Die unerwünschte Souveränität

Alle Völker der Erde haben ein Recht auf Selbstbestimmung, so auch das Volk der Ostukraine. Teil 1/3.

Wie können alle Ethnien friedlich und auf Augenhöhe miteinander leben? Von diesem Wunsch, diesem Anliegen ist dieser Artikel geprägt. Wenn wir dahin kommen möchten, dann hilft es, vergangene Fehler zu analysieren und zu korrigieren. Wie ist es heute? Wie erlebten die Menschen in der Ostukraine die Zeit nach dem Putsch? Ist das Selbstbestimmungsrecht der Menschen im Donbass völkerrechtlich geschützt? In diesem Text geht es um eine Rückschau, vor allem aber um eine Einordnung des Kriegs in der Ukraine aus völkerrechtlicher Sicht. Der erste Teil beschreibt die Vorgeschichte zur heutigen Situation in der Ukraine, den Putsch 2014 und den Sturz der damaligen Regierung sowie die Auswirkungen des Gesetzes zur Verdrängung der russischen Sprache in der Ukraine.

„Ein Kardinalfehler in Politik und Medien besteht darin, Momentaufnahmen als Realität zu verkaufen. Realität ist immer ein Prozess. Um Realität zu begreifen, ist es notwendig, über Chronologie Bescheid zu wissen, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Und zumindest zu versuchen, herauszufinden, wer in einer Angelegenheit agiert, und wer reagiert. Mit anderen Worten, zu verstehen, was Sache ist.“

Dies waren die einleitenden Worte von Gabriele Krone-Schmalz auf der IALANA-Medientagung 2018 zu ihrem Vortrag mit dem Titel „Die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und die Medien“. Sie ist ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD und Professorin für Fernsehen und Journalistik an der University of Europe for Applied Sciences in Iserlohn.

Es ist also immer eine Frage der Perspektive. Momentaufnahmen sind auch deshalb problematisch, weil sie sich so unglaublich gut für Propaganda eignen. Fotos und Videoaufnahmen landen in der Bilddatenbank und werden dann beim Sender zu passender Gelegenheit herausgesucht und hinzugefügt, manchmal auch zu unpassender Gelegenheit, aus einem falschen Jahr oder falschen Kontinent. Propaganda ist immer politisch und nicht darum bemüht, Wahrheit aufzudecken.

Zu diesem aktuellen Krieg gibt es sowohl russische als auch westliche Propaganda. Westliche und russische kommerzielle Medien folgen jeweils bestimmten Interessen. In jeden Krieg stirbt zuerst die Wahrheit, daher halte ich es für sinnvoller, die Zusammenhänge zu verstehen, um für die Zukunft daraus zu lernen, als um jeden Preis „aktuell“ informiert zu sein. Auch kann jeder Mensch nur eine gewisse Menge negativer Horrorgeschichten verarbeiten, und diese sollten dann auch von zentraler Bedeutung für die Wahrheitsfindung sein.

Krieg ist nie eine Lösung. Gewalt ist immer falsch. Umso wichtiger ist es, die Ursachen zu verstehen und vor allem unsere eigene Verwicklung darin zu erkennen. Der deutsche Journalistenverband demonstrierte am 3. Mai 2022 vor der russischen Botschaft für Pressefreiheit. Nach dem Verbot von RT De, welches der Verband ausdrücklich befürwortete sowie dem Umgang mit Russland in unseren kommerziellen Medien seit vielen Jahren sehe ich darin eine traurige Realsatire.

Es hilft auch nichts, gegen einen Krieg zu demonstrieren, während wir mit den ursächlich Verantwortlichen verbündet sind und unter einer Decke stecken. Wir müssen stattdessen die imperiale Machtpolitik verstehen und unsere Rolle als NATO-Mitgliedstaat darin begreifen.

Zur völkerrechtlichen Einordnung des Zeitgeschehens

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist wie folgt in der UN-Charta verankert: Nach „Kapitel I — Ziele und Grundsätze“ setzen die Vereinten Nationen sich das Ziel, „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker (Hervorhebung durch die Autorin) beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen“.

Um den dafür notwendigen „Zustand der Stabilität und Wohlfahrt“ herbeizuführen, fördern die Vereinten Nationen gemäß Artikel 55 „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“.

Der Krieg in der Ukraine und das Völkerrecht

Die folgenden kurzen Fragen und Antworten zur völkerrechtlichen Einordnung des Zeitgeschehens sollen im weiteren Verlauf des Textes erklärt werden.

