft.
Und ich weiß ehrlich nicht, wie dieser Teufelskreis zu durchbrechen ist. In meinem direkten Umfeld erlebe ich Menschen, die wahre Meister im Verdrängen sind - da frage ich mich immer wieder: Seht ihr das denn nicht? Aber es ist nicht da. Wenn es eine frühe Traumatisierung gegeben hat — worauf wir vorhin zu sprechen kamen —, dann bleibt nur der Weg, diese aufzulösen, um auf gesunder Grundlage etwas anderes anstreben zu können.
Zu den Momenten, die man als Krisen bezeichnet — wie wir es vorhin besprochen haben —, gehören natürlich auch sogenannte schlimme Krankheiten, allen voran die heute als schlimmste geltende: Krebs. Ich erwähne das deshalb, weil Krebs im Grunde nichts anderes ist als die Folge von Traumatisierungen — eingekapselte Traumata, die zu wuchern beginnen. Natürlich kann man den Krebs systemimmanent medizinisch bekämpfen, was leider doch oft tödlich endet. Oder aber: Man nutzt die Möglichkeit, herauszufinden, was es mit dem Krebs auf sich hat. Was will er mir sagen?
In diesem Zusammenhang habe ich kürzlich etwas sehr Beeindruckendes entdeckt — vielleicht nichts Neues, aber für mich war es bedeutsam: The Journey. Brandon Bays hatte einen Tumor, so groß wie ein Volleyball, weshalb sie kurz vor der Operation stand — die sie abgelehnt hat. Stattdessen ging sie in sich, arbeitete die Vorgeschichte, die diesen Krebs ausgelöst hatte, auf — und am Ende war der Tumor verschwunden. Ob das immer und bei allen Menschen gleichermaßen wirkt, sei dahingestellt. Da hieraus eine ganze Bewegung entstanden ist, bedingte, dass es, wie so vieles aus den Staaten schließlich kommerzialisiert wurde. Im Prinzip — und das ist mein Punkt — zeigt es, was ich vorhin meinte: Der Mensch kann — durch ein Wunder, wenn man so will — zu dem zurückgeführt werden, was er ist: ein Subjekt. In dieselbe Richtung weist — ein anderes Beispiel — das erstaunliche, wundersame Wirken von Bruno Gröning.
Was ich damit zum Ausdruck bringen wollte: Manchmal sind selbst ganz dramatische Erfahrungen wie eine schwere, lebensbedrohliche Krankheit ein Moment, in dem ein Mensch sich zurückbesinnt — und dann auf einmal etwas in Bewegung gerät.
Solche Fälle – und es gibt unzählige weitere — erzähle ich nicht, um zu sagen: Das ist der einzige Weg. Sondern um zu zeigen: Es gibt Erfahrungen, Phänomene, Wege, die unser westliches Medizinsystem nicht erklären kann — oder nicht erklären will. Ein System, das uns enteignet, bevormundet und im schlimmsten Fall zerstört. Und ich frage: Warum unterwerfen sich so viele diesem System blind, anstatt die Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, dass die Lösung, die Erlösung nicht im Außen liegt? Weder bei einem Guru, noch bei einer Autorität, noch bei irgendeiner Gewalt — nur bei dir selbst! Du bist der Schlüssel. Du bist die Lösung. Du bist der Ausgangspunkt für den Wandel, den du ersehnst.
Genau. Und in diesem Sinne wollen uns vielleicht auch manche Krankheiten — wie du selbst sagst — anstoßen oder müssen uns gar anstoßen, vor allem in den brutalen Fällen. Sie drängen uns dazu, wieder nach innen zu horchen, hinzusehen, zu erkennen, was das alles mit uns zu tun hat — mit unserem eigenen Leben, unserem Inneren, unseren nicht gelebten Anteilen...
(...) eben zu horchen —statt bloß zu gehorchen!
Auch der Punkt mit dem Atmen: Wie viel Heilung allein durch bewusstes Atmen geschehen kann — und wie sinnbildlich das ist. Denn es zeigt, wie sehr wir uns selbst die Weite in unserer Brust versagen. Wie wenig Raum wir uns zugestehen, wie selten wir uns einen Moment des Innehaltens gönnen. Zehn Minuten am Tag — nur mit uns selbst, mit unserem Atem. Und wenn wir uns nicht einmal diesen einfachen Raum nehmen: Wo dann überhaupt?
Zu den Momenten der Selbstbefreiung gehört auch die einfache, oft erschütternde Erkenntnis: Wie wenig brauche ich eigentlich, um zu leben? Und wie viel Ballast haben wir angehäuft — Dinge, die wir mit uns schleppen, die uns beschweren, statt zu befreien.
