Die Stigmatisierung der Opfer

Was wir „psychische Krankheiten“ nennen, ist sehr oft die Folge sexueller Traumata. Exklusivabdruck aus „Liebe, Lust und Trauma“.

Diagnosen wie „Angst-“, „Zwangsstörung“ oder „Schizophrenie“ verleugnen den traumatischen Hintergrund der damit benannten Symptome. Traumata werden von biologisch orientierten Medizinern nur als unwichtige Begleiterscheinungen von vermeintlichen „psychischen Erkrankungen“ gesehen, deren Ursachen in den Genen der Betroffenen vermutet wird. So werden Traumaopfer als Kranke stigmatisiert, ihre Symptombildungen nicht als psychische Überlebensstrategien erkannt. Deshalb wird ihnen auch keine adäquate Hilfe zuteil. Gleichzeitig werden dadurch die Traumatäter entlastet, indem die Folgen ihrer Taten nicht als solche benannt werden. Hinzu kommt: Auch viele Mediziner sind ebenfalls schwer traumatisiert, ohne das wahrhaben zu wollen. Das Kleinreden der wahren Ursachen psychischer Auffälligkeiten hilft auch ihnen beim Verdrängen und Abspalten.

Psychische „Krankheiten“?

An dieser Stelle möchte ich einen eindringlichen Appell an die Fachkollegen der Psychiatrie richten. Nach meinen Erfahrungen sind Psychotraumata und insbesondere das gesamte Paket einschließlich der sexuellen Traumatisierung die Hauptursache für die Symptome, die psychiatrisch als schwere „psychische Erkrankungen“ diagnostiziert werden. Weswegen solche Traumaopfer und Traumatäter zuweilen auch in den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Kliniken landen und zwangsbehandelt werden.

Mit Diagnosen wie „Angststörungen“, „Zwangsstörungen“, „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“, „Schizophrenie“, „Psychose“, „dissoziative Identitätsstörung“, „Sozio“- oder „Psychopathie“ et cetera ignoriert das System der biologisch orientierten Psychiatrie die traumatischen Hintergründe solcher Symptomgruppen. Es tut so, als wäre das traumatische Geschehen nur eine Randbedingung für vermeintliche „psychische Erkrankungen“, die durch „Gene“ und einen angeblich „gestörten Gehirnstoffwechsel“ verursacht seien. Traumata erhöhten nur die „Vulnerabilität“. Damit wird die Psyche der Menschen nicht ernst genommen! Die Traumaopfer mit ihren verzweifelten und hilflosen Opferüberlebensstrategien werden so nicht gesehen. Es wird ihnen keine adäquate Hilfe zuteil (1).

Die Gabe von Psychopharmaka ist aus meiner Sicht selbst eine Psychotrauma-Überlebensstrategie der vermeintlichen Experten.

Dieses System schützt zugleich die Traumatäter. Es hält mit seiner Praxis die inneren Spaltungen der Betroffenen aufrecht, verstärkt sie weiter und fügt ihnen durch die Wirkungen der Medikamente noch weitere körperliche Schäden zu. Es deckt systematisch einen gesamtgesellschaftlichen Skandal, weil damit das ganze Ausmaß sexueller Traumatisierungen in einer Gesellschaft verschleiert wird (2).

Schätzungen zufolge macht etwa jede vierte bis dritte Frau in Deutschland in ihrem Leben sexuelle Gewalterfahrungen. Auch fünf bis 15 Prozent aller Männer sind Sexualtraumaopfer. Da ich mit meinen Seminaren weltweit unterwegs bin, sehe ich, dass in jeder Gesellschaft das Thema sexuelles Psychotrauma vorkommt. Es ist als Beiwerk von Kriegen und Bürgerkriegen an der Tagesordnung und in vielen Familien seit Generationen übliche Praxis. Es wird überall verschwiegen, geleugnet und unter den Teppich gekehrt. Die Opfer müssen schweigen, sie werden selbst als die Schuldigen dargestellt. Sie erfahren keine Loyalität in ihren Familien, keinen Schutz durch die Polizei und nur selten Genugtuung durch die Justiz. Die Täter werden vor Strafverfolgung systematisch geschützt. Ein Beispiel: „Das Leben von zwei Dritteln der mexikanischen Frauen über 15 Jahren ist von Gewalt durchtränkt. In vielen Fällen beginnt der Missbrauch in der Kindheit“ (3).

Gewalt oder Verführung?

Zu einem Trauma der Sexualität kann es kommen, wenn die eigene Sexualität dafür eingesetzt wird, um nicht allein zu sein und die Illusion zu haben, körperlich berührt und geliebt zu werden und dadurch eine Daseinsberechtigung zu bekommen. Bei einem sexuellen Psychotrauma in der Kindheit geht die Initiative für den sexuellen Kontakt, der oft mit Streicheln, Küssen, Liebkosungen, auch seitens des Kindes, beginnen kann, zunächst von einem Täter aus. Dieser leidet in der Regel ebenso unter einem Trauma der Identität und einem Trauma der Liebe wie sein Opfer.

