Ein amerikanischer Utopist

C. Wright Mills wies bereits vor Jahrzehnten nach, dass die modernen Sozialwissenschaften einseitige gesellschaftliche Werte vertreten.

Faktenorientierung, Unparteilichkeit, „voraussetzungsfreie Erkenntnis“ — diese Werte gehören zum heutzutage fast unantastbaren Nimbus der Wissenschaften. Aber gilt das immer und gilt es speziell auch bei der Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge? Ist nicht längst offensichtlich, dass der Beobachter das Experiment beeinflusst? Und hat soziologische Forschung nicht immer zumindest eine Voraussetzung: die Kultur, von der der Forscher geprägt wurde? C. Wright Mills war ein wortgewaltiges Genie der Sozialwissenschaften. Schon in den 50er-Jahren untersuchte er die Herrschaftsdiskurse der Machteliten. Wenn er heute in Deutschland weitgehend unbekannt ist, dann liegt es vielleicht auch daran, dass seine Erkenntnisse so treffend wie unbequem sind. Aber trotz aller bohrender Zeitkritik war er auch Utopist, der für radikale geistige Freiheit eintrat: „Freiheit ist vor allem die Möglichkeit, die verfügbaren Alternativen zu formulieren und über sie zu streiten — und dann eine Wahl zu treffen.“

C. Wright Mills, der Name ist in Deutschland kaum bekannt. Zu Unrecht. Denn Mills‘ intellektuelle Gewalt und sprachliche Schlagkraft inspirieren bis heute. Seiner Zeit weit voraus, zählte der radikale Denker zu einem der wichtigsten Wegbereiter der Neuen Linken. 2016 kam eine deutschsprachige Neuauflage heraus: Soziologische Phantasie, und 2019 folgte eine zweite Die Machtelite. Grund genug, für beide Bücher zu werben.

Als Dokumente ihrer Zeit sind sie hoch aktuell und absolut lesenswert. Mills zeigt: Probleme, die jeder einzeln erfährt, gründen in den Strukturen, die uns alle umgeben. Nicht wir selbst müssen uns ändern, sondern die Verhältnisse, die unser Leben organisieren.

Charles Wright Mills (1916 bis 1962) war ein US-amerikanischer Soziologe mit vielen Gesichtern: für die einen „radikaler Nomade“, für die anderen „postmoderner Cowboy“ oder „amerikanischer Utopist“ (1). Mills war von allem etwas und doch nie eines. Als Wissenschaftler beschäftigten ihn Herrschafts- und Machtstrukturen moderner Gesellschaften und die Rolle der Intellektuellen in den Vereinigten Staaten. Sein Interesse galt dabei immer dem Menschen. Sein Ziel: Menschliches Handeln in Strukturen setzen, Sinnzusammenhänge verstehen und so das Große im Kleinen erklären.

Ich habe die Arbeit von C. Wright Mills während meines Doktorstudiums in den USA kennen und schätzen gelernt (2). Mills ist die Art Wissenschaftler, der einen wieder an die Wissenschaft glauben lässt: Kritisch und selbstreflektiert sind seine Analysen komplex und kontrovers. Er nutzt eine Sprache, die mit wissenschaftlichen Standards bricht. Sein Aufsatz „Zum intellektuellen Handwerk“ (On Intellectual Craftsmanship) (3) ist ein Appell an junge SozialwissenschaftlerInnen, sich nicht von den Standards und Methoden der Zeit blenden zu lassen, sondern nach dem zu fragen, was Wissenschaft leisten kann und sollte. Ein Muss für alle, die mit wachen Augen durch die Welt gehen und nach Alternativen zum wissenschaftlichen Mainstream suchen.

Zu seinen Lebzeiten stieß Mills‘ Arbeit in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf große Resonanz, auch in Deutschland. Nach seinem frühen Tod verblasste diese Aufmerksamkeit aber und sein Name wurde „in Deutschland völlig verdrängt“ (4). Dabei ist Mills‘ Werk beeindruckend: In nicht einmal 25 Jahren veröffentlichte er über 200 Aufsätze und 11 Bücher; mit seinen unveröffentlichten Schriften summiert sich sein Nachlass auf über 350 Beiträge (5).

