Die Welt als Spiegel

Durch die Transaktionsanalyse lernen wir, die Phasen kindlicher Anpassung und jugendlicher Rebellion zu überwinden und unser Erwachsenen-Ich zu entwickeln.

„Unsere Politiker meinen es total gut mit uns. Das Beste, was ich machen kann, ist zu tun, was sie mir sagen.“ Wer so denkt, ist im Kind-Ich steckengeblieben. Bei unseren Leserinnen und Lesern ist dergleichen ja völlig ausgeschlossen. Wie steht es aber mit der Haltung „Von sogenannten Autoritäten lasse ich mir gar nichts sagen, ich mache, worauf ich Lust habe“? Auch das ist eine eher kindliche Haltung — das rebellische Kind. Haben wir das „Eltern-Ich“ in uns verwirklicht, dann kann es sein, dass wir uns vollständig mit Autoritäten und ihren Vorschriften identifizieren und andere in diesem Sinne zu erziehen versuchen. Was bedeutet es demgegenüber, wirklich erwachsen zu sein? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die 1950 von Eric Berne entwickelte Transaktionsanalyse. Eine ihrer Grundthesen ist, dass alles, was wir in der Außenwelt wahrzunehmen meinen, sehr viel mit uns selbst und unserem inneren Reifeprozess zu tun hat. Diese Erkenntnis hilft auch bei der Analyse politischer Weltanschauungen.

Wenn es um gesellschaftlichen Wandel geht, denken wir meist in zu großen Dimensionen. Dadurch nehmen wir systemische Veränderungen kaum wahr. Dabei beginnt eine Utopie doch im Kopf, also im Bewusstsein jedes Einzelnen.

Das wusste schon der indische Friedensaktivist Mahatma Gandhi, den ich an dieser Stelle gerne zitiere:

„Wir sind nur ein Spiegel der Welt. Alle Tendenzen, die in der äußeren Welt vorhanden sind, finden sich in der Welt unseres Körpers wieder. Wenn wir uns selbst ändern könnten, würden sich auch die Tendenzen in der Welt ändern. So wie ein Mensch sein eigenes Wesen ändert, so ändert sich auch die Haltung der Welt ihm gegenüber. Dies ist das höchste göttliche Geheimnis. Es ist eine wunderbare Sache und die Quelle unseres Glücks. Wir brauchen nicht darauf zu warten, was die anderen tun“ (1).

Ich möchte eine Sichtweise aufzeigen, mit der wir unsere politische Selbstverantwortung wiedergewinnen können. Denn die politische Apathie und die erlernte Hilflosigkeit, in der wir uns befinden, sehe ich als zwei der Hauptgründe an, weshalb eine radikale Veränderung unseres Gesellschaftssystems vermutlich unmöglich ist. In meinem kürzlich veröffentlichten Buch „Unmöglicher Wandel? — Weshalb die Utopie scheitert“ (2) habe ich noch einen weiteren grundlegenden Aspekt beschrieben, nämlich den gedanklichen Käfig, in dem wir uns befinden, vor allem die Illusion von Demokratie — was auch schon der emeritierte Psychologie-Professor Rainer Mausfeld ausführlich erläutert hat (3). Doch möchte ich nun auf die psychologische Ebene kommen und aufzeigen, wie wir uns von den inneren und äußeren Herrschern befreien können. Dazu soll zunächst ein psychologisches Modell skizziert werden, was dabei sehr hilfreich ist.

Psychologische Grundlage: Transaktionsanalyse

In der Psychologie gibt es unzählige Modelle. Eines ist das Modell der sogenannten Transaktionsanalyse (TA), die um 1950 von Eric Berne entwickelt wurde (4). Die TA ermöglicht es, einerseits sich selbst besser zu reflektieren und andererseits Kommunikations- und Beziehungsmuster zu verstehen. Die Grundlage der TA sind die Ich-Zustände (5), mit denen die individuellen Denk- und Verhaltensmuster beschrieben werden können. Unterteilt werden die Ich-Zustände in 1. Eltern-Ich, 2. Erwachsenen-Ich und 3. Kind-Ich. Sie haben verschiedene Funktionen und ermöglichen es uns, je nach Situation, angemessen zu reagieren.

Als Kind besitzen wir nur das Kind-Ich, mit einem angepassten, einem rebellischen und einem freien Anteil. Dabei tut das freie Kind das, worauf es gerade Lust hat, zum Beispiel spielen oder tanzen. Das angepasste Kind zeigt sich hingegen eher ängstlich und zurückhaltend, das rebellische Kind eher trotzig und stur.

Das Eltern-Ich entwickelt sich erst mit der Zeit, es beinhaltet Werte und Normen, die wir durch die Eltern oder die Gesellschaft vermittelt bekommen. Sätze wie „Du musst ...“ oder „Du darfst nicht ...“ sind dabei besonders prägend und stellen das sogenannte kritische Eltern-Ich dar. Darüber hinaus gibt es auch ein fürsorgliches Eltern-Ich, was insbesondere für die Beziehung zwischen Elternteil und Kind wichtig ist. Dadurch, dass das Kind noch hilfsbedürftig ist (angepasster Anteil), ist es abhängig vom Elternteil, weshalb es zu einer sogenannten Symbiose (6) kommt. Eine gesunde Symbiose löst sich irgendwann auf, weil das Kind mit der Zeit und durch Beziehungserfahrungen eigene Denk- und Verhaltensmuster entwickelt. Es entwickelt also ein eigenes Eltern-Ich.

