Die Welt in Gefahr

Zwischen den Großmächten droht ein verheerender Krieg, bei dem ein Verlierer bereits im Voraus feststeht: Europa.

„Einen großen atomaren Krieg wird es nie geben. Die Gefahr gegenseitiger totaler Vernichtung wäre zu groß.“ Mit diesem Mantra konnten sich zwei Generationen von Deutschen lange beruhigen. Das Ausbleiben des noch in den 80er-Jahren heftig befürchteten Weltenbrands schien den Optimisten Recht zu geben. Doch schon lange arbeiten NATO-Strategen daran, diese Dynamik zu unterlaufen und das „Gleichgewicht des Schreckens“ in ein Ungleichgewicht zugunsten des US-Imperiums zu verwandeln. Zu diesem Zweck wird unter anderem an Techniken getüftelt, die die atomare Zweitschlagfähigkeit Russlands unterlaufen sollen. Ohnehin befinden sich die USA in einer komfortablen Situation. Die Hauptlast eines vor allem von ihnen zu verantwortenden Krieges hätte ein dann vollständig verwüstetes Europa zu tragen.

Zu Beginn der 1980er Jahre hatten die USA und die NATO eine Strategie gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten in der Warschauer-Vertrags-Organisation entwickelt, die die perverse Situation der „gegenseitigen sicheren Vernichtung“ überwinden sollte. Caspar Weinberger, der damalige US-Verteidigungsminister erklärte dies in einem Interview mit dem Spiegel im Oktober 1981:

„Wir müssen sicherstellen, dass dieses sowjetische Imperium, wenn es denn aufgrund seiner eigenen Widersprüche zusammenbricht, das mit einem Winseln tut und nicht mit einem großen Knall.“

Die Sowjetunion war so freundlich, dies mit einem Winseln zu tun. Unverhohlen formulierte es auch der damalige Direktor des US-Sicherheitsrats für osteuropäische und sowjetische Angelegenheiten:

„Die sowjetische Führung wird die Wahl haben, ihr kommunistisches System friedlich in die vom Westen verfolgte Richtung zu ändern oder in den Krieg zu ziehen.“

Damals, als die NATO ihre neuen nuklearen Mittelstreckenraketen — Cruise Missiles und Pershing II — aufstellte, hofften westliche Strategen, dass es gelingen könne, die Sowjetunion zu „enthaupten“ und ihre Zweitschlagsfähigkeit zu vernichten, so dass sie unfähig wäre, dem Westen vernichtende Schläge zu versetzen.

Wie auch immer: Das Schlachtfeld eines solchen nuklearen Krieges wäre Europa gewesen — und mit Europa ist hier der Raum vom Atlantik bis zum Ural gemeint. Es war die Einsicht in den selbstzerstörerischen Wahnsinn dieser Strategie, aber auch die Stärke der Friedensbewegung in ganz Europa, die 1987 zum Abschluss des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces) führte, der die Stationierung von mit Atomwaffen bestückten Trägersystemen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern in Europa untersagte.

Diesen Vertrag hat US-Präsident Donald Trump zu Anfang dieses Jahres gekündigt, der Vertrag lief am 1. August 2019 aus. Die vom Westen als Vertragsbruch stigmatisierte neue russische Rakete hat — nach russischen Angaben — eine Reichweite von 480 Kilometern. Russland hat der NATO, wie im INF-Vertrag vorgesehen, mehrfach die Inspektion der Rakete angeboten, die NATO lehnte das Angebot ab. In der Folge reagierte Russland, indem es seinerseits den Vertrag kündigte.

Das Ende des INF-Vertrags wird unmittelbare Folgen haben für die noch existierenden Abkommen über Abrüstung und Rüstungskontrolle: Als ersten betrifft dies den New-START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Talks), der zwischen den Präsidenten Barack Obama und Dmitri Medwedjew geschlossen wurde. Dieser sieht vor, die atomaren Sprengköpfe auf beiden Seiten auf die Zahl von 1.550 zu reduzieren und die Anzahl der Trägerraketen zu begrenzen. Der Vertrag läuft 2021 aus. Misstrauen und Angst auf beiden Seiten machen die Verlängerung des START-Vertrags mehr als unwahrscheinlich. So eröffnet die Beendigung des INF-Vertrags das Tor für ein neues, gigantisches nukleares Wettrüsten.