  • Ist Putins Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig? Ja. Das UNO-Gewaltverbot verbietet allen Staaten untereinander die Anwendung von Gewalt.
  • Wurde der Putsch in der Ukraine 2014 vom Westen orchestriert, das heißt entscheidend mitgestaltet? Ja. Die Europa-Beauftragte aus dem US-Außenministerium Victoria Nuland wurde abgehört, als sie die Zusammenstellung der ukrainischen Regierung nach dem Putsch plante.
  • War der Putsch in der Ukraine 2014 völkerrechtswidrig? Ja. Das UNO-Gewaltverbot verbietet auch verdeckte Kriegsführung und Regime Changes.
  • War die Sezession der Krim 2014 völkerrechtswidrig? Nein. Die Bürger der Krim entschieden darüber in einem Referendum, daher war es eine Sezession, keine Annexion.
  • Wäre eine Sezession der Donbass Republiken völkerrechtswidrig? Die Frage ist rein hypothetisch, denn die beiden Republiken im Donbass haben lediglich Selbstbestimmung eingefordert, und damit verbunden die vom Westen 2014 installierte ukrainische Regierung nicht anerkannt. Wladimir Putin hat Donezk und Lugansk, die beiden neuen Republiken in der Ostukraine, erst 2022 anerkannt. Aber die Antwort wäre: Nein. Die Frage einer Sezession betrifft die Ukraine, nicht das Völkerrecht.
  • Gab es Unterdrückung und Krieg gegen einen Teil der Bevölkerung in der Ukraine und damit gegen eine ethnische Minderheit seitens der vom Westen installierten Regierung? Ja. Es währte seit dem Putsch 2014 acht Jahre lang ein Bürgerkrieg.
  • Hat die ukrainische Regierung das Minsker Friedensabkommen vom Februar 2015 gebrochen? Ja. Der Westen hat dabei, anstatt gegenzusteuern, die Situation durch Waffenlieferungen verschärft.

Imperiale Politik

Der Krieg in der Ukraine kann ohne den Hintergrund imperialer Machtpolitik und völkerrechtswidriger Gewaltanwendung seitens des Westens in den vergangenen Jahrzehnten nicht sinnvoll diskutiert werden, insbesondere da Deutschland NATO-Mitglied ist. Um einen Krieg zu beenden, benötigen wir zuallererst Einsicht in unsere eigene Rolle darin.

Gegenüber einer Serie völkerrechtswidriger Angriffskriege seitens der USA und der NATO, welche zutreffend oftmals als Ölkriege bezeichnet werden, handelt es sich bei Putins Angriff auf die Ukraine zumindest vergleichsweise um einen Einzelfall. Völkerrechtswidrig angegriffen wurden vom Westen der Irak 2003, Afghanistan 2001, Serbien 1999 und Syrien 2014, um nur einige Beispiele zu nennen. Deutschland beteiligte sich insbesondere in Afghanistan am Krieg (2001 bis 2021) sowie in Serbien und in Syrien beziehungsweise den dortigen Nachbarländern Jordanien und aktuell noch Irak.

Die oben genannten und viele weitere Angriffskriege des Westens erfolgten weder zur Selbstverteidigung noch mit einem UNO-Mandat und sind daher völkerrechtswidrig. Es sollte also zuallererst auch hier nicht mit zweierlei Maß gemessen werden.

NATO-Osterweiterung

Die Rolle Deutschlands als NATO-Mitgliedsstaat am aktuellen Krieg ist zum einen anhand der Aufrüstung und Waffenlieferungen, zum anderen anhand der NATO-Osterweiterung seit 1989 zu betrachten. Wir sind also nicht unbeteiligt. Der Krieg gegen die beiden russischsprachigen Republiken innerhalb der Ukraine, welcher der jetzigen Situation vorausging, wurde in unseren kommerziellen Medien selten thematisiert, auch nicht der Putsch in der Ukraine 2014. Ebenso war die Osterweiterung der NATO bis Jahresanfang kaum ein Thema.

„Wenn Sie die NATO-Osterweiterung kritisieren, wird das rausgeschnitten“, berichtete der Historiker Daniele Ganser bereits 2015 in einem Vortrag in Berlin. „Und die Leute haben das Gefühl, dass das nicht auffällt. Aber irgendwann wird man schon merken, dass dieser Punkt viel zu wenig beleuchtet wird.“ Im Sinne einer weiteren Ausdehnung werde man versuchen, auch die Ukraine in die NATO zu ziehen.