Revival der Soziologischen Phantasie

Das internationale „Mills-Revival“ (6) ist ein Indiz: Mills‘ Werk ist aktueller denn je, auch im deutschsprachigen Raum macht sich das bemerkbar. Eines seiner Hauptwerke, Sociological Imagination aus dem Jahr 1959, wurde 2016 vom Soziologen Stephan Lessenich als Soziologische Phantasie in einer deutschen Neuübersetzung aufgelegt. Als Meilenstein wissenschaftlich-politischer Debatten in den Vereinigten Staaten zählt es auch heute noch zu einer der wichtigsten Selbstkritiken der Soziologie (7).

Unter soziologischer Phantasie versteht Mills eine Soziologie, die die Verbindung zwischen „persönlichen Schwierigkeiten“ (personal troubles) und „öffentlichen Problemen“ (public issues) herzustellen sucht. Soziologische Phantasie in diesem Sinne würde heute beispielsweise bedeuten, die gesellschaftliche Angst vor dem „Fremden“ mit der Krise der herrschenden Vergesellschaftungsform in Verbindung zu bringen: das „Ende der Wachstums-Wohlfahrts-Wirtschaftskraft-Erzählung ... mit der dunklen Ahnung der Leute, dass unerwünschte MigrantInnen nur die Vorboten einer radikal veränderten gesellschaftlichen Zukunft sind“ (8).

In Soziologische Phantasie tut Mills aber vor allem eins: Er kritisiert die Soziologie als wertfreie Methodenlehre und abstrakte Theorie. Er plädiert dafür, dass es kein voraussetzungsloses Wissen gibt, Wissenschaft also immer auf Basis vor allem westlicher Werten arbeitet. Diese seien weder transzendent oder immanent, sondern müssten erkannt und transparent gemacht werden.

Denn: „Forschung und Forscher werden zunehmend für bürokratische und ideologische Zwecke benutzt. Angesichts dessen müssen sich Sozialwissenschaftler als Person und in ihrer Berufsrolle fragen, ob sie sich der Nutzanwendungen und der Werte ihrer Arbeit bewusst sind“ (9).

Annahme ist, dass Sozialwissenschaftler nicht außerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen leben, sondern deren integraler Teil sind. Sie verfolgen eigene materielle Interessen. Sozialwissenschaftler können sich auch nicht aus politischen Gefechten heraushalten, denn in „einer Welt der Nonsenskommunikation ist jede Feststellung von Tatsachen politisch und moralisch wichtig. Alle Sozialwissenschaftler sind durch ihre schiere Existenz in den Kampf zwischen Aufklärung und Obskurantismus verwickelt” (10). Das heißt, Neutralität ist unmöglich.

Mills schlägt hier einen dritten Weg zwischen Empirismus und abgehobener Theorie vor: Er plädiert für eine kritische Sozialwissenschaft, weder bürokratisch instrumentalisiert noch selbstverliebt vor sich hin prozessierend. Eine Sozialwissenschaft, die gesellschaftliche Bedeutung erlangt, indem sie Zusammenhänge zwischen persönlichen Schwierigkeiten und öffentlichen Problemen zeigt. Eben das sei Aufgabe und Verheißung einer Soziologie, die sich, so Mills, viel zu häufig „einer merkwürdigen Lust an der Attitüde des Unbeteiligten“ hingebe (11).

Dreh- und Angelpunkt sei dabei, dass radikale Kritik — an gesellschaftlichen Verhältnissen oder der Wissenschaft selbst — vor allem „in detaillierten und überzeugenden Analysen zum Ausdruck“ kommt, „nicht in Namen oder Parolen“ (12). Dieser Punkt kann gerade für die kritische Kommunikationswissenschaft nicht oft genug unterstrichen werden.

Die Machtelite

Ganz in diesem Sinne haben sich Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner nun daran gemacht, ein weiteres Werk von Mills, The Power Elite aus dem Jahr 1956, neu in deutscher Sprache herauszugeben. Die Machtelite gilt vielen Mills-Kennern als sein „einflussreichstes Buch“ (13). Es ist Teil einer Trilogie über die Machtstrukturen der US-Gesellschaft, in der Mills erst die organisierte Arbeiterschaft (The New Men of Power, 1948) und dann die Mittelschicht der Angestellten (White Collar, 1951) untersuchte. In Die Machtelite wendet Mills sich der US-amerikanischen Oberschicht zu und kritisiert das demokratische System der USA fundamental.

Dabei wirken die Schlagkraft der Worte und die Gewalt der Analyse auch nach nunmehr 60 Jahren noch ungehemmt. Kernthese der Studie: Im Zentrum der freiheitlich-demokratischen Welt, den USA, konzentriert sich „die Macht in einem historischen neuartigen Netzwerk aus wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bürokratien“. In diesem Netzwerk habe sich „eine Machtelite formiert, die sich aufgrund ihrer Stellung über alle anderen sozialen Gruppen erhebt, über historisch beispiellose Machtmittel verfügt und den formal demokratischen Prozess in der Praxis auf vielfältige Weise untergräbt“ (14).