Natürlich will ich mich in meiner Umgebung wohlfühlen — aber dazu brauche ich keine Überfülle. Dieses Übermaß ist — um Ivan Illich zu zitieren — geradezu kontraproduktiv. Es nährt nicht, es lähmt.
Wenn ich hingegen beginne, mir täglich nur zehn Minuten zum Atmen zu nehmen — dann beginne ich, mein Leben durchzuatmen. Und das ist mehr als eine Metapher.
Ein Gedanke ist mir dabei besonders wichtig: Bei der Geburt ist der erste Akt des Atmens das Ausatmen. Erst durch das bewusste Ausatmen — das Loslassen — entsteht Raum für das Neue, für das Einatmen. Und dieser Einatem heißt auf Latein inspiratio. Inspiration. Sie kann uns nicht erreichen, solange wir nicht leer werden. Erst nachdem wir Luft gelassen haben — innerlich wie äußerlich — kann der Raum entstehen, in dem sich etwas offenbaren kann. Oft sogar etwas ganz Wesentliches.
Was inspiriert dich denn?
Unser Gespräch. Das Leben. Die Erfahrungen — auch jene, die schmerzen, für die ich aber dennoch dankbar bin. Die Begegnungen, die mich prägen. Und natürlich: die Hoffnung. Die Hoffnung, dass manches vielleicht doch einmal ankommt. Dass es tatsächlich zu jenem Wandel kommt, den ich so sehr ersehne.
Ich muss sagen: Auch wenn ich gegen viele Aspekte zivilisatorischer Dummheit wettern kann — es gibt einen Bereich, in dem ich hoffnungsvoll bin: der schulische. Dort ist das Dramatische so offensichtlich, dass genau hier der zivilisatorische Zusammenbruch am ehesten einsetzen wird. Genau daraus wird sich eine neue, prospektive Möglichkeit eröffnen.
Wollen wir es hoffen. Daher zu guter Letzt: Wie schaut deine Utopie eines gelingenden Lernens aus?
Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in unserer Gesellschaft meist in schulischen Kategorien denken. Die meisten Menschen glauben, es gäbe entweder die staatliche Schule oder gewisse Alternativen — aber alles bleibt im selben Denksystem.
Weil das Grundgesetz Artikel 7, Absatz 1 postuliert: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“, glaubt sich „der Staat“ berechtigt, alles, was mit Bildung zusammenhängt, nach seinen Vorstellungen gestalten zu dürfen oder zu müssen — ob verfassungsgemäß oder nicht.
Diesen ideologischen Block nenne ich Beschulung.
Demgegenüber steht der Mensch als Subjekt. Wir haben es hier mit einer radikalen Unvereinbarkeit zu tun: entweder das Leben, der Respekt vor der Würde und Selbstbestimmtheit des Subjekts — oder die Beschulung. Selbstverständlich soll, wer sich beschulen lassen will, dies auch tun dürfen. Die Kernfrage ist aber: Was geschieht mit dem Menschen, der seine Beschulung ablehnt, weil er beispielsweise sein Leben anders, besser, interessanter gestalten möchte? Ist nicht die Frage entscheidend, ob der lebendige, integre Mensch am ehesten selbst kompetent ist für die Prozesse des Erkennens, Entdeckens, Verstehens — auch für soziale Beziehungen? Dafür braucht es keine staatliche Anleitung oder Kontrolle.
Ich nenne das frei sich bilden. „Bilden“ ist ein Prozess, der in Beziehung geschieht; dieser Prozess findet nur im rückbezüglichen Sich statt. Und die Qualität, die Voraussetzung dieses sich Bildens ist das vorangestellte Frei. Daher: frei sich bilden. Frei sich zu bilden ist wie Atmen oder Leben: nicht manipulierbar, nicht kontrollierbar, an keine Zeit, keinen Ort, keine Autorität gebunden. Es geschieht meist unsichtbar — plötzlich, wie ein Vulkan. Daher ist es unvereinbar mit der Vorstellung von Schule oder standardisierter Kindheit.
Es ist mir wichtig zu betonen, dass für mich frei sich bilden eine zentrale Kategorie für das Menschsein ist — vom ersten Atemzug bis zum letzten. Ein Prozess, der nie aufhört, außer er wird von außen unterbrochen.
Wenn wir aufhören würden, immer mit dem Verstand und mit dem Gefühl zu interferieren, wir wüssten etwas besser als das reine Leben, dann könnte mehr Natürlichkeit entstehen.
Ich danke dir.
Ja, im Sinne der Rückeroberung unserer eigenen Kompetenz. Unserer eigenen Wirkmächtigkeit.
Vielen Dank für das schöne Gespräch, lieber Bertrand.