Die unerreichbare Wahrheit

Wir sind täglich mit verschiedenen Narrativen konfrontiert und wählen, an welches wir glauben ― aber gibt es jenseits der Informationsblasen überhaupt eine universelle Wahrheit?

„Was ist Wahrheit?“, fragte Pontius Pilatus provokativ. Ist sie ein Ziel, dem wir uns mit etwas Mühe annähern können oder eher ein Phantom, das als objektive Realität gar nicht existiert? Wie können wir sicher sein, aufseiten der Wahrheit zu stehen? Schnell ist man von seinen eigenen Vorurteilen befangen und merkt es nicht einmal. Wir vertrauen unseren Quellen und halten unsere Meinungen, die natürlich immer auf mehrfach bewiesenen Tatsachen fußen, für vernünftig und rational ― doch jede unserer Annahmen könnte ein Irrtum sein. Ein paar kluge Menschen haben eine Karte der gängigen Wahrnehmungsverzerrungen angefertigt: den „Cognitive Bias Codex“. Egal wie oft wir schon falsch lagen, wir bleiben überzeugt: Heute sind wir klüger als gestern. Selbstsicher meinen wir, unsere aktuellen Erkenntnisse zeugten von einem gesunden Menschenverstand. Da aber niemals alle über alles vollständig informiert sein können, tendiert die Mehrheit dazu, die Wahrheitsangebote der Mächtigen und der Medien anzunehmen. Das ist gefährlich, weil es uns anfällig für Täuschung macht.

„Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe“ ― René Descartes.

Unbarmherzig sind nur die (irrationalen) Vorurteile der anderen. Plötzlich kann man in Sippenhaft geraten, weil die eigene Ansicht nach Meinung der Mainstreammedien mit dem falschen Milieu korrespondiert. Der Applaus von der „falschen Seite“ kann zur Rufschädigung beitragen. „Schauen Sie genau hin, mit wem Sie auf die Straße gehen!“, ein spektakuläres Pre-Framing, noch bevor irgendjemand auf die Straße gegangen ist.

Der Wahrheitskorridor ist ein schmaler Pfad, eine Gratwanderung. Als schlau gelten jene, die früh den Kanon der schon bald vorherrschenden Wahrheit erkennen und mit dieser im vorauseilenden Gehorsam übereinstimmen. Wer die offiziellen Narrative anzweifelt oder mit seiner Meinung abseits steht, gilt als verdächtig. An den Pranger werden Quer-Schwurbler, Delegitimierer, Demokratiefeinde et cetera gestellt — die „falsche Meinung“ könnte demnächst als „extremistisch“ eingeschätzt und sogar juristisch verfolgt werden. Wo sind wir bloß hingekommen?

Was ist Wahrheit

Weniger bekannte Informationen gelten heute schon vielen Menschen als „alternative Fakten“. Die abwertende Umschreibung bedeutet, es handle sich um Fake-News oder Falschinformationen. Sogenannte „Faktenchecker “ sollen heute den Menschen helfen, „Wahres“ von „Falschem“ zu unterscheiden. Doch wer genau betreibt die Faktenchecker-Portale und woher kommt das Geld, um die Mitarbeiter, die Büros und die Eigenwerbung zu bezahlen?

Gibt es einen Beweis dafür, dass die Informationen von den Faktencheckern tatsächlich nach wissenschaftlichen Methoden neutral bewertet werden? Dann müsste man aber erstmal definieren, woran man Neutralität und woran man Wahrheit erkennt. Die Suche nach Wahrheit war schon immer sehr schwierig, und blieb in früheren Zeiten nur sehr wenigen, zumeist Gelehrten und Philosophen vorbehalten.

Im Informationszeitalter sind wir in vielen Bereichen auf Vermittler und Experten angewiesen, die uns Teile der hochkomplexen Welt erklären. Doch diese Vermittler sind womöglich Teil eines gezielten Framings, welches auf subtile Weise dem Zuhörer eine bestimmte Wahrnehmung einreden möchte.

Aber auch ohne dass eine womöglich böse Absicht dahintersteht, geben medial vermittelten Informationen zumeist die subjektive Sicht der Autoren und Absender wieder, denn alles Sehen ist perspektivisches Sehen. Am Ende entscheidet vielleicht nur, wem wir zuhören (zu-ge-hören), wie wir die Welt sehen und uns selbst wahrnehmen.

„Wenn Sie die Zeitung nicht lesen, sind Sie nicht informiert. Wenn Sie die Zeitung lesen, sind Sie desinformiert“ — Mark Twain.

Kann Wahrheit mehrheitsfähig werden?