Weil das Opfer sexueller Gewalt in der Regel mit diesen beiden Traumaformen zu kämpfen hat, kann es sein, dass es die Illusion des Täters mitspielt, sexuelle Übergriffigkeit und Gewalt mit Zuwendung und Liebe zu verwechseln.

Der Täter stellt sich seinem Opfer als sein Retter dar, der es vor der Gewalt anderer – zum Beispiel seiner Mutter oder seines Vaters — in Schutz nimmt. Er versucht, seinem Opfer die aufgezwungene Sexualität als Liebe und Lust schmackhaft zu machen. In Wirklichkeit aber zieht er das Opfer nur in seine Trauma-Überlebensstrategien hinein und fordert als Preis für den Kontakt seine sexuelle Befriedigung ein.

Das ist für das Opfer schmerzhaft, aber vor allem tief beschämend, auch wenn es ein wenig Wärme durch den Hautkontakt, sexuelle Erregung und angenehmes Kribbeln dabei verspüren mag. Dass eine genitale, orale oder anale Vergewaltigung „schön“ und „lustig“ sei, ist die pure Einbildung des Traumatäters, der es gern hätte, dass auch sein Opfer das so sieht.

Von diesem Verführungsszenario, das vermutlich mit der Mehrzahl aller sexuellen Psychotraumata einhergeht, ist das brutale Gewaltszenario zu unterscheiden. Hier lebt der Täter seinen Wahn aus, das Opfer durch den sexuellen Akt physisch und psychisch zu vernichten. Im Opfer können keine Illusionen aufkommen, vom Täter geliebt zu werden.

Sex als Psychotrauma-Überlebensstrategie

Zuweilen erscheint es mir fast schon wie die Ausnahme, wenn jemand, der mich um therapeutische Begleitung ersucht, in seinem Leben nicht auch sexuelle Traumaerfahrungen machen musste. Das gilt für Frauen wie für Männer. Das epidemische und globale Ausmaß sexueller Traumatisierungen wirft die Frage auf, wie normal die in den jeweiligen Gesellschaften gelebten Formen von Sexualität tatsächlich sind:

  • Wie umfassend sind sie von Liebesillusionen und falschen Vorstellungen von Sexualität gespeist?
  • Wie weit sind sie nur ein Versuch, Einsamkeit zu überspielen?
  • Wie sehr sollen sie einen nicht vorhandenen Selbstwert kompensieren?
  • Wie oft sind sie nur ein Versuch, sich kurzfristig Erleichterung vom Dauerstress der eigenen Lebensführung zu verschaffen?
  • Wie häufig wird Sex rücksichtslos gegenüber körperlichen Verletzungen und Infektionen praktiziert?
  • Wie bedenkenlos wird Geschlechtsverkehr ausgeübt, ohne das Risiko ungewollter Schwangerschaften in Betracht zu ziehen?
  • Wie häufig wird „echte Männlichkeit“ oder „ursprüngliche Weiblichkeit“ als Pseudoidentitäts-Schablone benutzt, um die eigenen Kindheitstraumatisierungen nicht zu spüren?
  • Wie gesund sind die sexuellen Praktiken im jeweiligen homo-, bi- und transsexuellen Milieu?

Sexualität, die als Psychotrauma-Überlebensstrategie praktiziert wird, verbindet nicht mit einem anderen Menschen, sie führt nur noch weiter in die persönliche Isolation. Sex zu haben wird zuweilen sogar gezielt dafür verwendet, sich in dissoziative Zustände zu flüchten.

Sex zur Dissoziation

In einem meiner Seminare sagte die Teilnehmerin:

„Ich genieße Sex, weil mich das in einen dissoziativen Zustand versetzt. Ich trenne mich dann von meinem Körper und gehe in einen völlig weißen Raum, in dem es mir gut geht.“

Angesichts des enormen Ausmaßes an Traumatisierungen in vielen Gesellschaften nimmt es nicht wunder, wenn Sexualität vielerorts massenhaft suchtartig praktiziert und wie eine Droge benutzt wird. Sie wird häufig in Kombination mit Alkohol und anderen Rauschgiften ausgelebt. Am Beispiel einer sexuell traumatisierten Frau wurde mir folgendes deutlich:

Legalize surviving!

Die Legalisierung von Cannabis ist der gesellschaftliche Versuch, eine weitere, viel genutzte Psychotrauma-Überlebensstrategie zu normalisieren. Diese Frau war aus ihrem Herkunftsland Rumänien eigens in die Niederlande übergesiedelt, weil sie dort ungestraft Cannabis konsumieren konnte, um ihre Traumagefühle zu betäuben.

