Die weiche Macht

Wenn Frauen zusammenkommen, entsteht eine Verbindung, die eine starke gesellschaftliche Kraft für Frieden entfalten kann. Ein Erfahrungsbericht.

Frauen und Männer, die den Großteil unserer Gesellschaft ausmachen, unterscheiden sich voneinander und erleben die Welt jeweils anders — sowohl aufgrund natürlicher Eigenschaften als auch ihrer geschichtlichen Prägung. Sie wurden seit Jahrtausenden unterschiedlich behandelt. Das wirkt sich in den verschiedenen Regionen der Welt bis heute meist mehr oder weniger auf die Möglichkeiten aus, ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben zu führen. Frauen in Europa haben bereits ganz andere Erfahrungen der Gleichberechtigung gemacht als Frauen im Sudan oder in Äthiopien. Drei Freundinnen aus einem Frauennetzwerk für Frieden begaben sich auf eine Entdeckungsreise nach Norditalien und Äthiopien, um zu beobachten, was passiert, wenn Frauen sich ohne Männer miteinander verbinden. Ein kleiner Schritt für die Menschheit und ein großer Schritt für eine neue Art der Friedensarbeit.

Rana, Judith und Elisa. Drei Frauen, drei Länder, drei Geschichten. Was uns verbindet, ist der Wunsch, uns Menschen zu helfen, die Spirale der Gewalt und Ohnmacht zu verlassen. Doch wenn wir zu groß denken, fühlen wir uns klein.

Wir sind klein. Veränderung geschieht erst, wenn wir diese Realität anerkennen. Gleichzeitig brauchen wir einen Traum als Wegweiser. Und ein solcher brachte uns zusammen: „Frauen in Weiß“.

Die Friedensaktivistinnen Aida Al-Shibli aus Palästina und Miki Kashtan aus Israel hatten Frauen aus ihren jeweiligen Netzwerken zur Mitwirkung an der Umsetzung ihrer gemeinsamen Vision eingeladen und Rana, Judith und ich waren dem Ruf mit weiteren Frauen gefolgt. Dabei spielt es keine Rolle, ob und wann diese Vision erfüllt werden kann. Es entstand ein Bild in unseren Köpfen, das uns drei so sehr berührte, dass es uns zum Handeln motivierte. Wir stellen uns vor:

„100.000 Frauen in weißer Kleidung, die in ein Kriegsgebiet kommen. Zusammen bilden sie einen gewaltfreien menschlichen Schutzschild. Sie kommen aus aller Welt, auch aus den Regionen, die am Krieg beteiligt sind, sofern eine Reise möglich ist. Sie umfassen alle Nationalitäten, alle Religionen, alle Haut-, Haar- und Augenfarben und alle Altersgruppen. Sie stehen zusammen, um alle zu schützen, unabhängig von der ‚Seite‘, politischer Zugehörigkeit oder nationaler Identität. Sie sind engagiert, intensiv geschult und entschlossen, mit der Kraft der Gewaltlosigkeit alle Menschen zu ihrer Menschlichkeit zurückzuholen. Sie vertrauen auf ihre Fähigkeit, den Krieg zu beenden und eine Grundlage für eine friedliche Lösung des Konflikts zu schaffen, der zum Krieg geführt hat. Sie handeln als Einheit, verwurzelt in Gewaltlosigkeit, lebensbejahend, vital und voller Zuversicht.“

Und so vernetzten wir uns über das Projekt der „Frauen in Weiß“ und trafen uns jede Woche zu dritt online, um vor allem über Ranas praktische Erfahrung in ihrem Heimatland Sudan zu sprechen. Das Besondere an unseren Meetings war, dass wir kein klares Ziel hatten. Judith und Rana hatten aber Ideen im Kopf, da beide viel Erfahrung bei der Arbeit mit Menschen in Konfliktgebieten sammeln konnten: Judith mit Menschen in Äthiopien und Rana mit Frauen im Sudan.