Außerdem entwickelt sich das Erwachsenen-Ich, welches auch als „Hier-und-Jetzt-Ich“ bezeichnet wird. Es ist eine Art Vermittler zwischen Eltern-Ich und Kind-Ich, wägt also rational ab, welche Verhaltensweise in der jeweiligen Situation angemessen ist.

Doch ist es häufig so, dass wir unbewusst immer wieder in Denk- und Verhaltensmuster rutschen, die rational betrachtet nicht angemessen sind. So ergeben sich auf tiefenpsychologischer Ebene zum Beispiel innere Konflikte. Auch gibt es neben der erwähnten gesunden Symbiose eine ungesunde Symbiose. Diese ist nicht auf Eltern-Kind-Beziehungen beschränkt, sondern lässt sich auf alle Beziehungen übertragen. Und damit kommen wir zum eigentlichen Problem: dem Verlust der Selbstverantwortlichkeit.

Der Verlust der Selbstverantwortlichkeit

In einer ungesunden Symbiose ist man in einem Abhängigkeitsverhältnis gefangen. Dieses besteht darin, dass die eine Person vorwiegend im Eltern-Ich agiert, das heißt entweder fürsorglich und hilfsbereit oder aber kritisch und fordernd, während die andere Person im Kind-Ich reagiert, das heißt angepasst, ängstlich, hilfsbedürftig. Es handelt sich also um ein Ungleichgewicht und damit um ein Machtverhältnis, in extremer Form zeigt sich das zum Beispiel zwischen Herrscher und Knecht. Oft sind ungesunde Symbiosen jedoch nicht so eindeutig erkennbar. Die Abhängigkeit besteht vor allem darin, dass die untergeordnete Person nicht die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann beziehungsweise möchte, sondern jemanden braucht, der sie führt und unterstützt.

Genauso kann es allerdings auch sein, dass die übergeordnete Person jemanden braucht, für den sie sorgen „muss“. Um die ungesunde Symbiose aufzulösen, ist es deshalb notwendig, das Erwachsenen-Ich zu aktivieren und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich gibt es Menschen mit Einschränkungen, welche die Abhängigkeit nicht einfach auflösen können. Doch geht es bei der ungesunden Symbiose darum, dass ein Abhängigkeitsverhältnis aufgrund von dysfunktionalen Überzeugungen aufrechterhalten wird, zum Beispiel weil man Angst hat vor der Selbstverantwortung.

Befreien von inneren und äußeren Herrschern

Die ungesunde Symbiose zeigt ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zweier Menschen auf. Wie erwähnt, ist dies zum Beispielt zwischen Herrscher und Knecht der Fall. Hier spreche ich von einem äußeren Herrscher. Unabhängig von dem Herrscher als Person, gibt es auch einen inneren Herrscher. Damit ist die Vorstellung gemeint, die der Knecht vom Herrscher durch seine Beziehungserfahrungen gemacht hat. Dies bezieht sich auf sämtliche Erfahrungen, sowohl emotionale, als auch kognitive. Diese Internalisierung, das heißt das innere Bild, was man durch prägende Beziehungserfahrungen übernimmt, nennt sich auch Introjekt (7).

Auf ähnliche Weise können wir gewisse innere Herrscher in uns tragen, die sich aus unseren Beziehungserfahrungen mit der Gesellschaft, der Politik oder Ähnlichem entwickelt haben. Wir sind also sozusagen in einer ungesunden Symbiose mit dem System selbst gefangen, weil uns unsere inneren Herrscher daran hindern, die — politische — Selbstverantwortung zurückzugewinnen.

Auf die Politiker zu schimpfen, „die da oben“, ist das beste Beispiel für das rebellische Kind, das aus uns spricht. Außerdem zeigt es laut der Transaktionsanalyse auf, dass es sich um ein untergeordnetes Verhalten handelt. Wir ordnen uns also freiwillig unter, obwohl wir das nicht müssen. Damit meine ich beispielsweise, dass wir aufhören sollten, uns über Politiker aufzuregen, sondern uns lieber auf uns selbst und unsere Handlungsmöglichkeiten konzentrieren. Unabhängig von den äußeren herrschenden Umständen, ist es das Allerwichtigste, uns zuerst von den inneren Herrschern zu befreien und die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Denn es gibt genug Möglichkeiten, im eigenen Mikrokosmos etwas zu verändern. Der „große“ Wandel wird sich dadurch automatisch ergeben.

Zum Abschluss möchte ich noch eine kurze und sehr passende Passage aus meinem Buch zitieren (8):

„Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) stellte fest, dass der Knecht sich im Verhältnis zu seinem Herrn gar nicht herabsetzt, sondern durch seine Selbstständigkeit sogar überlegen ist (9). Denn der Herr braucht seinen Knecht, damit dieser für ihn handeln kann — dadurch ist er unselbstständig; der Knecht aber kann auch ohne seinen Herrn selbstständig handeln — er kann also getrost auf ihn verzichten.“


Hier können Sie das Buch bestellen:Unmöglicher Wandel? Weshalb die Utopie scheitert.