Die Selbstwerdung

Haben wir endlich den Mut, an uns selbst zu glauben und aus uns selbst heraus zu handeln.

Angesichts der immer kritischer werdenden Lage unserer Welt und Umwelt verlangen viele von uns nach konkreten Handlungsanweisungen. Zwar haben wir uns im Laufe der Zeit immer mehr emanzipiert, wollen aber doch in gewisser Weise an die Hand genommen werden. Man soll uns sagen, wo es langgeht und wie es geht. Diese Haltung hindert viele daran, aus sich selbst heraus ins Handeln zu kommen.

Was tun angesichts der Lage der Welt? Wie ins Handeln kommen? Wie andere dazu bringen, es ebenfalls zu tun? Viele verzweifeln an der Frage, wie wir uns angesichts der drohenden globalen Verwerfungen und Zerstörungen verhalten sollen, vor allem aber daran, dass die Mehrheit der menschlichen Bewohner des Planeten sich diese Fragen offenbar gar nicht stellt.

Viele von uns scheinen darauf zu warten, dass ihnen fertige Lösungsvorschläge in die Hand gegeben werden, konkrete Handlungsanleitungen, wie wir das Steuer noch einmal herumreißen können. Währenddessen machen wir weiter wie bisher: Wir essen jeden Tag Fleisch und Aufschnitt, haben ein Auto – oder auch zwei –, verbringen einen Großteil unserer Zeit vor möglichst brandneuen Bildschirmen, kaufen im Supermarkt Produkte multinationaler Unternehmen, kippen Gift in unsere Körper, Häuser und Gärten und fliegen in ferne Länder, wo die Natur noch so schön ist.

Die Sehnsucht nach konkreten Lösungsvorschlägen

Bei denen, die erkennen, wie ernst die Lage ist, wächst jedoch die Ungeduld. Protestieren müssen wir! Aufmarschieren! Die anderen aufrütteln! Endlich etwas tun! Es kann doch nicht wahr sein, dass wir unserem eigenen Untergang beteiligungslos beiwohnen! Wir brauchen konkrete Vorschläge. Anleitungen, was genau zu tun ist, Gebrauchsanweisungen, wie mit derartigen Krisen umzugehen ist.

Eine Prise Salz, ein bisschen Pfeffer, zwei links, drei rechts, eine Masche neu aufnehmen – doch so einfach ist es nicht. Niemand scheint ein Rezept zu haben für den großen Umschwung, den wir uns doch alle wünschen. Und so dösen wir weiter vor uns hin und kommen erst dann in Bewegung, wenn jemand anderes es wagt, etwas vorzuschlagen. Dann wird protestiert. So einfach ist das nicht! So kann die Lösung ja nicht aussehen!

Folgen statt vorangehen

Es ist, als ob wir uns wünschen, dass uns jemand Vorschriften macht, die wir dann kritisieren können. Oder dass jemand daherkommt, der genau das vorschlägt, was man selbst ungefähr denkt. Er müsste es dann nur zuerst machen und sozusagen den Weg freiräumen. Wenn die Luft rein ist, würde man wohl auch folgen. Denn wer anfängt, ist schuld. Wer das erste Angebot macht, hat verloren – so heißt es in der Geschäftswelt. Also warten wir darauf, dass jemand anderes den Kopf hinhält.

Früher wurden Leute, die sich zu weit aus dem Fenster gelehnt haben, auf Scheiterhaufen verbrannt. Wer es wagte, sich von der vorherrschenden Meinung zu entfernen und etwas anderes vorzuschlagen, wurde lächerlich gemacht, ausgegrenzt oder als gefährlich verfolgt. Die Erde ist eine Kugel, Schwarze sind Menschen, Frauen haben Rechte, unser Universum beschränkt sich nicht nur auf seine materielle Dimension – Vordenker haben es seit jeher schwer.

Unser Fortschritt scheint uns leider auch nicht toleranter und offener für Neues gemacht zu haben. Dabei haben wir doch im Laufe der Zeit gelernt, eigenständig zu denken! Wir folgen nicht mehr jenen, die behaupteten, dass die Welt mit ein paar Vaterunsern und Avemarias wieder in Ordnung gebracht werden könne. Wir haben unsere Würde entdeckt und unseren freien Willen. Wir haben gelernt, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen.

Doch wirklich frei sind wir dabei nicht geworden. Seit wir die alten Korsagen abgestreift haben, nehmen gewiefte Verkäufer und mit allen Wassern gewaschene Geschäftsmänner unsere Köpfe in Besitz und erzählen uns, dass Gefühle gefährlich sind. Und so stellen wir verwirrt fest, dass trotz all unserer Befreiungsschläge die Welt nicht wirklich besser geworden ist. Die Mächtigen sind heute mächtiger, die Reichen reicher und die Welt kaputter denn je.