Der Hinweis auf Drogenkonsum dient Tätern wie Opfern dazu, hinterher entschuldigend sagen zu können, man habe einen Filmriss gehabt, könne sich an nichts erinnern und sei für das Geschehene nicht verantwortlich. Auch wenn es keine bewussten Erinnerungen geben mag und die Überlebensstrategien alles dafür tun, um keine Erinnerungen zu haben, Traumaerinnerungen brennen sich im Körper eines Täters und in den Körper eines Opfers ein. Auch die Täter ekeln sich in ihren gesunden psychischen Strukturen vor dem, was sie tun. Sie müssen sich daher noch weiter von sich selbst abspalten. Im Extrem kommt es dazu, dass ein Körper ohne Kopf Sex macht mit einem Kopf ohne Körper. Häufig sind es Männer, die gedanken- und verantwortungslos Sex praktizieren mit Frauen, die längst jeglichen Kontakt zu ihrem Körper verloren und aufgegeben haben.

Eigentlich suchen die meisten Menschen nach Liebe und wohltuenden Körperkontakt. Sexualität allein kann nur Lust machen. Liebe kann nur in einer Beziehung entstehen. Daher ist beziehungslos gelebte Lust ein Strohfeuer, das schnell erlischt.

Es muss immer wieder entfacht werden, um für kurze Momente ein wenig Wärme zu erzeugen. Viele fühlen sich nach einem Orgasmus ohne zwischenmenschliche Liebe und Berührung noch leerer als zuvor, weil sie nun erst recht ihre Einsamkeit spüren. Weil ihnen emotionale Nähe wegen ihrer frühen Traumatisierungen aber Angst macht, können sie ihre innere Ampel nicht einfach auf Beziehung umschalten.

Sie bleiben weiterhin allein, betäuben den Schmerz ihrer Einsamkeit und suchen ihr Heil in einer Steigerung der Lustformen, wie ich sie zuvor bereits beim Stichwort „Sexsucht“ beschrieben habe. Statt Lust erfahren sie am Ende erneut nur Schmerz, Scham und Ekel. Damit sind sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, den sie eigentlich nicht wahrhaben wollen: ihrer zutiefst schmerzhaften Urerfahrung, von ihrer Mutter und ihrem Vater nicht gewollt, nicht geliebt und nicht geschützt worden zu sein.

Sexualtrauma-Partnerschaften

Finden sich zwei traumatisierte Menschen als Partner, so kann es in der Anfangszeit ihrer Beziehung durchaus sein, dass sie sexuelle Höhenflüge erleben und alle möglichen Varianten intensiven Geschlechtsverkehrs miteinander haben. Oft ist es jedoch so, dass die sexuell traumatisierten Frauen ihre in ihrer Kindheit herausgebildeten Überlebensstrategien aktivieren, um ihre Partner zu befriedigen und an sich zu binden. Diesen erscheinen sie dann wie Traumfrauen, die jederzeit zum Sex bereit sind und ihnen alle Wünsche erfüllen. Diese Frauen machen jedoch Sex in völlig dissoziierten Zuständen, in denen ihr gesundes Ich und Wollen weit weg ist. Kommt es bei ihnen zum Orgasmus, verlassen sie mental ihren Körper. Selbst wenn es innerhalb einer solchen Partnerschaft regelmäßig zu Gewaltausbrüchen kommt, dient der Sex dazu, die Beziehung dennoch fortzusetzen und die Illusion von Verbundenheit aufrechtzuerhalten.

Auch viele Männer sind in solchen Beziehungen beim Sex nicht bei sich. Sie wollen mit ihrem Penis und ihrer Körperkraft imponieren. Sie wollen beweisen, dass sie eine Frau zum Orgasmus bringen können, damit diese Frau dann gar nicht mehr anders könne, als ihnen sexuell hörig zu sein. Umso frustrierter sind sie, wenn es ihrer Partnerin nach einiger Zeit nicht mehr gelingt, ihre Überlebensanteile für den Sexualverkehr zu aktivieren und sich stattdessen andere Anteile in den Vordergrund drängen, die Sex ekelhaft finden und die körperliche Nähe eines Mannes nicht ertragen können. Dann verstehen sie die Welt nicht mehr und werden wütend und aggressiv. Manche schlagen dann sogar ihre Frauen.

Neuinszenierungen

Aufgrund der psychischen Spaltungsprozesse besteht bei allen Formen von Psychotraumata ein hohes Risiko, sie immer wieder neu zu inszenieren. Da sie verdrängt werden und die Überlebensstrategien den Bezug zur Realität verlieren, werden auch bestehende Gefahren nicht erkannt, werden Risiken über- oder unterschätzt, werden alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord geworfen und alle Warnungen in den Wind geschlagen. Offensichtliche Täter werden nicht wahrgenommen, und es werden dort Täter gesehen, wo gar keine sind.




Quellen und Anmerkungen:

(1) Duncker und Hirschelmann, 2018.
(2) Ruppert, 2018.
(3) Süddeutsche Zeitung, 2018, Seite 14.

Das Literaturverzeichnis mit den vollständigen Quellenangaben finden Sie im Buch.