Ein kurzer Exkurs: Warum keine Männer?

Die „Frauen in Weiß“ sehen bei ihrer Anwesenheit in einem Konfliktgebiet keine Männer, da Männer oder eine gemischte Gruppe eher angegriffen werden als Frauen. Denn die Öffentlichkeit empört sich mehr darüber, wenn Frauen attackiert werden, als wenn es Männer betrifft. Diese Tatsache hält Strategen vermutlich eher davon ab, einen Frauenmarsch gewaltsam niederzuknüppeln, zu beschießen oder zu bombardieren.

Bei Zusammenkünften unter Frauen in einer kleinen Gruppe geht es unter anderem auch um deren unbewusste Verhaltensänderung, sobald ein Mann anwesend ist. Frauen sind durch gesellschaftliche Normen und Ungleichheiten geprägt. Sobald ein Mann eine Frauenrunde betritt, fühle auch ich mich angespannter und reagiere weniger ausgelassen.

Vielleicht möchte ich den Mann unbewusst beeindrucken, attraktiv für ihn sein — wenn er mir sympathisch ist — oder ich fühle mich bedrängt und eingeschüchtert — wenn er mir unsympathisch ist. Umgekehrt gilt das auch für Männer: Sie verhalten sich anders, sobald eine Frau den Raum betritt — wie mir verschiedene Männer bestätigten. Das liegt in unserer Natur. Zwischen den beiden Geschlechtern gibt es nun einmal eine gewisse Spannung, die das Leben ausmacht.

Auch Männer würden sicher die Erfahrung starker Verbindung und des Verstandenwerdens machen, wenn sie sich ohne Frauen treffen, sich untereinander ehrlich über ihre seelischen Verletzungen, ihre Unsicherheiten und ihr Befinden austauschen könnten. Männer und Frauen machen nun einmal unterschiedliche Erfahrungen und ihre Wunden sind verschieden. Doch durch die Sozialisierung vieler Männer als „starkes“ Geschlecht, nach dem Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, fällt dies den meisten wohl noch sehr schwer. Wobei ich immer öfter auch höre, dass solche Männergruppen entstehen, was mich zuversichtlich stimmt.

Denn von ihren Gefühlen abgeschnittene Männer richten den größten Schaden in der Welt an und unsere Gesellschaft braucht Männer, die das Leben — die Erde und all ihre Bewohner — schätzen und sich für dessen Erhalt einsetzen, statt es verkaufen, kaufen oder „besiegen“ zu wollen.

Von der großen Vision zum Handeln im Kleinen

Trotz meiner Abneigung gegen Online-Meetings wollte ich keines der Treffen mit Rana und Judith verpassen, weil mir unser Austausch interessanterweise Kraft gab, statt mich zu ermüden. Ich brachte in der Runde mein theoretisches Wissen und meine Erkenntnisse aus all meinen Büchern zum Thema Frieden ein. Dadurch erkannten wir in den großen geopolitischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Arbeit vor Ort und die Kraft, die darin lag.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich an einem kleinen Schreibtisch in einem Städtchen der Region Oromia in Äthiopien, wo die politische Lage sehr angespannt ist und die Menschen sich vor einem Krieg fürchten. Rana ist bereits abgereist. Aus unseren Online-Treffen entstanden zwei erste konkrete Aktionen.

Weibliche Friedensarbeit in Europa

Wir gaben zusammen mit einer weiteren Mitstreiterin der „Frauen in Weiß“ in Südtirol einen dreitägigen Workshop für Frauen mit dem Thema: „Mut zu gelebten Verbindungen“. Er wurde von der autonomen Region Südtirol finanziert und war somit für alle Interessierten kostenlos. Öffentlich finanzierte Friedensarbeit — allein diese Tatsache hatte ich nicht für möglich gehalten und sie machte mir Mut. Wir gestalteten das Programm wie folgt:

Liebe statt Angst

Unter Anleitung von Susanne Kraft, einer Trainerin für gewaltfreie Kommunikation (GFK), lernten wir in praktischen Übungen, wie wir Gewalt in Verbundenheit verwandeln, um in unserem Umfeld wirksam zu werden.

