Die Unbelehrbaren

Die Menschheit erkennt ihre Fehler immer erst im Rückblick — bis dahin steuert sie unbeirrt auf den Abgrund zu. Exklusivabdruck aus „Normopathie: Das drängendste Problem unserer Zeit“.

Ein Sprichwort sagt: „Der aktuelle Stand der Wissenschaft ist immer der fortschrittlichste Stand des Irrtums.“ Natürlich macht die Wissenschaft Fortschritte, gelegentlich auch Rückschritte, aber es vergeht kein Jahrzehnt, in dem nicht vermeintlich gesicherte Erkenntnisse in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen revidiert werden müssten. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Ethik, mit dem Urteil einer Gesellschaft darüber, welche Ideen und Verhaltensweisen akzeptabel sind. Keine Zivilisation in der Vergangenheit hat die pathologischen Aspekte ihrer Normalität erkannt. Welchen Grund hätten wir, anzunehmen, dass dies heute anders ist? Was macht uns so sicher, dass kommende Generationen nicht auf die heutige Zeit zurückschauen werden und Missstände, einschließlich massiver ethischer Verirrungen, benennen werden, die wir heute als normal ansehen? Exklusivabdruck aus „Normopathie: Das drängendste Problem unserer Zeit. Selber denken — kritisch bleiben“.

In den 1950er- und 1960er-Jahren herrschten in den Südstaaten der USA strikte Rassentrennung und massive Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung. In dieser Zeit begann ein weißer Prediger vehement gegen die Rassentrennung zu protestieren. Er gründete eine Gemeinde, in der Afroamerikaner willkommen waren und als völlig gleichberechtigt galten. Eine Weile lebte er dann mit seiner Gemeinde in Kalifornien und wurde Berater einiger lokaler Politiker, die er stets dahingehend beeinflusste, die Rechte von Afroamerikanern und von Homosexuellen zu stärken. Afroamerikaner, Schwule und Lesben schlossen sich gerne seiner Gemeinde an, denn hier fanden sie einen Fürsprecher für ihr Anliegen, einfach gleichberechtigt mit anderen Menschen leben zu können. Klingt das nicht alles sehr gut?

Der Mann, um den es hier geht, hieß Jim Jones (1931 bis 1978). Er führte seine Anhänger 1978 in den größten Massenselbstmord der modernen Geschichte. Jones war mit Sicherheit ein Psychopath, selbstverliebt und gefährlich. Unauffällige weiße Bürger der Südstaaten der 1950er-Jahre hätten niemals einen Massenselbstmord angezettelt. Sie haben aber auch in den meisten Fällen das himmelschreiende Unrecht, das an ihren afroamerikanischen Mitmenschen verübt wurde, einfach mitgetragen und als normal akzeptiert.

Die große Mehrheit der Amerikaner in den späten 1960er-Jahren, als Jones sich für die Rechte von Homosexuellen einzusetzen begann, sah in Homosexualität eine Sünde und eine Krankheit. Sich selbst als messianischen Anführer aufzuspielen, das hätten sich diese „normalen“ Amerikaner sicher nicht getraut. Aber ebenso wenig trauten sie sich, Vorurteile gegenüber Menschen anderer sexueller Orientierung zu überwinden.

Warum konnte ein Psychopath wie Jones erkennen und aussprechen, dass bestimmte Aspekte der amerikanischen Normalität menschenverachtendes Unrecht waren? Warum war ausgerechnet ein Psychopath wie er in Menschenrechtsfragen auf einer Linie mit mutigen, charakterstarken Menschen wie Rosa Parks (1913 bis 2005), Martin Luther King (1929 bis 1968) oder Harvey Milk (1930 bis 1978)?

Wenn eine Gesellschaft starke normopathische Züge aufweist, gibt es immer wieder Menschen von besonderer Charakterstärke, die sich nicht in die normopathische Anpassung zwingen lassen.

Am Beispiel von Wilberforce können wir sehen, welch große innere Kraft es braucht, aus der bequemen konformistischen Lebenshaltung zu einem Standpunkt zu finden, der einer tieferen inneren Wahrheit entspricht. Und so sind es besondere Menschen, die einen solchen Weg einschlagen. Aber die Fähigkeit zum Nonkonformismus zeichnet eben auch den klassischen Psychopathen aus, der sich nicht darum schert, was andere von ihm denken.