„Ich bin, leider, leider, fest davon überzeugt, dass die NATO dieses Ziel verfolgen wird. Die Russen werden das aber nicht zulassen. Sie werden eher die Ukraine in einem Bürgerkrieg zerstückeln, als dass sie die ganze Ukraine in die NATO reinlassen. (…) Also hier haben Sie die Rattenfalle, die steht bereit. Man kann reintappen oder auch nicht.“

Deutschland und die USA hatten Michail Gorbatschow, damals Staatsoberhaupt der Sowjetunion, nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 versprochen, die NATO würde sich keinen Zentimeter weiter nach Osten ausdehnen. Im Jahr 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn bei, 2004 dann Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei sowie Slowenien und 2009 dann Albanien und Kroatien.

„Wichtig wäre gewesen, Russland nach 1990 in eine neue Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur einzubeziehen“, so die frühere Moskau-Korrespondentin der ARD Gabriele Krone-Schmalz in dem oben genannten Vortrag von 2018. „Das Stichwort, nach vorne zu schauen, auch wenn es sich vordergründig nach Lehrformel anhört, ist: Partner auf Augenhöhe. Das ist die Basis.“ Das wurde, gelinde gesagt, versäumt.

Vor dem Krieg Russlands in der Ukraine im Februar 2022 hatte Putin von US-Präsident Joe Biden eine schriftliche Garantie eingefordert, die Ukraine nicht in die NATO zu ziehen. Diese Forderung blieb folgenlos.

Der Putsch in der Ukraine 2014

Der Bürgerkrieg in der Ukraine begann bereits 2014, nach dem Putsch in Kiew. Ein spannender Monitor-Beitrag vom April 2014 beleuchtete die näheren Umstände des Putsches in der Ukraine damals sehr aktuell und bereits kritisch. Scharfschützen zielten auf Demonstranten und Polizisten.

Da der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch sich nicht selbst stürzen wollte und an einem entsprechenden Chaos auf beiden Seiten kein Interesse hatte, muss es sich um eine dritte Partei gehandelt haben. Versuche, den Putsch aufzuklären, wurden damals aber seitens der Staatsanwaltschaft der neuen Regierung erschwert bis unmöglich gemacht.

„Die vom Westen unterstützte Übergangsregierung hat sich letzte Woche festgelegt. Präsident Janukowytsch und seine Sonderkommandos tragen demnach allein die Schuld für die Toten. Doch an dieser Version gibt es jetzt erhebliche Zweifel“, so lauten die einleitenden Worte.

Im Folgenden zeigt ein Mitschnitt des Polizeifunks der Sondereinheit vor Ort: Abgesehen von den Regierungsscharfschützen gab es noch andere unbekannte Schützen, die auf unbewaffnete Demonstranten geschossen haben. „Wer immer vom Hotel Ukraina schießt, hat, so legt dieses Video nahe, auch diese Milizionäre getroffen“, heißt es im Kommentar des Monitor-Beitrags. „Dass Janukowytsch auf die eigenen Leute hat schießen lassen, ist unwahrscheinlich.“

Die folgende Aussage eines Arztes erhärtet dann die brisante Beobachtung: „Die Verwundeten, die wir behandelt haben, hatten denselben Typ Schussverletzungen. Ich spreche jetzt von dem Typ Kugeln, die wir aus den Körpern herausoperiert haben. Die waren identisch.“

Der Journalist Thomas Röper führte im Jahr 2020 ein aufschlussreiches Interview mit Alexander Onischenko, einem ehemaligen Vertrauten von Petro Poroschenko, dem ukrainischen Präsidenten von 2014 bis 2019. Onischenko war beim Maidan als damaliger Unterstützer und Freund Vitali Klitschkos in der ersten Reihe mit dabei. Im Interview bezeichnet Onischenko den Maidan als von ukrainischen Oligarchen und den USA finanziert und nennt dabei Namen und Summen. Unter anderem erinnert er sich an eine Summe von „circa 100, 150 Millionen (US-Dollar)“.

„Wer hat die bekommen?“, fragt Röper und Onischenko antwortet: „Klitschko. Dass er absagt, Präsident (zu sein). Weil, dann hat er mit Poroschenko besprochen, dass Poroschenko bleibt Präsident, und dann Klitschko (wird) zum Bürgermeister. Das war so abgemacht, das war so bezahlt auch, ja.“

Der Sturz der Regierung in der Ukraine 2014

Im Februar 2014 wurde die damalige ukrainische Regierung von den USA gestürzt. Victoria Nuland, hochrangige Mitarbeiterin des US-Außenministeriums, besprach kurz vor dem Putsch, Anfang Februar 2014, in einem abgehörten Telefonat mit dem US-Botschafter in Kiew Geoffray Pyatt, wer in der neuen prowestlichen Regierung der Ukraine vertreten sein sollte, und wer nicht.

