Ein ehemals neutrales Land

Die Schweiz plant Waffenexporte in Kriegsgebiete zu ermöglichen und nimmt damit Abschied von seinem größten außenpolitischen Leitstern.

Künftig sollen Schweizer Rüstungsbetriebe Kriegsmaterial in Länder ausliefern können, die sich in einem bewaffneten Konflikt befinden. Auch die Weitergabe von Waffen soll grundsätzlich zugelassen sein. Ausländische und Schweizer Firmen sollen also in Zukunft Kriegsmaterial in 25 mehrheitlich westliche Länder selbst dann liefern dürfen, wenn diese sich in einem bewaffneten Konflikt oder Bürgerkrieg befinden oder in denen die Menschenrechte systematisch verletzt werden. Und ganz grundsätzlich können alle Länder, die Schweizer Waffen gekauft haben, diese künftig auch weitergeben. Das hat die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats (SIK-N) entschieden. Falls diese Vorlage am 19. Dezember 2025 im Parlament bereinigt und angenommen wird, wird von einer breiten Allianz das Referendum ergriffen. Keine Waffen an Unrechtsregime (1)! Die Abstimmung über das Referendum könnte im September 2026 zur Abstimmung gelangen. Innerhalb von 100 Tagen seit Publikation des Erlasses im Bundesblatt müssen 50.000 gültige Unterschriften von Stimmberechtigten vorliegen, damit das fakultative Referendum zustande kommt.

Rüstungsindustrie der Schweiz steht vor dem Untergang?

Als Begründung von Lockerungen von Kriegsmaterialexporten wird behauptet, die Schweizer Rüstungsindustrie werde durch die heutigen Regeln in den Ruin getrieben, sie stehe vor dem Untergang. Die Online-Datenbank der Wochenzeitung WOZ über Rüstungsexporte, die alle ansässigen Firmen auflistet, die in den letzten Jahren Exportbewilligungen für Rüstungsgüter erhalten haben, registrierte 150 Unternehmen, die Waffen, weitere militärische Güter und Überwachungs-Technologien exportierten — das Geschäft mit dem Krieg floriert (2).

Rüstungsunternehmen in der Schweiz sind zu einem großen Teil in ausländischem Besitz — Rheinmetall (BRD), General Dynamics (Mowag) USA, Beretta (Italien) und viele andere. Allein 2024 holten die diversen Rheinmetall-Unternehmungen Exportbewilligungen für über 1,5 Milliarden Franken ein — von wegen Ruin und Untergang! Auch für den US-Konzern General Dynamics, dem der Thurgauer Panzerbauer Mowag gehört, bleibt die Schweiz ein lukrativer Standort (2).

Es ist Krieg, und wir sind immer auch dabei

Da überall wie irr aufgerüstet wird und Kriege im Gange sind, gedeiht das Geschäft mit Waffen auch in der Schweiz.

Die Rüstungsindustrie steht in der Schweiz nicht vor Ruin und Untergang, wie behauptet wird. Rheinmetall in Zürich-Oerlikon sucht jetzt 600 neue Mitarbeiter; in der Unterführung des Bahnhofs Zürich-Oerlikon wurde kürzlich auf den Werbebildschirmen Werbung für diese Jobs gemacht. In der Schweiz herrscht akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, daher wird Rheinmetall die meisten Leute wohl im Ausland rekrutieren (3, 4).

Schweizerische Volkspartei (SVP) als Hüterin der Neutralität?

Bemerkenswert bei dieser Lockerung des Exports von Kriegsmaterial, die der Bundesrat anstrebt, ist die Unterstützung durch die Schweizerische Volkspartei (SVP). Die SVP gilt als Hüterin der Neutralität und sollte eigentlich eine Gegnerin von Lockerungen von Waffenexporten sein. Diese Partei war bis heute auch mit dem überparteilichen Komitee für die Volksinitiative für die „Wahrung der Schweizer Neutralität“ dabei. SVP-Nationalrat Thomas Hurter betonte trotz dieser Befürwortung einer Lockerung der Kriegsmaterialexporte, dass es sich bei der SVP in Sachen Neutralität nicht um eine Kehrtwende handle (5, 6).

Die Unterschriften für die eidgenössische Volksinitiative „Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)“ wurden am Donnerstag, 11. April 2024, eingereicht.