Eine der großen Gefahren der Normopathie besteht genau in diesem Punkt: Wenn normale, unauffällige Bürger großes Unrecht einfach ignorieren und als alternativlos mit einem Achselzucken abtun, werden sich nicht nur Menschen wie Wilberforce, Mahatma Gandhi (1869 bis 1948), Parks oder Maya Angelou (1928 bis 2014), sondern auch Psychopathen berufen fühlen, gesellschaftliche Veränderungen zu fordern. Sie mögen das weniger aus echter Empathie als aus dem Drang tun, ihr vermeintlich grandioses Selbstbild zu bestätigen, wie Jones, der im Laufe der Jahre immer fester davon überzeugt war, der Messias zu sein. Aber in der Sache können sie sehr wohl recht haben. Sollten wir Jones in Fragen der Gleichberechtigung von Farbigen und Homosexuellen nicht eher zustimmen als dem braven Durchschnittsbürger aus Alabama im Jahr 1960?

Einige weitere Beispiele der jüngeren Geschichte wären die folgenden Personen:

  • Prof. Werner Kollath (1892 bis 1970), ein überzeugter Nazi und Fördermitglied der SS, lobte die Rassenhygiene des Hitler-Regimes. Aber er sprach auch die großen gesundheitlichen Probleme, die durch industriell verarbeitete Nahrung verursacht werden, zu einer Zeit an, als Industrienahrung allgemein als fortschrittlich galt. Seine Warnungen zu den gesundheitlichen Folgen von raffiniertem Zucker haben sich als zutreffend erwiesen.
  • Che Guevara (1928 bis 1967) war trotz seines Ikonenstatus ein kaltblütiger Gewalttäter, der kein Problem damit hatte, 13-Jährige hinzurichten. Aber seine Kritik an den lateinamerikanischen Oligarchien, die auf Kosten des Volkes lebten, ist wohl kaum von der Hand zu weisen.
  • Charles Manson (1934 bis 2017) war wie Jim Jones ein psychopathischer Kultführer, der seine Anhänger zu blutigen Morden anstiftete. Im Gefängnis verfasste er viele fundierte Beiträge zum Umweltschutz und forderte eine grundlegende Abkehr von der zerstörerischen Lebensweise der modernen Zivilisation. Inhaltlich lag er damit sicherlich richtig, ungeachtet seines psychopathischen Charakters.
  • Andreas Baader (1943 bis 1977) wurde von ehemaligen RAF-Mitgliedern als ein zutiefst selbstverliebter Mensch ohne Empathie beschrieben. Seine Kritik am Vietnamkrieg war mit Sicherheit trotzdem berechtigt.

„Diejenigen, die nicht aus der Geschichte lernen, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Mit diesem Zitat von Winston Churchill (1874 bis 1965) aus einer seiner Reden im britischen Unterhaus von 1948 (1) begann dieses Kapitel.

Lernen wir nicht aus der Geschichte, werden wir an dem, was heutzutage in unserer Gesellschaft zutiefst krank und zerstörerisch ist, lange festhalten, weil dies bequem ist und der uns innewohnenden Tendenz zur Konformität entspricht. Wir werden Psychopathen auf den Plan rufen, die teilweise berechtigte Kritik an bestehenden Verhältnissen ausdrücken.

Ihr Charakter wird den Vertretern des Status quo willkommene Gründe liefern, die Kritik zurückzuweisen. Wir werden vielleicht erst dann einen Konsens dafür finden, dass Änderungen notwendig sind, wenn die dramatischen Folgen der Fehlentwicklungen — wie die Verarmung eines Großteils der Bevölkerung, die Zunahme an psychischen und umweltbedingten Krankheiten, das Artensterben und die Vernichtung der biologischen Lebensgrundlagen auf der Erde — ein Ausmaß erreicht haben, dass keine Ablenkung durch Konsum und kein Eintauchen in die virtuellen Welten des Internets mehr unsere Blindheit weiter aufrechterhalten können.

Die andere Möglichkeit besteht darin, dass wir aus der Geschichte lernen und anfangen, uns selbst unbequeme Fragen zu stellen.

Denn eine erste Lektion aus der Geschichte ist ganz sicherlich die, dass wir nicht damit beginnen können, anderen Menschen die Schuld für unsere Fehler zu geben.

Dass wir immer bei uns selbst anfangen müssen, destruktive Tendenzen zu erkennen. Sich offen der Überprüfung des eigenen Lebens zu stellen, das Unbequeme daran willkommen zu heißen und nicht davor zurückzuschrecken, ist ein erster möglicher Schritt auf dem Weg, die Geschichte nicht zu wiederholen.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Normopathie - Das drängendste Problem unserer Zeit Selber denken — kritisch bleiben“ von Christian Dittrich-Opitz und Christian Salvesen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Vergleiche winstonchurchill.org (Mai 2021).