Was hinter dieser Raketen-Debatte steckt, wird sichtbar, wenn wir genauer auf drei grundsätzliche Entscheidungen der US-Aministration und der NATO schauen:

  1. Alle zwei Jahre veröffentlichen die USA ihr nukleares Planungskonzept, die Nuclear Posture Review. In der NPR vom Februar 2018 kündigten die USA an, dass sie die Zahl ihrer so genannten Low-yield-Nuklearwaffen über die derzeit existierenden 500 hinaus massiv erhöhen wollten. Diese Bomben werden in den Medien meist verniedlichend Mini-Nukes genannt, die Sprengkraft dieser „kleinen“ Bomben liegt in etwa bei der der Hiroshima-Bombe. Wie in der NPR ausgeführt, dienen diese Bomben taktischen, nicht strategischen Zwecken. Das heißt: Sie sind für das — europäische — Gefechtsfeld bestimmt. Für den Transport dieser Mini-Nukes ins Ziel werden also jene Mittelstreckenraketen benötigt, die bisher verboten waren. So senkt die Vervielfachung der neuen Sprengköpfe zweifelsohne die Schwelle des Einsatzes von Kernwaffen, die NPR stellt eindeutig fest: Ihre Verwendung wird nicht beschränkt sein auf Aktionen gegen „Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder die Infrastruktur in den USA, von Alliierten oder Partnern“. In der NPR wird offen der Ersteinsatz von Nuklearwaffen gefordert; unterstrichen wird, „dass die USA Nuklearwaffen als Antwort auf bedeutsame nicht-nukleare strategische Angriffe“ einsetzen werden. Damit ist klar, dass die veränderte Nuklearstrategie und das mit ihr verbundene Waffenarsenal dafür bestimmt sind, in Konflikten eingesetzt zu werden, die bisher als „konventionell“ eingestuft wurden. In diese neue Strategie passt es, dass die USA nicht bereit sind, den umfassenden Vertrag zum Verbot von Atomwaffentests (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty CTBT) zu ratifizieren, den bisher nur Russland — neben 167 anderen Ländern — ratifiziert hat. Damit werden Atomwaffentests wieder möglich — unterirdisch, auf der Erdoberfläche wie auch im Weltraum. Aus diesem Grund, so die NPR, lehnen die USA den Atomwaffenverbotsvertrag ab, weil dieser Vertrag „völlig unrealistische Erwartungen wecke“, denen zufolge eine atomare Abrüstung möglich sei.
  2. Allerdings gibt es für die Umsetzung dieser Strategie ein Problem: Die russische Zweitschlags-Antwort mittels ballistischer Raketen. Die USA und die NATO haben allerdings bereits in Rumänien anti-ballistische Systeme installiert, solche Systeme sind in Polen im Aufbau. Ursprünglich wurde die Dislozierung dieser Systeme gerechtfertigt mit möglichen Bedrohungen aus dem Iran. Als Russland seine Beteiligung an diesen „Verteidigungssystemen“ mit der Begründung vorschlug, es sei aus geografischen Gründen von solchen Raketen mehr bedroht als Westeuropa, lehnten die USA und die NATO dies ab. Dies lässt nur einen Schluss zu: Diese Systeme richten sich gegen die russischen ballistischen Raketen, ihr strategisches Ziel ist die Eliminierung der russischen Zweitschlagsfähigkeit im Falle eines nuklearen Angriffs auf Russland. Dies sind exakt die alten Vorstellungen und Konzepte, die bereits Anfang der 1980er Jahre verfolgt wurden: Einen Atomkrieg möglich und gewinnbar zu machen.
  3. Westliche Politik beschränkt sich aber nicht auf nukleare Kriegsführung. Daneben gibt es gewaltige konventionelle Anstrengungen. Der wahrscheinlich wichtigste Vertrag über Abrüstung und Vertrauensbildung war der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der 1989 geschlossen wurde. 1999 wurde er neu verhandelt. Dieser Vertrag wurde ratifiziert von Russland, Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan — kein NATO-Mitglied ratifizierte ihn. Stattdessen betrieb die NATO ihre Osterweiterung — dies im Gegensatz zu Versprechen, die der frühere US-Außenminister James Baker anlässlich der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags — der die deutsche Vereinigung ermöglichte — der sowjetischen Seite gegeben hatte und wonach die NATO „keinen Zentimeter nach Ost ausgeweitet werden sollte. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatte die NATO 16 Mitglieder, jetzt sind es 30, und das NATO-Gebiet hat sich ausgeweitet bis unmittelbar an die Grenzen Russlands. Wer vermag zu glauben, dass dies Russland nicht beunruhigt? Mehr noch: Im vergangenen Jahr organisierte die NATO entlang der russisch-norwegischen Grenze das größte Manöver seit Ende des Kalten Krieges, an dem mehr als 50.000 Soldaten teilnahmen. Begleitet wurde das Manöver von einer gewaltigen Armada von Kriegsschiffen und Luftstreitkräften. Es ist nicht bekannt, mit welchen Arten von Waffen die Flugzeuge und Kriegsschiffe ausgerüstet waren. Spielten Nuklearwaffen eine Rolle in den Szenarien dieser Kriegsspiele? Spielte die NATO-Doktrin vom Ersteinsatz von Nuklearwaffen eine Rolle bei diesen Übungen? Angesichts des oben Gesagten stellt sich die Frage, ob der Einsatz von „Nuklearwaffen in Antwort auf bedeutsame nicht-nukleare Angriffe“ — der russischen Seite — geübt oder zumindest simuliert wurde.