Auch linksgrüne Politiker und Bürger hatten in einem Aufruf der Neutralitätsinitiative ihre volle Unterstützung zugesichert, unter anderem der emeritierte Professor für Politikwissenschaft Wolf Linder und der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch (Sozialdemokrat). Werden diese Bürger Stellung nehmen gegen die Lockerung der Kriegsmaterialexporte, werden sie sich sogar dem Referendum anschließen? Wird die Sozialdemokratische Partei der Schweiz wieder wie früher für ein Verbot der Kriegsmaterialexporte eintreten?

Der Bundesrat empfahl jedoch dem Parlament bereits, die von einem überparteilichen Komitee ins Leben gerufene Initiative „Wahrung der Schweizerischen Neutralität“ ohne Gegenvorschlag abzulehnen (7, 8, 9).

In einem Krieg würde sich die Schweiz zu Tode verteidigen

Die Neutralitätsinitiative will unter anderem im Artikel 54a der Bundesverfassung die schweizerische Neutralität konkretisieren, damit sie nicht mehr der Beliebigkeit untersteht: „Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.“

An der „immerwährenden, bewaffneten Neutralität“ festhalten?

Soll die Schweiz an der immerwährenden, bewaffneten Neutralität festhalten, wie es die Neutralitätsinitiative verlangt? Meiner Meinung nach müsste die Schweiz heute eine zeitgemäße, moderne Verteidigung in Betracht ziehen: eine gewaltlose, zivile Verteidigung ohne Armee.

https://www.istockphoto.com/de/photo/military-boots-gm17199770-23762946

Ein Verteidigungskrieg in der dichtbesiedelten Schweiz mit den Atomkraftwerken (AKWs) in Beznau, Leibstadt und Gösgen, den vielen Staumauern, der hochtechnisierten Infrastruktur würde zu einem noch größeren Desaster führen als heute in der Ukraine, die 3,5-mal weniger dicht besiedelt ist als die Schweiz. Falls ein AKW nach einem Beschuss in einem Verteidigungskrieg hochgehen würde, könnte ein großer Teil der Schweiz nicht mehr bewohnt werden.

Soziale Verteidigung. Eine gewaltfreie Alternative zur militärischen Verteidigung der Schweiz, Verlag Schweizerischer Friedensrat, Dezember 1976

Im Krieg in der Ukraine hatte man bisher Glück, dass keiner der 15 Atomreaktoren kaputt gebombt wurde, auch nicht die sechs Reaktoren in Saporischschja die unter russischer Kontrolle stehen.

Weltweit hysterische Aufrüstungspolitik, auch in der Schweiz

Im Moment reiht sich die Schweiz ein in die weltweite hysterische Aufrüstungspolitik, die von den Medien unterstützt wird. Das Schweizer Armeebudget soll in 15 Jahren verdoppelt werden, vermutlich begleitet von Abbau von Sozialleistungen. Besteht heute eine Gefahr, dass die Schweiz militärisch angegriffen wird, von Russland etwa? Russland ist heute keine Großmacht mehr, obwohl es über Atomwaffen verfügt. Das Bruttosozialprodukt Russlands ist kleiner als das von Italien und das Militärbudget etwa dreimal kleiner als das der europäischen NATO-Staaten.

Atomzeitalter und Schlacht der Eidgenossen bei Morgarten, Sempach und Näfels

Im Atomzeitalter werden in der Schweiz immer noch die erfolgreichen Schlachten von unseren Eidgenossen hochgehalten: Morgarten, Sempach, Schlacht bei Näfels und so weiter. Ideen der Gewaltlosigkeit sind in der Schweiz hingegen zu wenig bekannt.

Pierre Cérésole organisierte nach dem Ersten Weltkrieg im kriegsverwüsteten Dorf Esnes, auf dem Schlachtfeld von Verdun, mit dem Service Civil International ein Workcamp auch mit Deutschen und Franzosen, um zu demonstrieren, dass ein gemeinsames Arbeiten mit Teilnehmern aus verfeindeten Nationen möglich ist.

Bis heute organisiert der Service Civil International auf der ganzen Welt Arbeitseinsätze in denen junge Menschen gemeinsam arbeiten und zeigen, dass ein friedliches Miteinander ohne Krieg keine Utopie bleiben muss (10).

Kriege sind furchtbar, das zeigt der Krieg in der Ukraine, in dem, wie geschätzt wird, schon eine halbe Million ukrainischer Soldatinnen und Soldaten entweder getötet oder verletzt worden sind. In einem Krieg würde sich die Schweiz zu Tode verteidigen.

