Die wahren Antisemiten

Wer die gewalttätige Politik Israels, aber auch der Hamas, in diesen Tagen von Kritik verschont, hat die Lehren der Geschichte nicht verstanden.

Vor allem in Deutschland hört man jetzt allenthalben den Vorwurf des Antisemitismus. Gerade wir Deutschen müssten uns jetzt voll hinter Israel stellen, heißt es. Die Autorin hat Israel mehrmals besucht und hatte das Bewusstsein deutscher Schuld dabei immer mit im Gepäck. Aufgrund ihrer vielfältigen Eindrücke sowie Gesprächen mit jüdischen und arabischstämmigen Israelis kam sie aber zu der Schlussfolgerung: Gerade auch vor dem Hintergrund der belasteten deutschen Geschichte dürfen wir die israelische Politik nicht nur kritisieren – wir müssen es sogar tun.

Wer Israel kritisiert, wird derzeit in Deutschland pauschal als „Antisemit“ oder gleich als „Idiot“ bezeichnet. Besonders tut sich der Spiegel hervor. Vorgestern lamentierte Kolumnist Sascha Lobo über die deutsche Linke und attackierte dabei den Slogan einer Berliner Kundgebung: „Free Palestine from German Guilt“. („Befreit Palästina von der deutschen Schuld.“)

Dieser Satz bedeute, so Lobo, dass „man die Lehren aus dem Holocaust in Israel nicht anwenden dürfe. Dass man also aus dem industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden keinesfalls schließen dürfe, lebende Juden von heute gegen mörderischen Antisemitismus zu unterstützen.“ Ich verstehe diesen Satz anders.

Ich bin Deutsche. Ich war nie stolz darauf. Meine Eltern waren Teenager, als der Holocaust begann. Wie so viele andere behaupteten sie mir gegenüber: „Wir haben von nichts gewusst.“ Ich schämte mich für ihre Feigheit, für diese Pseudo-Unschuld einer ganzen Generation. Doch wie kann ich etwas verurteilen, was ich selbst nie erlebt habe?

„Ihr Deutschen seid doch schuld an allem. Ohne den Holocaust würden die Israelis uns Palästinenser nie so unterdrücken.“

Natürlich habe ich mir – wie wohl die meisten – die Frage gestellt: Was hätte ich gemacht, wenn ich damals gelebt hätte? Wäre ich Täter, Mitläufer, Wegducker, Wendehals gewesen – oder hätte ich den Mut zum Widerstand gehabt? Ich betete für das letzte, aber wer konnte das schon wissen.

Als ich das erste Mal Israel besuchte, fürchtete ich, mit dieser kollektiven Schuld konfrontiert zu werden. Wie glücklich war ich dann, herzlich aufgenommen zu werden. Ich erlebte tiefen Austausch, Begegnung, Freundschaft. Als wenn Martin Luther Kings Traum wahr würde, nur in Bezug auf Deutsche und Israelis: Die Nachfahren der Opfer und die Nachfahren der Täter stehen Seite an Seite. Niemals vergessen! Nie wieder Faschismus! Nie wieder so ein ungeheures Verbrechen wie der Holocaust! Nicht an Juden, nicht an Schwarzen, nicht an Indigenen, an niemandem! Das ist immer noch mein Wunsch – nur hatte ich dabei die Palästinenser vergessen.

Ich fand das Land wunderschön, besuchte Kibbuzim, wanderte am See Genezareth und im Negev – und hatte zunächst null Bewusstsein für die Situation der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten. Ein Nebenwiderspruch, der unterging in der beglückenden Begegnung mit Israel.

Erst im Laufe weiterer Besuche musste ich sehen, was hier für ein Unrecht geschieht. Ein Teil meiner israelischen Freunde machte mich darauf aufmerksam – andere wollten lieber nicht hinschauen: Land-Enteignung, Besatzung, Militärherrschaft, 40 Jahre alte Flüchtlingslager, in denen alte Menschen immer noch die Schlüssel ihrer Häuser aufbewahren – Häuser, die längst zerstört waren.

Ich kam wieder, oft. Ich führte Interviews. Ich las alles zum Thema. Und schrieb zusammen mit einer Jugendgruppe ein Theaterstück: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Damit gingen wir 2005 mit 80 Menschen auf eine Friedenspilgerschaft zu Fuss durchs ganze Land und führten es überall auf – in Israel und der Westbank, in Flüchtlingslagern und arabischen Dörfern, in Kibbuzim, israelischen Siedlungen und Militärcamps.

Das Stück zeigte das vielmals zerteilte „heilige Land“ aus dem Blick der außerirdischen Reporterin „Kim“. Was sieht sie? Die Erde ist infiziert mit dem Virus des Krieges. Und die Krankheit verdichtet sich im so genannten Heiligen Land: tief patriarchale Religionen, Fanatismus, kollektive Traumata, Ideologien, gegensätzliche Wertesysteme – und all das im Griff globaler Machtinteressen.

