Die Wiederherstellung der Ehre
Diether Dehm hat die Geschichte der Prostituierten Rosemarie Nitribitt in Romanform neu erzählt — ihm gelang dabei eine umfassende Dekonstruktion typischer BRD-Mythen.
„Das Mädchen Rosemarie“ — zu diesem Thema gab es nicht einen, sondern gleich zwei Filme. Einen aus dem Jahr 1958, einen von 1996. Als „Sittenbilder der frühen Bundesrepublik Deutschland“ gelten sie schon lange. Wenn nun ausgerechnet das Urgestein der deutschen Linken, Diether Dehm, den Stoff nochmals wiederaufleben lässt, dürfen wir davon ausgehen, dass der politische Aspekt dabei eher noch stärker betont und das überhöhte Selbstbild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nicht geschont wird. Bei dem Allround-Talent schafft man es kaum, alle Tätigkeiten aufzuzählen, mit denen er sich bisher hervorgetan hat. Dehm überrascht und provoziert immer wieder all jene, die glauben, ihn auf eine bestimmte „Richtung“ festnageln zu können. So erwartet uns auch mit diesem gewichtigen Werk wieder eine faustdicke Überraschung. Und — wie die Autorin dieser Rezension versichert — einfach ein gutes Buch.
632 Seiten, der Kopf raucht. Erst war er rot, ehe er fast explodierte, nun glimmt er: Wie Glut im Kraterherde — ja, so gut ist das Buch. Sehr gut sogar, und es fesselt den Leser geradezu, zumal es um die Nachkriegsgeschichte der BRD geht, die in klandestinen Verhältnissen entstand und folgerichtig in einem monströsen „Gesundheitsdilettantendiktat“ beziehungsweise einer „Autokratur“ ihre temporäre Vollendung fand. Die Überreste des Exzesses sammeln wir gerade ein ...
Diether Dehm hat also nun den ersten Band einer geplanten Triologie mit dem Titel „Aufstieg und Niedertracht“ vorgelegt, den manch einer schon als Buch des Jahres bezeichnete und der die Hintergründe der 1957 ermordeten Rebecca/Rosemarie — das Mädchen, die Nitribitt, starb mit 24 — ausleuchtet. Sie arbeitete als Prostituierte, in der Presse meist als „Edelhure“ apostrophiert, und konnte Kunden bis in die höchsten Kreise vorweisen. Dehm fragt zu Recht, was wohl dahintersteckt, wenn die Familie Krupp dem Hauptverdächtigen, einem Nachbarn der Familie Dehm, 250.000 D-Mark für sein Schweigen bot …
„Als der Arbeitszettel eines polnischen Maurers aus eines Ministers Jackett in ihre Hände gelangt, ist das ein brisanter Beleg dafür, dass Deutschbanker Hermann Josef Abs am Giftgas Zyklon B und am Bau der Gaskammern in Auschwitz mitverdient hat. Bald darauf wird Rebecca erwürgt in ihrem Appartement in der Frankfurter Innenstadt aufgefunden.“
Auch darum ist es wichtig, immer an die dahinterstehenden Fakten zu erinnern, und letztlich auch, um einer mit Gewalt zu Tode gekommenen Person einen Teil ihrer Ehre wiederherzustellen.
Warum aber diese Spuren und Fakten nicht die Beachtung finden, die sie verdienen, liegt auf der Hand: BRD-Mythen dürfen und sollen nicht angetastet, nicht „beschmutzt“ werden. Wer ein „Nestbeschmutzer“ ist, wird mit Dreck beworfen.
Der Autor dieser eigentlich als Kriminalgeschichte zu bezeichnenden Erzählung eignet sich dafür trefflich, denn das Establishment mag keine Personen, die durchaus zu ihnen „aufsteigen“ könnten, aber sich doch dafür entscheiden, das Spiel von der Ersatzbank zu beobachten, weil die Trainer korrupt und fachlich mies agieren.
Doch Dehm weiß, woher er kommt, und verleugnet es auch nicht — selbst wenn er hier und da mit dem „Aufsteigermilieu“ kokettierte. Was übrigens jeder in seinen Lesungen, in denen er seine Mundart persifliert, bemerkt, doch auch, weil man es immer noch durchhört, wenn er „normal“ spricht. Sein Habitus gehörte auch stets dazu. Durch das „Momentum der Zeit“ kam er zudem in eine Position, die dem Schicksal zuzuschreiben wäre, gäbe es nicht da auch sein unnachahmliches Talent, das sich mit dem „Glück des Tüchtigen“ paart und ihn noch immer so erstrahlen lässt, dass das Ergebnis die kleinen Lichter verschlingt.
Aber diese kleinen Lichter erzeugen Feuer, wo sie können, zündeln, explodieren bisweilen; zwar störte der Dreck, der dabei entsteht, keinen großen Geist, wären da nicht jene Kleingeister, die sich sogar gern die Hände schmutzig machen („Querfront bizarr“, taz). „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ nannte er es — der größte Kritiker überhaupt —, der auf den Namen Karl Kraus hörte und nur an diese dachte: „Bei Nacht sehen sie wie Zeitungspapier aus.“ Kraus wusste, dass jene bereit sind, „Die letzten Tage der Menschheit“ einzuläuten — ein Prozess, der mindestens seit dem Sommer 1914 andauert.
Diether Dehm ist einer der letzten seiner Art, ein Multitalent, ja geradezu ein „Universalgenie“! Seine langjährigen Erfahrungen führten ihn auf den Gipfel der Erkenntnis, sodass er sich heute als politischer Philosoph präsentieren kann, der eine Welterklärung sein Eigen nennt und diese auch bis ins Detail begründet.
Er denkt dialektisch und philosophisch-materialistisch — aus diesem Stoff waren stets die besten Denker. Die Zwergenfeinde in ihren Schützengräben schauen hinauf zu einem Goliath. Denn was war oder ist er nicht alles: Millionenseller, Gewerkschafter, Manager, Bundestagsabgeordneter, Texter, Produzent, Liedermacher, Popsänger, Organisator, Schriftsteller und „Womanizer“... besonders Letzteres scheint die Garde der Woken, Diversen und anderer Krampfer auf die Barrikaden zu treiben. Da sie echte Barrikaden aber — wie auch das wahre Leben an sich — nur aus Schaubildern kennen, begreifen sie nichts; wohl aber fühlen sie, dass sie ihm nie das Wasser reichen dürften, vom Können ganz zu schweigen. Wenn einer wie er heute dann noch sinngemäß sagt: „Die Grünen sind der rechte Rand“, dann ist der freigegeben, vogelfrei und ein Outlaw für das Establishment. Wie sang schon die Ur-Berliner Schnauze aus dem Ruhrpott, Claire Waldoff, nur ganz leicht abgewandelt?
Sie mobben Dieter Dehm
Und sollten sich was schäm'
Sie sollten auch 'nen andern nehm'
Als ausgerechnet Dehm!
Und wen?
Och, zum Beispiel XYZ ... und den ... und den ... und den ...
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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Rebecca und die Wiederherstellung der Ehre“ bei der Neuen Rheinischen Zeitung.