„Victoria Nuland hat im amerikanischen Außenministerium den Putsch organisiert, die neue Regierung um Premierminister Jazenjuk zusammengestellt und die Europäer mit dem Zitat ‚Fuck the EU‘ beleidigt, wie aus einem abgehörten Telefongespräch hervorgeht“, fasst der Historiker Daniele Ganser zusammen (1).

„Kurz vor dem Putsch vom 20. Februar hatte Nuland mit US-Botschafter Geoffrey Pyatt in Kiew telefoniert. Pyatt war für den Kontakt zu den Putschisten verantwortlich. ‚Ich glaube nicht, dass Klitsch Teil der neuen Regierung sein sollte … Ich glaube, das ist nicht nötig, ich glaube, das ist keine gute Idee‘, sagte Nuland am Telefon zu Pyatt mit Bezug auf den bekannten Boxer Vitali Klitschko, der die Proteste auf dem Maidan angeführt hatte. ‚Ich glaube, Jazenjuk ist der richtige Mann, er hat die wirtschaftliche Erfahrung, er hat auch die politische Erfahrung.‘ Die UNO und Generalsekretär Ban Ki-moon könne man für die Öffentlichkeitsarbeit einspannen, schlug Nuland vor. Ban Ki-moon ‚könne helfen, die ganze Sache wasserdicht zu machen. Und weißt du: Fuck the EU.‘“

Selbstverständlich war der Regime Change in der Ukraine seitens der USA völkerrechtswidrig.

Ukraine: Ethnien und Sprache

„Angekündigt war der Schritt bereits — nun hat der russische Präsident Wladimir Putin die beiden Separatistengebiete Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige ‚Volksrepubliken‘ anerkannt“, berichtet die Tagesschau am 21. Februar 2022 und zitiert Putin immerhin wie folgt:

„Die Ukraine sei ‚bis auf das Niveau einer Kolonie mit einem Marionettenregime gebracht worden‘, so der Kremlchef weiter. Sie habe nie eine ‚echte Staatlichkeit‘ gehabt, sondern vielmehr Modelle kopiert. Heute hätten in der Ukraine Radikale und Nationalisten das Sagen — unter den Kuratoren des Westens, die das Land in eine Sackgasse geführt hätten. Korruption und Machtkämpfe von Oligarchen würden verhindern, dass es den Menschen in der Ex-Sowjetrepublik besser gehe.“

Wurde in der Ukraine eine ethnische Gruppe in fundamentaler Weise diskriminiert, und zwar insbesondere aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit? Wurden die Menschenrechte einer diskriminierten Minderheit fundamental verletzt? Diese Fragen sind von grundsätzlicher Bedeutung, um die Beweggründe von „Separatisten“ zu bewerten sowie gegebenenfalls auch eine Anerkennung Dritter von deren Unabhängigkeit.

„Die erste gesetzgeberische Maßnahme der neuen Regierung, die aus dem Sturz von Präsident Janukowytsch hervorging, war die Abschaffung des Kivalov-Kolesnichenko-Gesetzes von 2012, welches Russisch zur Amtssprache machte“, erklärt der Publizist Jaques Baud (2).

Das war am 23. Februar 2014. „Diese Entscheidung löste einen Sturm in der russischsprachigen Bevölkerung aus. Das Ergebnis war eine heftige Repression gegen die russischsprachigen Regionen Odessa, Dnepropetrowsk, Charkow, Lugansk und Donezk, die ab Februar 2014 durchgeführt wurde und zu einer Militarisierung der Situation und einigen Massakern, vor allem in Odessa und Mariupol, führte. Am Ende des Sommers 2014 blieben nur die selbst ernannten Republiken Donezk und Lugansk übrig“.

Kiew verabschiedet Gesetz zur Verdrängung des Russischen

Im April 2019 verabschiedete das Parlament in Kiew ein Gesetz, welches Ukrainisch als alleinige Sprache in öffentlichen Einrichtungen vorsieht. „Ansonsten drohen Geldstrafen“, berichtet der MDR am 25. April 2019. Beamte auf allen Ebenen sowie Lehrer, Ärzte oder Anwälte müssten in Zukunft Ukrainisch sprechen. Andernfalls würden sie mit Geldstrafen belegt.