Eigene Wege

Als ich krank wurde, sagte mir jemand, dass es jetzt weniger darauf ankommen würde, was ich tue, sondern vielmehr darauf, wie ich bin. Ich verstand nicht. Sollte ich etwa die Hände in den Schoss legen und zuschauen, wie sich der Krebs weiter ausbreitet, und abwarten? So konnte es nicht gemeint sein. Mir wurde klar, dass es sich nicht um ein passives Erdulden handeln konnte, einen Rückzug in eine heile Gedankenwelt.

Es ging um etwas, was mich in meiner Gesamtheit betraf, in meinem Sein und in meinem Bewusstsein, in meinem Denken, Fühlen und Handeln. Es konnte nicht damit getan sein, einem Protokoll zu folgen und andere machen zu lassen. Etwas in mir musste in gewisser Weise aufgeschlossen werden, damit sich grundsätzlich etwas verändern konnte. Einem so umfassenden Übel wie dem Krebs kommt man nicht mit ein paar Rezepten bei.

Es ging um mich, bis in die letzte Zelle meines Körpers hinein. Mein Engagement war hundertprozentig gefragt. Ich musste mit dem, wofür ich mich entschied, voll und ganz einverstanden und in Einklang sein. Das konnte nur mir entspringen. Es konnte mir nicht von jemand anderem verkauft oder vermittelt werden.

Schwätzer und Angsthasen

So stand ich alleine da, konfrontiert mit der Aufforderung, nicht mehr im Außen zu suchen und die Antworten von anderen zu erwarten, sondern in mir auf Entdeckungsreise zu gehen. Wie sah es da aus? Wie war ich mit mir selbst? Wie verhielt ich mich anderen und meiner Umgebung gegenüber? Lebte ich so, wie ich es mir wünschte?

Es ist verhältnismäßig leicht, sich darüber Gedanken zu machen, was das Kollektiv machen müsste, damit die Dinge sich zum Besseren wenden. Es ist einfach vorzugeben, sich für den Weltfrieden engagieren zu wollen. Doch bei sich selbst tatsächlich anzufangen und mit dem nervigen Nachbarn Frieden zu schließen oder eine liebevolle, authentische Beziehung zu seinem Partner oder seinen Kindern zu entwickeln, das ist eine andere Aufgabe.

Wer von anderen fordert, sich respektvoller und bewusster zu verhalten, während er selbst sich darauf beschränkt, seinen Müll vorschriftsmäßig zu trennen und mit der Faust auf den Biertisch zu schlagen, und ansonsten genauso weitermacht wie bisher, ist nichts weiter als ein Schwätzer, der anderen die Energie raubt. Er steckt in der Haltung eines Angsthasen fest, der sich nicht traut, sich die Finger schmutzig zu machen und bei sich selbst anzufangen.

Wer nicht selber bereit ist, die Produkte multinationaler Konzernriesen zu boykottieren und seinen Alltag damit etwas unbequemer zu machen, wer aus Angst vor materieller Unsicherheit einen Job behält, der keinen Sinn macht oder anderen sogar schadet, wer sein Gift in sozialen Netzwerken versprüht, den kann man nicht ernst nehmen.

Aus innerem Frieden heraus handeln

Kehren wir vor unserer eigenen Tür. Begraben wir unsere „Das-bringt-ja-nichts“-Haltung und fangen wir einfach mal an. Setzen wir uns zum Beispiel hin und probieren aus, was passiert, wenn wir ruhig ein- und ausatmen. Einfach so. Folgen wir unserem Atem und gucken, was passiert. Wie fühlt es sich an? Welche Gedanken kommen vorbei? Lassen wir sie los. Sie kommen natürlich wieder. Lassen wir sie wieder los, ohne es uns übel zu nehmen, dass wir „den Kopf nicht leer kriegen“. Seien wir einfach da, bei uns, und nehmen das, was ist, so an, wie es eben gerade ist.

Das ist für mich eine Anleitung, die hilfreich ist. Das Handeln, das sich daraus ergibt, wird ein friedliches sein. Denn in dieser banal erscheinenden Übung spüren wir nicht nur die Verbindung mit uns selbst. Indem wir uns auf diese Weise innerlich öffnen, machen wir uns auch für andere offen. Das daraus resultierende Handeln braucht keine weitere Anleitung. Es entfaltet sich von ganz alleine, im Sinne aller.

Aus dieser Haltung heraus finden wir die Verbindung zu anderen, die sich in konkreten Projekten engagieren – und davon gibt es inzwischen unzählige. Menschen, die einfach angefangen haben zu tun, was sie für sinnvoll halten, während andere nur darüber palavern, wo man anfangen sollte und wo nicht. Wir brauchen uns nur ein wenig umzusehen oder uns von Filmen wie „Tomorrow“ oder „A quest for meaning“ (1) inspirieren lassen. Damit sind wir mehr als genug beschäftigt und müssen nicht mehr wie Kinder an einem langweiligen Sonntagnachmittag die Eltern fragen „Und was machen wir jetzt?“


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://www.tomorrow-derfilm.de, https://aquestformeaning-themovie.com