Wenn man Diskursen zu gesellschaftlichen Problemen in den Medien folgt, hat man oft den Eindruck, dass die beteiligten Akteure zutiefst davon überzeugt sind, es gäbe eine Notwendigkeit dafür, dass die Mehrheit der Menschen dieselbe Wahrheit auf die gleiche Art und Weise sehen, denn damit könnten dann die meisten Probleme gelöst werden. Witzigerweise habe ich für diese Annahme bisher keine Belege gefunden.

Natürlich wünschen sich die meisten Absender, dass ihre Perspektive von vielen geteilt wird, kurz: Sie möchten Bestätigung für ihre Sichtweise erfahren und am Ende vielleicht sogar recht behalten. Deshalb scheint es geradezu folgerichtig und notwendig, dass die Wahrheit mehrheitsfähig ist oder es zumindest bald wird. Aber die Wahrheit braucht keine Bestätigung, sie existiert auch ohne dass wir sie erkennen oder beschreiben. Die Wahrheit wird auch nicht durch Lügen oder Unwahrheiten geschwächt — den Belogenen wird lediglich die Möglichkeit der Erkenntnis genommen. Wenn die so Getäuschten wenig Interesse an ihrem Sein haben, wenn sie also nach dem Philosophen Martin Heidegger in „Seinsvergessenheit“ leben, bemerken sie den Verlust, den sie erleiden, möglicherweise nicht. Ob eine Gesellschaft in Seinsvergessenheit eine Zukunft hat, ist zumindest fraglich.

Gerade totalitäre Systeme brauchen immer eine erzeugte kollektive Sichtweise, eine verbindliche Ideologie, damit sie funktionieren. Das Ideal, dass die Wahrheit am besten von vielen oder sogar von allen Menschen geteilt werden sollte, führt leider direkt in den Bereich des Absurden. Denn es können nicht alle Teilnehmer alle Informationen aufnehmen, prüfen und neutral bewerten, um so zu einer möglichen universellen Wahrheit vorzudringen. Die Mehrheit der Menschen hat dafür kaum die Kapazität und bringt leider eher selten die Motivation auf, wirklich tief nach Erkenntnis zu schürfen.

So wie es aussieht, sind wir dazu verurteilt, in einer vielfältig verzerrten und fraktalen Wirklichkeit zu leben, in der jedes Individuum seine eigene Realität erschafft.

Die Philosophie des Radikalen Konstruktivismus scheint diese Weltsicht zu bestätigen. Der Begründer des Radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfeld sah das Kernproblem der abendländischen Erkenntnistheorie folgendermaßen: „Erkennen zu wollen, was außerhalb der Erlebniswelt liegt.“

Verblendung, Geistesgeschichte und Platons Höhlengleichnis

„Verblendung ist ein Grundthema der europäischen Geistesgeschichte, von den homerischen Epen über die Theologie bis zur modernen Philosophie. Die Bedeutungsbreite reicht von ‘Verwirrung der Sinne‘ und ‚Wahnvorstellung‘ über ‚Blindheit des Geistes‘ (..) und ‚Gottlosigkeit‘ bis hin zur modernen Deutung als ‚Realitätsverweigerung‘.“

So eröffnet der Wikipedia-Artikel zum gleichnamigen Thema. Dafür, dass Verblendung ein Grundthema der europäischen Geistesgeschichte sein soll, ist der Aufsatz erstaunlich kurz. Sehr merkwürdig ist auch, dass ein wichtiger Klassiker, sozusagen das Programmbild zum Thema, in diesem Artikel gar nicht erwähnt wird: Platons Höhlengleichnis.

Auf der Wikipedia-Seite zu Platons Höhlengleichnis staunt man gleichsam darüber, dass scheinbar nur wenige künstlerische oder geisteswissenschaftliche Werke die Idee des Höhlengleichnisses aufgegriffen haben. Ohne lange nachzudenken fallen mir einige Werke ein, die als Adaption des Höhlengleichnisses gelten könnten oder zumindest deutlich vom Motiv der Überwindung einer groß angelegten Täuschung/Verblendung inspiriert sind.

Hier eine kurze, unvollständige Liste:

Schöne neue Welt, Roman, Aldous Huxley, 1932: In einer dystopischen Zukunft lebt die Mehrheit der Menschheit seit Hunderten von Jahren in einem Weltstaat, der fast die gesamte Menschheit steuert und verwaltet. Die Menschen sind in vier Kasten eingeteilt und vollkommen versklavt. Sie werden permanent indoktriniert und mit Drogen ruhiggestellt. John Savage, der Wilde, stößt mit der formelhaften Kultur der neuen Zivilisation zusammen.

