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Die Schuldfrage

Die Schuldfrage

Wie schaffen wir es, uns von Schuldgefühlen zu befreien, die uns in Ketten legen?

Schuld. Die Schuldfrage. Das Schuldkonzept. Schuld ist laut Friedrich Nietzsche ein von der Gesellschaft auf das Individuum projiziertes Gefühl, welches sein Handeln fortlaufend bestimmt und manipuliert. Kinder haben kein Schuldempfinden. Sie bereuen ihre Taten erst, wenn sie dafür zur Rechenschaft gezogen und bestraft wurden. Soweit zur Ausgangsthese des Philosophen.

Wie sieht es mit der uns allen angeborenen Moral und Empathie aus; nämlich, wenn wir sehen, dass ein anderer Mensch leidet — auch durch unser Tun leidet — und der Mensch mitleidet. Ist dies dann nicht schon Schuld oder das, was man als „Selbstreinigung“ bezeichnen könnte, weil der Mensch lernt, Dinge nicht zu tun, die Leid hervorbringen? Ausgenommen davon sind natürlich Menschen, deren Empathiezentrum nicht funktioniert — zum Beispiel Psychopathen (1).

Ein Seitensprung ist ein weiteres schönes Beispiel: Der betrügende Mensch fühlt sich während des Aktes selten schlecht, sonst würde er es schließlich nicht tun. Er oder sie verspricht sich etwas davon und sei es bloß die temporäre Befriedigung der eigenen Gelüste oder allgemein gesprochen: des Sexualtriebs.

Scheinheilige Weihnachten

Die Schuldgefühle kommen erst, wenn die betrogene Person ihre verletzten Gefühle offenbart und das vorhergegangene Handeln des Partners im Nachhinein als schlecht oder moralisch verwerflich bewertet. Sei es durch Verplappern oder das schlechte Gewissen, welches einen dazu bringt, seine moralisch verwerfliche Tat zu gestehen … Wobei das schlechte Gewissen und somit die Selbstverurteilung ja bereits ein Schuldempfinden suggeriert.

Manchmal passiert es jedoch, dass sich die Schuldgefühle nach der Trennung in eine Art Genugtuung umwandeln oder sich im Verlauf völlig relativieren. Man fühlt sich also in erster Linie schlecht, da man eine Abmachung gebrochen oder gegen gesellschaftliche Werte und Normen verstoßen hat, nicht aber, weil man sich für einen kurzen Moment sexuelle Befriedigung verschafft hat.

Der soziale Anpassungsdruck entscheidet letztlich — auf beiden Seiten — über die „schwere der Konsequenzen“. Auch für den betrogenen Partner/die betrogene Partnerin gilt das, denn sie/er muss sich zumeist ebenfalls vor seinem Umfeld rechtfertigen, ob es keine Anzeichen gab oder wenn er/sie beispielsweise den Seitensprung verzeiht und keine Trennung in Betracht zieht („Staying is the new shame!“) (2).

Auch der alljährliche „Weihnachtsstress“ ist ein sehr anschauliches Beispiel für die Folgen von gesellschaftlichen Erwartungen an das Individuum: Es schickt sich, der Familie und Freunden Geschenke zu kaufen, entfernten Bekannten und Verwandten Weihnachtskarten zu schreiben und beim Fest der Liebe voller Frohsinn beieinander zu sitzen. Aber nicht jeder freut sich darauf Geschenke zu kaufen, die eventuell keinen Nutzen haben oder eh nur höflichkeitshalber entgegengenommen werden.

Es hat auch nicht jeder wirklich Spaß daran, den entfernten Bekannten eine Weihnachtskarte zu schreiben, in der lückenhaft und eher sachlich sortiert als emotional formuliert das fast verflossene Jahr durchgekaut wird in seiner gesamten Fülle. Es wird schon einen Grund haben, dass man das ganze Jahr so gut wie keinen Kontakt hatte … Wieso also gerade jetzt?

Diese ganzen Erwartungen führen dann letztlich dazu, dass aus dem besinnlichen Weihnachtsfest der erwartungsgeschwängerte Weihnachtsstress resultiert. Die schönen Momente bleiben dabei meist auf der Strecke. Viele handeln aus Pflichtgefühl, eher wenige aus ihrem Gefühl heraus.

Wie soll man da frei sein?

Erwartungen. Kaum etwas lässt die Menschen in regelmäßigeren Abständen zerbrechen, die eigene Person oftmals zu Unrecht hinterfragen oder bereits von vorneherein vor gewissen Handlungen zurückschrecken. Doch was hat es auf sich mit diesen schrecklichen Erwartungen? Was veranlasst uns dazu, Erwartungen aufzustellen und Situationen nicht völlig unbefangen anzunehmen?

Erwartungen implizieren in erster Linie immer eine Illusion von Sicherheit für den Sender. In ihnen sind seine schlimmsten Ängste aber auch Sehnsüchte versteckt. Was wird gesendet beziehungsweise wer ist Empfänger oder was macht den Menschen zum Sender?