„Außerdem wird die ‚öffentliche Demütigung oder Vernachlässigung‘ der ukrainischen Sprache zu einer Straftat erklärt. Eventuelle Versuche, eine ‚offizielle Mehrsprachigkeit‘ in der Ukraine einzuführen, werden als verfassungswidrig eingestuft. (...) Die Regierung in Moskau verurteilte das neue Sprachgesetz 2019 als ‚skandalös‘. Die Entscheidung werde nur die Spaltung der ukrainischen Gesellschaft vertiefen und die Möglichkeit eines Endes der Ukrainekrise in weitere Ferne rücken, erklärte Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa.“

Das Parlament in Kiew verabschiedete das Gesetz einen Tag, nachdem Moskau bekannt gegeben hatte, die Vergabe von „russischen Pässen“ an Bürger der Republiken Donezk und Lugansk in der Ostukraine zu erleichtern. „Ein von Präsident Wladimir Putin unterzeichnetes Dekret sieht vor, dass Menschen in den selbsterklärten Republiken Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine künftig in einem vereinfachten Verfahren russische Pässe erhalten können“, berichtete die Welt am 25. April 2019. Putin habe darauf verwiesen, dass es in den ukrainischen Nachbarländern Polen, Ungarn und Rumänien seit Langem Praxis sei, Ukrainern Pässe auszustellen.

Fatale Folgen des Gesetzes

Im Januar 2022 lief die Übergangsfrist des drei Jahre zuvor beschlossenen Sprachgesetzes aus: „In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das (…) das Russische zurückdrängen soll“ , berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) dazu am 18. Januar 2022. „Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen“. Russische Ausgaben seien nicht verboten, doch parallel dazu müsse eine ukrainische Version in gleicher Auflage gedruckt werden. Für die Verlage sei das freilich unrentabel. „Die letzte landesweite russische Tageszeitung Westi wurde kürzlich auf Ukrainisch umgestellt, viele Blätter erscheinen nur noch im Netz“.

Ab sofort seien sämtliche Staatsangestellten, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener und Klinikärzte verpflichtet, die Bürger, sofern diese nicht um eine andere Sprache bitten, auf Ukrainisch anzureden. Das Gleiche gelte für Dienstleistungsbetriebe, also Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken und Banken. Verstöße gegen das sogenannte Recht auf Bedienung in der Landessprache könnten beim „Sonderbevollmächtigten zum Schutz der Staatssprache“ gemeldet und im Wiederholungsfall mit Geldstrafen geahndet werden.

Dass darüber hinaus nun ausländische Filme jetzt ukrainisch synchronisiert werden müssen, richte sich gegen die „russische Medienmacht, die zwei Drittel der Fernsehserien“ bestreite. Auch bei Vorträgen, Shows, Konzertabenden müsse der Redner, sofern er russisch spricht, obligatorisch ins Ukrainische übersetzt werden. „Leidtragende sind russischsprachige ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler, deren Tätigkeitsfeld stark eingeschränkt wird. Aber auch traditionell russischsprachige Städte wie Charkiw, Dnipro oder Odessa (...) , werden vom Westen des Landes kulturell assimiliert.“

Bild

Bildquelle: FAZ/media1.faz.net.

Die Bedeutung der russischen Sprache in der Ukraine

Fast 30 Prozent der Ukrainer gaben 2001 bei der Volkszählung Russisch als ihre Muttersprache an. „Ich bin auf der Krim-Halbinsel aufgewachsen, meine Muttersprache ist Russisch“, berichtet der Blogger Denis Trubetskoy im Juni 2019 auf MDR, und weiter:

„Ukrainisch fand in meinem Leben erst durch den Ukrainischunterricht in der Schule statt. Heute aber macht es für mich keinen großen Unterschied, ob ich Russisch oder Ukrainisch spreche. Auch wenn ich im Alltag in Kiew eher Russisch spreche, weil in der Hauptstadt einfach noch Russisch überwiegt.“

Dies zeige: „Auch wenn Ukrainisch die offizielle Sprache ist, unser Land ist eindeutig zweisprachig — dafür ist Russisch hier zu tief verwurzelt“.

Kulturelle Events sollten künftig jedoch „in der Amtssprache“ ausgetragen werden. Unterricht auf Russisch werde theoretisch lediglich im Kindergarten und in den ersten Schulklassen möglich sein. Ein solches Gesetz einer überwiegend russischsprachigen Region überzustülpen, grenzt aus meiner Sicht an Wahnsinn. Welche konstruktiven Lösungen in der Ostukraine gefunden wurden, wird im dritten Teil des Textes beschrieben.

Der zweite Teil thematisiert das Minsker Abkommen vom Februar 2015, wie es gebrochen wurde sowie die Verstrickungen des Westens mit rechtsextremen Paramilitärs.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Ganser, Daniele: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren, Orell Füssli Verlag 2018, Seite 260.
(2) Jacques Baud war Oberst der Schweizer Armee, arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war NATO-Delegierter in Brüssel.