Die Wiedererweckung des Kindes

Nach langer, bleierner Zeit kann sich ein Erwachen vollziehen — dazu müssen wir aber das Staunen wieder erlernen, Unbedarftheit, die „Ungezogenheit“ sehr junger Menschen.

Manchmal braucht es Jahrzehnte, um jung zu werden. Der Autorin ist es so ergangen. Lange, vor allem in den „C“-Jahren, fühlte sie sich wie gelähmt, angekettet, in einem Hamsterrad. Sie lebte nicht im vollen Sinn des Wortes. Lange verhielt auch sie sich gemäß den Normen. Bis etwas in ihr aufbrach. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ...“, sagte Jesus. Kinder leben ganz den Zauber des Augenblicks, die Faszination scheinbar kleiner Dinge. Sie lassen sich nicht so leicht verbiegen und sind aufrichtig. Nur ein Kind kann, wo alle anderen der Täuschung erliegen, ausrufen: „Der Kaiser ist nackt!“

Ich springe aus dem Bett, trete ans Fenster, strecke mich. Begrüße den neuen Tag. Und erinnere mich ...

Drei Jahre voller „Krisen“, voller unerwarteter Geschehnisse, voller Veränderungen. Was war davor, in den Jahren vor „C“? Für mich — stellvertretend für viele? —: Ein nicht hinterfragtes Dahinleben, unreflektiert, klaglos. Im Hamsterrad immerzu, beschäftigt. Ein angepasstes, funktionierendes Teil im gut geschmierten Getriebe, klar ausgerichtet, eingenordet, genügsam, effizient. Die Vorstellungs- und Erlebenswelt eingeengt auf das sozial, gesellschaftlich Erwünschte, auf eine nicht bewusst erkannte, benannte „Norm“.

Und dann diese drei Jahre, voller schmerzhafter Erfahrungen. Ungeheuerlichkeiten, Bedrohungen, Angriffe, Verletzungen, Ausschluss, Spaltung ... und eine allumfassende Demaskierung.

Laut wurde sie da plötzlich, die innere Stimme, die eigene Wahrnehmung, laut ihr „Nein“ zu der Verdrehung im Außen. Ein „Nein“ als Abkehr von dieser vertrauten Welt von Anpassung und Norm.

In dieser Zeit der Entblößung ist sie gestorben in mir, die alte, bleierne Betäubnis. Aufgeschlagen, diese lange wie narkotisiert fremdgeformte Erwachsene, die so unverbunden war mit dem Sein und mit sich, diese traurige Selbstverneinung, die so hoffnungslos ergeben war in das künstliche Substitut für die natürliche Erfahrungswelt.

Eine Erfahrung, so brutal, so schmerzvoll. Ein Prozess, ein Sterben. Und zugleich eine das Leben feiernde Befreiung.

Denn darunter, unter dem Leichentuch dieser leeren Hülle, kam es wieder zum Vorschein, wie eine Pflanze, die nach dem Winter wieder austreibt: das lebendige, wilde, weise Kind. Ein Kind mit einem weit offenen Herzen und ungetrübten, unbegrenzten Sinnen. Frei. Unerschrocken in der Liebe zur Wahrheit und im Vertrauen in sich selbst und in das nährende, haltende, Liebe-volle Sein.

„Der Kaiser ist nackt!“ erkennt es mit ungetrübtem Blick und ruft es hinaus in die Welt.

Wenn jetzt der Tod an mich herantritt, stehe ich vor ihm mit reinem Herzen, Leben-voll, mit Staunen, und voller Erwartung. Bin nicht schon vorher, im „Leben“, (ab)gestorben — verunstaltet, verstümmelt, vergiftet, verzehrt.

Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde bin ich: Dankbar. Staune, voll der Bewunderung für das Wunder und die Schönheit des Seins. Ich brauche keine Ersatzbefriedigung, keinen Avatar in einer erfundenen digitalen Phantasie-Welt. Die alten Verführungen verfangen nicht länger. Ich habe sie erfahren, erkannt, überlebt: Es ist nicht länger mein Spiel.

Mein ist das Jetzt, die präsente, atmende Erfahrung im Moment: das Rauschen im Wind. Die Kälte an den Händen. Die Sonnenstrahlen im Gesicht. Umherrennen im Regen. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Ahnen ... Lachen, Lieben, Atmen ... Jetzt.

Ich schaue, fast ungläubig, zurück wie auf ein fremdes Leben: ein gepolsterter Käfig, nur scheinbar golden. Verführung, Entmündigung. Eine täuschende Rundum-Sicherheit, die Tod bedeutet: Sterilität, Stillstand, Isolation, Leblosigkeit.

Eine Konkurrenz- und Konsum-Welt, angefüllt mit Kampf, Egoismus, Machtlosigkeit und Macht, Gier, Hybris und Entfremdung, Getrennt-Sein, Fragmentierung, Tätern und Opfern, Herrschern und Beherrschten, Schuld und Scham, Rache und Verzweiflung, Zerstörungswut und Todessehnsucht. Eine Welt der Angst. Pervertiert, narkotisiert, seelenlos.

Es ist nicht länger meine Welt.

Ich fühle es, das Kind.

Das Kind. Sieht. Erkennt. Benennt. Lässt sich nicht einfangen, denn — und das ist der Vorteil, es hat die erwachsene Erfahrung integriert — es weiß. Es lässt sich nicht täuschen, denn es vertraut in sich selbst. Es lässt sich nicht einspannen und ängstigen. Es erkennt die Schönheit in den einfachen Dingen. Es lebt. Nicht im Bedauern der Vergangenheit oder im furchtsamen Antizipieren der Zukunft. Nein:

Es lebt jeden Moment, ganz im Jetzt.

Frei.

Nachtrag

Ja, die Erwachsene gibt es auch noch. Sie ist oftmals tief getroffen von der allumgebenden, scheinbar blinden, alles spaltenden, alles verdrehenden und vergiftenden Sprach- und Handlungsgewalt. Ich bin froh und dankbar für die Anwesenheit des wilden freien Kindes, dankbar, demütig, für seine unverfälschte Lebendigkeit. Es lässt sich nicht einlullen und besetzen von alten Konditionierungen und neu geschaffenen Angstbildern. Es lebt: Es ist. Und kreiert dabei nicht nur seine eigene Welt, sondern ein ganzes Universum.



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