Die Sicherheit bei „Sender und Empfänger“ wird durch die Erfüllung von Erwartungen lediglich zur Illusion, weil das dadurch hervorgerufene positive Feedback von Belohnung das wohlige Gefühl von Sicherheit auslöst.

Das angeblich „sichere“ kann aber eben schnell ins unsichere umschlagen, wenn die Belohnung nicht ausreicht und infolgedessen Wut entsteht.

Ein Beispiel, auf die Spitze getrieben: Der Mörder in Uniform, so wie er auf den Schlachtfeldern auftritt, der mit Orden belohnt wird, weil er der Erwartung gerecht wurde, zu töten, der entfernt sich von sich selbst und von der Schuld, die er spürt, bewegt sich in der Folge weiter zum Aggressor, der ihn belohnt (streichelt, liebt oder/und lobt).

Dieses Phänomen könnte man als Anpassung an den Tyrannen bezeichnen. Doch reicht die Belohnung nicht (siehe Julius Caesar (3)), dann wird der „Geliebte“ zum Feind und Schlächter, weil seinen Erwartungen nicht entsprochen wurde. Fazit: Es kommt zum Tyrannen-Mord.

Anhand von Erwartungen erfährt man zudem unglaublich viel über die Stärken und Schwächen eines Individuums. Persönliche Erfahrungen und Erlebnisse bilden das Grundgerüst für den Bau, Prinzipien den Kit. Moralvorstellungen zieren den Raum und vervollständigen das Design.

Geäußerte Erwartungen verfolgen zumeist das Ziel den Empfänger bereits zu Beginn einzuschüchtern oder den weiteren Verlauf des Geschehens zu eigenen Gunsten zu manipulieren. Indem ich dem andern suggeriere, dass meine Zuneigung von seinem hoffentlich korrekten Verhalten abhängt und auch unsere zukünftige Interaktion davon beeinträchtigt sein wird, lasse ich ihn nicht mehr frei entscheiden. Eine Erwartungshaltung hat gleichzeitig immer einen repressiven Charakter. Wie soll man da frei sein? Frei handeln? Sich frei fühlen?

Zusammenfassend bedeutet dies also, dass der moralische Eigenanspruch und zudem Fremderwartungen an das Individuum dessen Schuldbewusstsein regulieren. Die Frage sollte demnach lauten, ob der Mensch die gesellschaftlichen Werte und Normen akzeptiert, oder bereit ist, sich seine eigenen Grenzen zu stecken und somit letztlich befreiter — zumindest von Schuldgefühlen — durchs Leben zu gehen.

Die wichtigste Tugend

Natürlich klingt das einfacher als es ist. Schließlich bedeutet die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen gleichzeitig auch die Konsequenzen zu tragen. Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen bedeutet, zu seinen Taten zu stehen und sich nicht dafür zu entschuldigen.

Eine Entschuldigung distanziert den Sender oftmals von seinen eigenen Taten und führt dazu, dass bestimmte Teile der Persönlichkeit nicht akzeptiert beziehungsweise unterdrückt werden. Frei ist anders. Jedoch ist bereuen wichtig. Aus Fehlern lernt man schließlich. Allerdings kann zu viel Reue auch demotivierend beziehungsweise kontraproduktiv wirken (4).

Aber woher kommt das Verlangen der Menschen sich durch Floskeln, oberflächlicher Höflichkeit und Erwartungen das Leben schwer zu machen?

Wird man dadurch zu einem besseren Menschen? Denn darum geht es doch im Endeffekt: seinem Gegenüber zu demonstrieren, dass man ein gönnerhafter Charakter ist, der sich ständig und zu jeder Zeit um seine Mitmenschen bemüht. Natürlich ist das wichtig und Menschlichkeit ist meiner Meinung nach mit Abstand die größte und zugleich wichtigste Tugend, aber vergessen wir durch zu viele Nichtigkeiten nicht das eigentlich Wichtige?

Wirklich präsent zu sein. Frei von Erwartungsdruck und Zwängen zu handeln, ohne Angst zu haben, gesellschaftlich degradiert zu werden? Angst lähmt … Wie soll man sich frei entfalten, wenn überall Grenzen gezogen werden, die scheinbar mit Stacheldraht gesichert dem Individuum jedes Mal einen Schlag versetzen, wenn es sich nicht korrekt verhält?!

„Es gibt kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit.“ — Aristoteles, antiker Philosoph, 384 v. Chr. bis 322 v. Chr.

Keiner will angelogen werden, aber niemand scheut sich zu lügen. Ist das nicht paradox? Sollte eine freie Meinungsäußerung und Verständnis für Fehltaten oder Ausrutscher nicht selbstverständlich sein. Steht derjenige, der verurteilt nicht letztlich am meisten unter Druck fehlerfrei zu sein?! Sind wir nicht alle manchmal gern ein wenig verrückt, nicht normal, ein wenig falsch? Ich zumindest schon.