Russland und sein Präsident Putin werden immer wieder als die große Bedrohung des Westens bezeichnet — so wie es der Kommunismus in den alten Zeiten war. Doch was heißt dies, wenn wir die Rüstungsanstrengungen beider Seiten betrachten? Im Jahr 2018 haben die USA 623 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben, Russland 62. Russland hat sogar seine Ausgaben von 80 Milliarden im Jahr 2016 auf besagte 62 im Jahr 2018 reduziert. Dies sind Signale — wie aber reagiert der Westen? Die NATO-Ausgaben übersteigen insgesamt bei weitem 1.000 Milliarden US-Dollar. Angefügt sei: Wenn Deutschland das Ziel von 2 Prozent des BSP für Rüstungsausgaben erreicht, wird es bei rund 80 Milliarden liegen — weit über den derzeitigen Militärausgaben Russlands!

Selbst wenn zugestanden werden muss — und dies ist leider sehr wahrscheinlich — dass Russland gerade aufgrund seiner vergleichsweisen wirtschaftlichen Schwäche massiv in die — billigeren — Atomwaffen investieren wird, ist eines klar:

Die Digitalisierung der Kriegführung erhöht die Gefahr für die Menschheit. Die Zeit für Entscheidungen — und deren Korrektur — wird kürzer, sie wird an Maschinen übertragen. Allein dies wäre ein weiterer Grund für Abrüstung und Vertrauensbildung — es sei denn, man hält einen Atomkrieg für gewinnbar.

Zum Schluss noch zwei Fragen, die sich in diesem Kontext stellen:

  1. Ist Russland der wirkliche Feind? Seine Wirtschaft ist rückständig und basiert wesentlich auf dem Export von Rohstoffen und Rüstungsgütern. Ja, gerade der Rohstoffreichtum könnte ein Grund sein, dieses Land unter Kontrolle zu bekommen, wie es während der Regierungszeit von Boris Jelzin beinahe gelungen wäre. Jedoch: Heißt der wirkliche Feind nicht China? Von der Pazifikseite allein kann es nicht kontrolliert werden. Wenn aber Russland ausgeschaltet oder unter Kontrolle gebracht wäre und mehrere Staaten wie Kasachstan, Kirgistan et cetera bereits als Freunde des Westens zähen, wenn westlicher Einfluss südlich von Wladiwostok auf die koreanische Halbinsel ausgedehnt werden kann — dann wird es möglich, China einzukreisen. Könnte dies der Grund für das Treffen von Trump mit Kim Jong-un gewesen sein, das in unseren Medien eher als folkloristisches Abenteuer in den internationalen Beziehungen betrachtet wurde? Die koreanische Halbinsel dem Einfluss Chinas zu entziehen und zu einer militärischen Aufmarschbasis zu machen, ergibt geostrategisch durchaus Sinn. Dies gilt erst recht für die Dislozierung neuer Mittelstreckensysteme, die mit dem Ende des INF-Vertrags einhergeht.
  2. In dieser Situation fällt den europäischen Staaten eine besondere Verantwortung zu — und gemeint sind hier die Staaten des europäischen Kontinents vom Atlantik bis zum Ural. Es kann und darf nicht sein, dass dieser Kontinent zum nuklearen Schlachtfeld eine US-Expansion in der gesamten nördlichen Hemisphäre wird. Vertrauensbildung, Abrüstung, Ent-Nuklearisierung, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, wie sie in der Charta von Paris, dem Schlussdokument des KSZE-Prozesses, am Ende des Kalten Krieges als Politikziele festgeschrieben worden waren, sind der einzige Weg, der aus der derzeitigen Paranoia herausführen kann, die die Anmaßung besitzt, sich „Sicherheitspolitik“ zu nennen.

Der Ausgangspunkt einer solchen rationalen Politik, die die existentiellen Rechte und Interessen der Menschheit zum Ausgangs- und Zielpunkt macht, kann nur und muss das kontinentale Europa sein.

Militär und militärische Allianzen, die sich wechselseitig bedrohen, werden niemals Sicherheit schaffen. Sicherheit kann es nur geben, wenn der Andere, gerade auch der potenzielle Gegner, sich sicher fühlen kann.

Daher gilt: Nein zum Krieg heißt immer auch „Nein zur NATO!“.


Redaktionelle Anmerkung: Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete und aktualisierte Fassung der Rede beim Internationalen Treffen im Friedenscamp Ramstein am 28. Juni 2019.