Einlassen auf neue Wege

Wir lernten mit Rana Bilal, Coach für „Female Leadership“ und Aktivistin aus dem Sudan, in Ritualen und Zusammensitzen bei Handarbeit gemeinsam zu trauern, zu träumen und zu feiern. In einem Vortrag über ihre persönliche und zugleich politische Geschichte im Sudan und später in der Diaspora in Großbritannien vermittelte sie ihre wichtigste Erkenntnis: Das Politische ist persönlich und das Persönliche ist politisch.

Da fällt mir ein Zitat von einem meiner Vorbilder ein, der Kriegsreporterin Martha Gellhorn:

„Die Menschen sagen oft mit Stolz: ‚Ich interessiere mich nicht für Politik.‘ Sie könnten genauso gut sagen: ‚Ich interessiere mich nicht für meinen Lebensstandard, meine Gesundheit, meine Arbeit, meine Rechte, meine Freiheiten, meine Zukunft oder irgendeine Zukunft.‘ Wenn wir die Kontrolle über unsere Welt und unser Leben behalten wollen, müssen wir uns für die Politik interessieren.“

Neue Wahrheiten leben

Wir rekapitulierten die Eindrücke und Erinnerungen und erkannten durch unseren Austausch, wie unsere neuen Erkenntnisse aus dem Seminar in unserem Alltag fruchtbar werden können.

Gelebte Erfahrung statt trockener Theorie

An dem Seminar nahmen 22 Frauen im Alter von 14 bis 69 Jahren teil. Vor allem über die 5 jungen Frauen freuten wir uns alle sehr. Wir vier Seminarleiterinnen arbeiteten zum ersten Mal zusammen und waren überrascht, wie mühelos unsere unterschiedlichen Charaktere und Arbeitsweisen ineinanderflossen.

Wenn ein Konflikt auftauchte, gelang es uns, diesen innerhalb von Minuten aufzulösen: Durch Ehrlichkeit, Selbstreflexion und Humor — und durch die vielen Erfahrungen des ehrlichen Mitteilens (Impact Sharing im Fachjargon der GFK), die wir in der etwa einjährigen Arbeit mit den „Frauen in Weiß“ gesammelt haben. So lebten wir am eigenen Beispiel vor, was wir den anderen an Erkenntnissen mitgeben wollten, anstatt uns auf bloße Theorien zu konzentrieren.

Rana war die einzige Nicht-Weiße und Nicht-Europäerin und fühlte sich in der Gruppe viel wohler, als sie befürchtet hatte. Wir alle waren neugierig auf ihre Geschichte, ihr Wissen und ihre praktischen Erfahrungen mit den Frauen im Sudan, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Ranas Vater ist Arzt und Politiker und sie hat seine Talente wohl geerbt. Sie ist eine fesselnde Rednerin, die sich dabei auch verletzlich zeigt. Aufgrund der Ungleichbehandlung von Jungs und Mädchen hatte sie in ihrem Leben ihre Fähigkeiten lange nicht erkannt. So tauschten wir uns aus, wie — selbst subtile und normalisierte — Unterdrückung von Frauen in Italien, in Deutschland und im Sudan noch immer auf uns wirken.

Die Abwesenheit von Männern ermöglichte uns ein ehrliches Mitteilen und durch das Verständnis füreinander entstand in kurzer Zeit ein großes Vertrauen in die anderen und in uns selbst. Wir mussten niemandem erst erklären, wie wir uns in manchen Situationen fühlen, oder darüber diskutieren.