Wieso haben wir an den witzigsten Abenden meist „zu viel getrunken“ und nicht „die richtige Menge“?! Warum haben wir durch stundenlanges Tanzen übertrieben, und uns nicht einfach nur ausgetobt?! Solange ich mir der Konsequenzen bewusst und bereit bin, den Kater am folgenden Morgen mit Würde zu (er)tragen, ist doch alles gut. Warum sollte ich also das Gefühl haben, mich dafür schämen zu müssen, indem ich mein Verhalten selbst als „mal über die Stränge schlagen“ stigmatisiere?!

Die Schuldfrage ist vielleicht vor Gericht ausschlaggebend, aber innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen sollte sie doch eher weniger eine Rolle spielen.

Sich schuldig fühlen ist kein schönes Gefühl. Etwas bereuen müssen auch nicht. Jedoch wurden wir bereits in frühester Kindheit darauf konditioniert moralisch zu Handeln und Schuld zu empfinden, als auch andere auf ihr fehlerhaftes Verhalten hinzuweisen.

Natürlich erfüllt das den wichtigen Zweck, dass der Mensch lernt, Gut und Böse zu unterscheiden, aber wie bereits zu Beginn angemerkt gibt es meiner Meinung nach ein angeborenes Empathiempfinden — es ist eine Art „Selbstreinigung“, die den Menschen dahingehend lenkt, kein Leid mit Absicht zu erzeugen.

Die Erfüllung einer fremden Erwartungshaltung gehört jedoch nicht zwangsläufig dazu, denn dadurch lösen wir einen enormen Anpassungsdruck, der sich im Verhalten niederschlägt, auf jeden Einzelnen von uns aus. Wer möchte schon gerne nicht den Erwartungen entsprechen? Allerdings suggerieren wir damit auch, dass nicht jeder, wie es immer heißt, für sein Schicksal selbst verantwortlich ist, sondern auch für das der anderen Menschen.

So viel Nächstenliebe ist nicht einmal in der Bibel anzutreffen, jedoch wird sie im Alltag an jeder Ecke eingefordert.

Wer sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, der scheitert an der ersten Kreuzung des Lebens, bei seiner Geburt, die nur durch das Miteinander von Mutter und Kind erfolgen kann. Und dies setzt sich im ganzen Leben fort, in dem ein gigantisches Missverständnis Einzug gehalten hat, nämlich, was das eigene Schicksal sein soll; wenn nicht lediglich das Handeln, was ja nicht ausschließt, Unterstützung anderer Anzunehmen oder zu erbitten, wenn man diese braucht.

Aber wie wird das Individuum zur Selbstbestimmung erzogen, wenn sein Handeln eben nicht selbstbestimmt funktioniert, hingegen aber von etlichen Leitfäden und Ansprüchen geprägt ist?

Wer sich ab und an die Frage stellt, ob er sich gerade frei für sein Handeln und seine Reaktion entschieden hat, wird schnell merken, dass wir oftmals unterbewusst zugunsten gesellschaftlicher Zwänge — in Form von Verhaltenszwängen — reagieren.

Sich dem zu entziehen bedeutet gleichzeitig, die Konsequenzen zu tragen. Die volle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Davor graut es den meisten, auch mir manchmal. Aber Integrität ist anders nicht zu erreichen. Auch moralische Integrität nicht.


Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Portal „Neue Debatte. Journalismus und Wissenschaft von unten“.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Psychopathie bezeichnet eine schwere Persönlichkeitsstörung. Sie geht einher mit dem weitgehenden oder völligen Fehlen sozialer Verantwortung, Gewissen und Empathie, also der Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen.

(2) Zitiert nach Esther Perel: „Rethinking infidelity… a talk for everyone who has ever loved.“ Auf TED Talk https://www.ted.com/talks/esther_perel_rethinking_infidelity_a_talk_for_anyone_who_has_ever_loved(abgerufen am 08.11.2018).

(3) Gaius Julius Cäsar (100 v. Chr. – 44 v. Chr.) war ein römischer Feldherr, Staatsmann und Autor (unter anderem Aufzeichnungen zum Gallischen Krieg und Aufzeichnungen zum Bürgerkrieg). Cäsar trug zum Ende der Römischen Republik bei, die in ein Kaiserreich umgewandelt wurde. 46 v. Chr. hatte sich Caesar zum Diktator ernennen lassen. Der römische Senat ernannte ihn Anfang 44 v. Chr. sogar zum Diktator auf Lebenszeit (dictator perpetuus). Cäsar geriet in den Verdacht, er wolle die bestehende Ordnung beseitigen und eine Monarchie errichten. Ehemalige Anhänger und Günstlinge verschworen sich gegen Caesar. Er wurde am 15. März 44 v. Chr. von einer Gruppe Senatoren während einer Senatssitzung mit 23 Dolchstichen ermordet. An der Tat sollen etwa 60 Personen beteiligt gewesen sein.

(4) Zeit-Campus: Ja! Nein! Vielleicht? Auf https://www.zeit.de/campus/2016/03/entscheidung-gruebeln-bereuen-experten (abgerufen am 09.11.2018).


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