1984, Roman, George Orwell, geschrieben von 1946 bis 1948: Der allgegenwärtigen Überwachung zum Trotz versucht der Held, seine Privatsphäre zu wahren und etwas über die real geschehene Vergangenheit erfahren, die von der Partei durch umfangreiche Geschichtsfälschung verheimlicht wird.

Der futurologische Kongreß, Roman, Stanisław Lem, 1970: Der Protagonist des Romans besucht einen Kongress und bemerkt, dass die Besucher durch psychoaktive Substanzen manipuliert werden. Es brechen kriegsähnliche Unruhen aus, er wird medizinisch eingefroren und erst viele Jahre später wieder aufgetaut. Er erfährt, dass sich die Welt in der Zwischenzeit völlig verändert hat. Mit der Hilfe seines ehemaligen Professors kann er die Macht der allgegenwärtigen psychoaktiven Substanzen zeitweilig aufheben und so die reale Welt sehen.

Momo, Roman, Michael Ende, 1973: Die Agenten der „Zeitsparkasse“ stehlen den Menschen ihre Zeit mit dem falschen Versprechen, sie könnten diese Zeit für später aufheben. In Wahrheit zehren Agenten die gestohlene Zeit selbst auf. Die Hauptfigur Momo ist ein kleines Mädchen, das den Schwindel durchschaut und am Ende mit der Hilfe von Meister Hora die Agenten der Zeitsparkasse überlistet und entmachtet.

Sie leben, Film, John Carpenter, 1988: Der Held entdeckt durch einen Zufall eine außergewöhnliche Sonnenbrille, mit der es möglich ist, eine universelle Täuschung zu überwinden und so die Wahrheit zusehen. Die Welt wird von außerirdischen Wesen gesteuert, die sich als Menschen maskieren. Die Menschheit besteht aus Kollaborateuren und Sklaven. Der Held versucht, die universelle Täuschung auszuschalten, um so die Menschheit zu befreien.

Die Truman Show, Film, Peter Weir, 1998: Der Held entdeckt, dass er in einer künstlichen Welt lebt, und unternimmt einige Anstrengungen, um diese Welt der Täuschung zu verlassen.

Matrix Film Serie, vier Teile, 1999 bis 2021, Drehbuch und Regie: Die Wachowskis: Der Held wird aus einem Gefängnis befreit und entscheidet sich für die rote Pille, mit der er die Höhle der künstlichen Matrix-Welt verlassen kann. Im Folgenden kämpft die Hauptfigur mit ihren Partnern gegen eine übermächtige Maschinenwelt.

Zusammenfassung

Es ist erstaunlich, dass die zentrale Idee einer Welt voller Täuschung in vielen Dystopien und Fiktionen den dramatischen Hintergrund der Handlung bildet. Der Held, der in diesen Erzählungen die Täuschung durchschaut und am Ende aufhebt, ist oft nur eine Projektionsfläche für die Sehnsüchte und Wünsche der Zuschauer.

Viele dieser Fiktionen sind letztlich Schlaflieder, mit denen Kinder beruhigt werden — am Ende rettet Superman immer die Welt. Die Nachahmung des emanzipatorischen Helden ist aber von den Absendern eher nicht gewünscht. Die Fiktionalisierung birgt für die Manipulatoren sogar die Chance, die Täuschung weiter aufrechtzuerhalten, denn Interpretationen, die einen Vergleich mit der Realität wagen, können leicht abgewiesen werden: „Es ist nur eine frei erfundene Geschichte, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat! Nichts hängt mit Garnichts zusammen!“ Allerdings können Gleichnisse sehr wohl Aspekte einer verborgenen Wahrheit enthüllen.

Der Einfluss der Medienwelt auf die Psyche der Rezipienten und im Weiteren auch auf deren Wahrnehmung und Verhalten ist unbestritten. Dass einige Medienschaffende vorsätzlich die Rezipienten täuschen und manipulieren, ist Basiswissen der Medienkompetenz.

Dass das Vorenthalten von Informationen und Tatsachen auch eine Form der Manipulation darstellt: geschenkt. Dass Medien- oder/und Systemkritik über Zensur und Verächtlichmachung ausgeblendet wird, ist skandalös. Dass Meinungen, wie eingangs erwähnt, sogar als Extremismus/Gefährdung/ Delegitimierung justiziabel werden könnten, ist definitiv eine Bankrotterklärung. Ob es über den Medienkonzernen und dem politischen Establishment Strukturen gibt, die diese im Sinne einer Meta-Agenda steuern, gilt als umstritten. Die Annahme ist zumindest berechtigt. Der Ausbruch aus der geistigen Gefangenschaft in der Höhle/Hölle der Bevormundung durch einen „Großen Bruder“ ist die Herausforderung unserer Tage.

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“— Salvador Dali.