Das war unsere Botschaft: Die Menschen dieser Region sind in Geiselhaft. Ihre Fesseln sind Loyalität, Angst, Zugehörigkeit, verletzter Stolz, Ohnmacht und Wut. Und doch gibt es Hoffnung: Wenn sie nur einmal lernen, in den Mokassins der anderen zu gehen. Wenn sie nur einmal sich gegenseitig so sehen, wie wir sie sehen: schön, großzügig, überaus gastfreundlich, reich an Kultur – und auch sehen können, wer sie da so benutzt.

Das Stück war enthusiastisch, naiv und ein bisschen peinlich, die Reaktionen unterschiedlich – von höflich über begeistert bis entrüstet. Und am Ende immer wieder die Frage: „Zeigt ihr das Stück auch auf der anderen Seite?“ Ja? Das fand man mutig – auf beiden Seiten.

Dass wir Deutsche waren und der Holocaust Teil des Stücks war, wurde von den meisten Zuschauern gewürdigt. Nur in einer palästinensischen Stadt – ich glaube, es war Qalqilya – stand ein Mann wütend auf und brüllte dazwischen. Unser Übersetzer fasste es so zusammen: „Ihr Deutschen seid doch schuld an allem. Ohne den Holocaust würden die Israelis uns nie so unterdrücken.“

Und so in etwa verstehe ich den oben genannten Slogan „Free Palestine from German Guilt“:

Ja, wir Deutschen haben eine ungeheure geschichtliche Schuld auf uns geladen – wir haben Millionen von Menschen gnadenlos vernichtet, die allermeisten davon Juden.

Dieses Trauma braucht Heilung – damit es nicht immer weitergegeben wird. Zum Beispiel an die Palästinenser. Gibt es eine Möglichkeit, dass wir das Trauma zusammen tragen und heilen? Können wir nicht zusammenkommen – als Kinder von Opfern und Tätern und Mitläufern und allen – und noch einmal gemeinsam sagen: „Nie wieder!“?

Seit unserer Pilgerschaft sind Jahre vergangen. Friede ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Situation hat sich zugespitzt. Israels Regierungen wurden immer rechter. Die Palästinenser haben seit vielen Jahren keine Führung mehr, der sie vertrauen. Das Pulverfass glüht – und wartete nur darauf zu explodieren.

Dann kam der 7. Oktober. Die mörderische Bestialität des Überfalls ist unfassbar – sinnlos, grausam, perfide. Ich habe einen Bekannten, der sich 16 Stunden in einem Schrank versteckte, bis er gerettet wurde. Die jungen Leute auf dem Festival! So gut wie jeder in Israel kennt jemanden, der umgebracht, verletzt oder entführt wurde oder überlebt hat. Was macht das mit einer Gesellschaft – das Gefühl, keinen sicheren Ort mehr zu haben!

Einige Überlebende haben ungeheure Größe bewiesen und fordern: Keine Rache in meinem Namen! Doch die Kollektivstrafe der israelischen Regierung an der Bevölkerung von Gaza forderte schon ein Vielfaches an Todesopfern. Sinnlos, grausam, perfide.

Was für eine Generation wird aus diesen Gräueln hervorgehen? Wie soll man sich dort jemals wieder sicher fühlen – ob Israeli oder Palästinenser?

Die Organisation, die die Massaker am 7. Oktober befohlen und ausgeführt hat, ist kriminell. Die israelische Regierung mit ihren ultrareligiösen, für keine anderen Argumente empfänglichen Mitgliedern – mit der Taktik, die Hamas und die Fatah gegeneinander auszuspielen und den Palästinensern jede Chance auf einen eigenen Staat und Selbstbestimmung zu nehmen, mit ihrer sich steigernden, gegen internationales Recht verstoßenden Blockade- und Besatzungspolitik – ist ebenfalls kriminell. Und die Regierungen all der Länder, die den jetzigen Völkermord dulden, ebenfalls.

Das sind die wahren Antisemiten. Denn im Wortsinn meint „Semiten“ Nachkommen Abrahams, und das sind nicht nur Juden, sondern auch Araber – also alle Volksstämme der Region. Und all die sind gerade von einem Flächenbrand der Gewalt bedroht. Es ist deshalb nicht antisemitisch, die Politik Israels, der USA, Deutschlands und natürlich auch die Hamas zu kritisieren. Es ist vielmehr antisemitisch, es nicht zu tun.

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Am 8. Oktober wurde das Brandenburger Tor in Berlin mit den Farben der israelischen Flagge beleuchtet. Foto: Bundesregierung


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Was wirklich antisemitisch ist“ beim Zeitpunkt.