Ein Beispiel für die europäischen männlichen Leser las ich im Gender-Report des EURAC (Europäische Akademie) Forschungszentrums in Südtirol, einer privaten Einrichtung mit Sitz in Bozen:

„Der amerikanische Aktivist Jackson Katz fragt die Leute in seinen Workshops immer, wie sie sich vor sexuellen Übergriffen schützen. Die Männer wissen gar nicht, was sie antworten sollen, denn sie kennen diese Realität nicht. Für sie gibt es keine Gefahr. Während die Frauen und die queeren Menschen sofort aufzählen: Getränke im Club abdecken; nicht alleine nach Hause gehen; nicht alleine joggen gehen; immer ein Handy dabei haben; Pfefferspray; und so weiter. Ein Riesenkatalog. Katz berichtet, die Männer seien immer ganz fassungslos, dass sie von diesen Lebensrealitäten ihrer Partnerinnen, ihrer Mütter und Töchter nichts wissen.“

Wir sprachen auch über Medien und Manipulation, um zu erkennen, wie verzerrt unser Weltbild ist, wenn wir nicht immer wieder bewusst innehalten und unterscheiden, welche Informationen wir aus den Medien haben und welche Vorurteile dadurch in uns entstehen, die uns dann davon abhalten, mit Menschen, die uns bedrohlich erscheinen, wie zum Beispiel Einwanderer aus anderen Kulturen oder ältere weiße Männer, in Kontakt zu treten und dadurch zu erkennen, dass sie auch nur Menschen mit Ängsten und Verletzungen sind.

Am Ende des Seminars teilte jede allen anderen den nächsten konkreten Schritt mit, den sie für eine friedlichere Gesellschaft unternehmen möchte. Denn das ist wohl die wichtigste Erkenntnis:

Veränderung geht nur über die kleinen Schritte. Was groß erscheint, sind meist kurze Strohfeuer, die viel Aufsehen erregen, aber am Ende keine nachhaltige Auswirkung haben.

Und so ist Friedensarbeit vor allem eines: Ein persönlicher Weg der Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit. Je mehr Menschen ihn für sich gehen, je sichtbarer wird der Einfluss. Auch wenn andere nicht sehen, was meine Handlungen bewirken, so ist es für mich offensichtlich. Das schenkt mir immer wieder neue Kraft, weiterzumachen, auch wenn andere längst aufgegeben haben und dem Zynismus frönen, was ich gut verstehen kann.

Die Reise geht weiter — weibliche Friedensarbeit in Afrika

Nach drei vollen Seminartagen fielen wir erschöpft in die Betten. Doch die Reise endete hier nicht. Susanne fuhr zurück nach München, während Judith, Rana und ich am nächsten Tag gleich den Flieger von Mailand nach Addis Abeba bestiegen, um in Äthiopien weitere Frauen zu treffen, die sich vor Ort engagieren: Elsa und Yetenayet.

In nur wenigen Tagen entstand zwischen uns eine enge Verbindung: fünf völlig unterschiedliche Frauen, die gemeinsam für ein Projekt zur Stärkung von Frauen in Äthiopien wirken, was wiederum ein weiterer kleiner Schritt zur Verwirklichung der Vision von „Frauen in Weiß“ ist.

Egal, ob sie sich am Ende weiß kleiden und mit dieser Vision verbunden fühlen oder auf eine andere Weise wirksam werden. Fest steht: Wo Frauen klar ihre Stimme für Frieden erheben und mit Humor, Offenheit und Liebe für all ihre Mitmenschen Stellung gegen Gewalt und Krieg beziehen, können Wunder wahr werden.

Ein Beispiel wird in dem Dokumentarfilm „Pray the Devil back to Hell“ gezeigt: Frauen in Liberia beendeten dort den Krieg.

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Soweit sind die Frauen im Sudan oder in Äthiopien noch nicht. Doch wir wissen, dass es möglich ist. Und unsere fünf gemeinsamen Tage zusammen, die beschlossenen nächsten Schritte, die ersten zarten Knospen kulturübergreifender Freundschaften lassen in uns allen die Kraft der Zuversicht wachsen. Im Idealfall können wir damit weitere Menschen anstecken, die ihrerseits wiederum ihre kleinen Schritte für den Frieden umsetzen.