Auch Ansätze der Medienkritik lassen sich hier finden. Denn Mills zeigt, wie Medien den Informationsfluss zur Aufrechterhaltung dieser Strukturen sichern und dass deren Vertreter selbst Teil elitärer Zirkel sind (15).

Mills Studie löste eine — bis heute anhaltende — kontroverse Debatte über die Machtverteilung und die Bedeutung der Eliten in freiheitlich demokratischen Gesellschaften aus. Denn Freiheit, so Mills, „verlangt Zugang zu jenen Entscheidungsmitteln und Machtinstrumenten, mit denen heute Geschichte gestaltet werden kann“ (16) — diese aber seien durchaus ungleich verteilt. Sie lägen in den Händen weniger machtvoller Akteure und seien national wie international weitgehend „zentralisiert“ (17). Das stünde wirklicher Freiheit entgegen. Denn:

Freiheit ist nicht nur die Möglichkeit, zu tun, was man will; auch nicht bloß die Gelegenheit, zwischen Alternativen zu wählen. Freiheit ist vor allem die Möglichkeit, die verfügbaren Alternativen zu formulieren und über sie zu streiten — und dann eine Wahl zu treffen (18).

Freiheit liegt also in der Fähigkeit, Alternativen überhaupt denken zu können. Hierfür braucht es den ungehemmten Zugang zu Informationen, nicht elitäre Informationszirkel. Das ist ein Fazit aus Die Machtelite.

Das Buch bietet aber mehr. Es liefert historische Erklärungsansätze für aktuelle gesellschaftliche und politische Verwerfungen in den USA und Deutschland und ist damit ein Muss für jeden politisch Interessierten, der sich für das Zusammenspiel von Markt, Macht und Medien interessiert.


Quellen und Anmerkungen:

(1) in Einleitung, C. Wright Mills: Die Machtelite. Herausgegeben von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner. Frankfurt am Main: Westend 2019, S. 7
(2) Mandy Tröger: Re-reading C. Wright Mills. Breaking the Disembodied Truth. In: Cultural Studies & Critical Methodologies, June 12/3, 2012, S. 173-179.
(3) C. Wright Mills: Soziologische Phantasie. Herausgegeben von Stephan Lessenich, Wiesbaden: VS Springer 2016, S. 289ff.
(4) Hess 2003, S. 171 in Einleitung, Mills 2019, S. 11
(5) in Einleitung, C. Wright Mills: Die Machtelite. Herausgegeben von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner, Frankfurt am Main: Westend 2019, S. 9
(6) ebd., S. 10
(7) in Einleitung, C. Wright Mills: Soziologische Phantasie. Herausgegeben von Stephan Lessenich, Wiesbaden: VS Springer 2016.
(8) Stephan Lessenich: Soziologische Phantasie — heute: Die Welt zu Gast bei „Freunden“. In: Soziologie, 46/2, 2017, S. 160-172. Lessenich 2017, S. 242
(9) C. Wright Mills: Soziologische Phantasie. Herausgegeben von Stephan Lessenich. Wiesbaden: VS Springer 2016, S. 264
(10) ebd, S. 265
(11) ebd, S. 15
(12) in Einleitung, C. Wright Mills: Die Machtelite. Herausgegeben von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner. Frankfurt am Main: Westend 2019, S. 7
(13) ebd, S. 10
(14) ebd, S. 10
(15) Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten — eine kritische Netzwerkanalyse 2. Auflage. Köln: Herbert von Halem 2019.
(16) C. Wright Mills: Soziologische Phantasie. Herausgegeben von Stephan Lessenich. Wiesbaden: VS Springer 2016, S. 269
(17) ebd. S. 271
(18) ebd. S. 260

Literatur:

Stephan Lessenich: Soziologische Phantasie — heute: Die Welt zu Gast bei „Freunden“. In: Soziologie, 46/2, 2017, S. 160-172.
C. Wright Mills: White Collar. New York: Oxford University Press 1951.
C. Wright Mills: The New Men of Power. New York: Harcourt, Brace and Company 1948.

Der Beitrag Mandy Tröger: Über „Machteliten“ und „Soziologische Phantasien“. erschien in: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019.