Auch in Deutschland sind die „Frauen in Weiß“ aktiv, sodass Interessierte sich über die bisher nur rudimentär aufgebaute Website an uns wenden können. Frauen und Männer, denn Männer können unterstützend ihren Beitrag zur Verwirklichung dieser Vision leisten, wenn sie den inneren Ruf dazu spüren.

Durch diese zwei Erfahrungen in Italien und Äthiopien haben Rana, Judith und ich erkannt, welch konstruktive Macht Frauen haben, wenn sie sich miteinander verbinden, und, dass wir sowohl in Äthiopien als auch in Europa, auch wenn wir dort schon einen großen Schritt weiter sind, noch einiges für die weibliche Selbstermächtigung tun müssen.

Dank meiner inspirierenden äthiopischen Schwestern erkenne ich noch mehr als schon zuvor, wie fehlgeleitet der westliche Feminismus ist, der Frauen eher ihrer Weiblichkeit beraubt, anstatt ihre volle Kraft als Frau anzuerkennen. Diese Erkenntnis zeigt mir wieder neue Handlungsmöglichkeiten für meinen Kulturkreis. Ich wünsche mir starke Frauen, von denen die Männer sich nicht angegriffen fühlen, sondern die sie daran erinnern, dass sie geliebt werden. Frauen, die Wärme ausstrahlen und die Gemeinschaft zusammenhalten. Frauen, die genau dafür respektiert und von den Männern freudvoll unterstützt werden.

Genau dies durfte ich in den Tagen in Äthiopien erleben. Eine große Utopie, die in kleinen Momentaufnahmen bereits Realität ist. Ich bin für diese Erfahrung sehr dankbar und erkenne die Kraft, die ich dadurch für mein Engagement gewinne. Das macht mich nun weniger anfällig für Zweifel und Ohnmacht, die wohl größten Hindernisse auf dem Weg zu einer Menschheit, in der institutionalisierte körperliche und psychische Gewalt der Vergangenheit angehören und Konflikte auf heilsame Weise gelöst werden.

Männer und Frauen als Partner auf Augenhöhe

Nachdem ich diesen Artikel beendet hatte, traf ich Martin vor meinem Zimmer, einen Österreicher, der in Äthiopien eine hohe Position in der Entwicklungsarbeit innehat und sehr geachtet und geschätzt wird. Wir hatten bis dahin kaum Gelegenheit, uns auszutauschen. Deshalb überraschte er mich sehr mit seiner offenen, fröhlichen und lockeren Art.

Und noch mehr überraschten mich seine Aussagen: Seit dreißig Jahren kommt er oft nach Äthiopien und sieht, wie viel sich verändert hat. Als einen der wichtigsten Schlüssel für seine Arbeit und die Arbeit seiner Teams sieht er die Beziehungen, die sie zu den Menschen hier aufgebaut haben. Entwicklungshilfe ist für ihn keine Einbahnstraße, sondern ein Miteinanderwirken auf Augenhöhe. Auch für unseren deutschsprachigen Kulturkreis sieht er Handlungsbedarf. Doch das sind zwei völlig unterschiedliche Realitäten. Auf die Frage, wie ihm das zwischen seinem Hin- und Herpendeln gelingt, lachte er und sprach von Dankbarkeit für dieses Privileg.

Er studierte unter anderem Theologie und sagte, durch ein solches Studium hätte er es als Mann leichter gehabt, seinen Ansatz der gelebten Beziehung zu verfolgen und Einfluss in einer kirchlichen Institution zu gewinnen.

Ich war gerührt und wieder einmal hoch erfreut, einen Menschen zu treffen, der mein Weltbild erweitert. Wir brachen gemeinsam mit Judith und Martins Tochter, die ihn manchmal begleitet, zu einer Schwesternschaft in der Nähe auf, wo Martin der einzige Mann in der Frauenrunde war. Wir wurden herzlich empfangen von Nonnen aus Indonesien, den Philippinen, Polen und weiteren Ländern. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Mein Weltbild von christlichen Schwestern brach ebenfalls ein und ich erkannte wieder einmal, von wie vielen Dingen ich keine Ahnung habe.

Alle, die ich in Äthiopien traf, sind offen für Menschen aller Religionen, Hautfarben und Geschlechter. Sie machen ihre Arbeit aus Herzensgründen oder einem inneren Drang heraus — Berufung, wie wir es nennen —, egal, für welche Institution sie arbeiten oder welcher Gruppe Menschen sie angehören: Afrikaner, Europäer, Frauen, Männer, Muslime, Christen …

Fazit

Mich mit Frauen ohne die Anwesenheit von Männern auszutauschen, schenkt mir ein Gefühl der Verbindung. Andere Frauen sagen dasselbe. Wir erleben das Leben anders als Männer. Ich wünsche auch Männern, dass sie solche intimen Kreise für sich organisieren — nicht als Geschäftsleute und Politiker, sondern für den persönlichen Austausch und Herzensverbindung.

Yetenayet erzählte uns, dass ihre Kolleginnen vom Finanzteam zunächst nicht zu unserem Frauenkreis kommen wollten, da sie so viel zu tun hatten. Mit ihrer natürlich-charmanten Autorität „befahl“ sie ihnen, diese Gelegenheit nicht zu verpassen. Als die Männer im Büro das hörten — denn Yetenayet überhört man nicht —, wollten sie auch unbedingt dabei sein und sie sagte ihnen lachend, dass sie ihren eigenen „Safe Space“ organisieren sollen.

Langfristig ist die Idee allerdings auch, zusätzlich zu den sicheren Räumen für Frauen gemischte Kreise zu organisieren, in denen die Mädchen und Frauen, sobald sie mehr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl entwickelt haben, sich in ihrer neuen Kraft vor und mit Männern austauschen können. Diese können dann wiederum selbst lernen, ihre Beziehung zu Frauen bewusst auf Augenhöhe zu gestalten und zu ebenbürtigen Partnern werden.

Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der Frauen sich selbst verwirklichen und ihre politische Verantwortung voll annehmen? Anstatt Männer um die Teilhabe an der Macht anzubetteln, holen sie sich ihre Kraft selbst zurück — mit gegenseitiger Unterstützung.

In Ranas, Judiths und meiner Vorstellung freuen sich viele Männer sicher auch, wenn sie die Last der öffentlichen Verantwortung für das Wohlergehen der Gesellschaft nicht mehr zum Großteil alleine tragen müssen, sondern Partnerinnen an ihrer Seite haben, auf die sie zählen und in deren Herzenswärme sie auch ihre Wärme wiederentdecken können. Dann lösen sich auch die alten Rollenbilder von Mann und Frau nach und nach auf und wir können uns alle neu entdecken in unserer Einzigartigkeit und unseren Gemeinsamkeiten zugleich.


Elisa, Rana und Judith (von links nach rechts) Ende November in Südtirol, Italien. Foto: privat



Redaktionelle Anmerkung:

Der Titel dieses Beitrags ist einem Buch von Sabine Lichtenfels entnommen: „Weiche Macht — Perspektiven eines neuen Frauenbewusstseins und einer neuen Liebe zu den Männern“.

Darin arbeitet die Autorin 24 Thesen für eine neue Frauenbewegung aus und schreibt:

„Eine Kultur des Friedens kommt an einer Rückbesinnung auf matriarchale Quellen nicht vorbei. Mögen diese Thesen beitragen, dass eine stille revolutionäre Kraft in uns Frauen wächst, ein Stolz und eine revolutionäre Entschlossenheit zu politischem spezifisch weiblichem Handeln, das sich unbeirrbar einsetzt für dieses Leben.“