Käthe-Kollwitz-Ausstellung im Kunsthaus Zürich 2023 (Foto Heinrich Frei)

Lockerung der Kriegsmaterialexporte für 25 Länder

Zurück zu der angestrebten Lockerung der Kriegsmaterialexporte der Schweiz. Betroffen von der Lockerung der Kriegsmaterialexporte, die angestrebt wird, wären 25 Länder, die in der sogenannten Anhang-2-Liste der Kriegsmaterialverordnung aufgeführt sind. Sie umfasst Staaten wie Deutschland, Österreich, die USA, Kanada oder Japan. Diese Staaten können als Demokratien mit ähnlichen Werten bezeichnet werden, heißt es.

Lockerung der Kriegsmaterialexporte ändert nichts

Eigentlich wird sich durch eine Lockerung der Kriegsmaterialexporte nicht viel ändern. Der Bundesrat, im Schlepptau der Rüstungs- und Finanzindustrie, hat es seit Jahrzehnten erlaubt, an kriegführende und folternde Staaten Kriegsmaterial zu liefern. Dem Schah-Regime im Iran, das Kriege führte und folterte, wurde zwischen 1972 und 1978 für 498 Millionen Franken Kriegsmaterial verkauft. Daneben ließ es Bern ständig zu, dass Banken, Versicherungen und Pensionskassen Rüstungskonzerne finanzierten, die neben konventionellem Kriegsmaterial auch Streubomben, Antipersonenminen und Atombomben herstellten (11).

Ständig Waffenexporte an Staaten, die Kriege führten

Seit 1990/91 gab es fünf große, westlich geführte Kriege: 1990 im Irak, 1999 in Jugoslawien, 2001 bis 2021 in Afghanistan, 2003 bis 2012 erneut im Irak und 2011 in Libyen. Auch am Krieg in Syrien ab 2011 waren westliche Staaten beteiligt. Millionen Menschen sind in diesen Kriegen umgekommen und sind zu Flüchtlingen geworden. Trotzdem wurden die helvetischen Waffenexporte an diese Staaten nie eingestellt, auch nicht an die Arabischen Emirate, Katar und Saudi-Arabien, die in Kriege verwickelt waren.

Trotz des ersten und zweiten Tschetschenienkriegs (erster Tschetschenienkrieg 1994 bis 1996, zweiter Tschetschenienkrieg 1999 bis 2009), den die Russische Föderation führte, wurden Russland von 1997 bis 2022 für 104,5 Millionen Franken von der Schweiz Kriegsmaterial und besondere militärische Güter geliefert.

Israel könnte ohne die Bomben, Granaten und Jets von NATO-Staaten keinen Tag Krieg führen

Die USA, Deutschland, Italien und weitere NATO-Staaten sind heute durch ihre Waffenlieferungen an Israel und auch an die Ukraine in einen „bewaffneten Konflikt“ verwickelt. Israel könnte ohne die Bomben, Granaten und Jets von NATO-Staaten keinen Tag Krieg führen, auch nicht gegen den Iran, den Libanon, den Jemen oder Syrien. Die Schweizer Waffenlieferungen an die USA, Deutschland, Italien und weitere Staaten, die Israel mit Kriegsgeräten belieferten, wurden nicht gestoppt. Schamlos wird heute in der Schweiz sogar empfohlen, Aktien von Rüstungskonzernen zu kaufen, die mit ihren Waffen an Kriegen beteiligt sind: Rheinmetall, Elbit, Leonardo, BEA-Systems, Lockheed Martin, Raytheon, Boeing, Northrop Grumman, General Dynamics, Dassault Aviation, Saab AB und so weiter.

Kein strafrechtlicher Freipass für Fabrikanten und Politiker, die Rüstungsgüter liefern lassen

Die Justiz in der Schweiz muss in Mordfällen oder bei Beihilfe zu einem Totschlag Untersuchungen einleiten, es sind Offizialdelikte. Aber sobald Tausende Menschen in Kriegen getötet werden, sind unsere Gerichte, unsere Justiz angeblich nicht zuständig. Jedoch gibt es keinen strafrechtlichen Freipass für Fabrikanten und Politiker, die Rüstungsgüter liefern lassen an Regime, die Kriege führen. Unter Artikel 25 des schweizerischen Strafgesetzbuchs fallen nämlich Delikte wie Beihilfe zum Mord, zu vorsätzlicher Tötung, zu schwerer Köperverletzung und zu schwerer Sachbeschädigung. Gehilfe bei solchen Straftaten ist derjenige, welcher „zu einem Verbrechen oder zu einem Vergehen vorsätzliche Hilfe leistet“, wer also auch „vorsätzlich in untergeordneter Stellung die Vorsatztat eines andern fördert“. Diese Verbrechen sind laut Artikel 75bis des Strafgesetzbuchs sogar unverjährbar und Offizialdelikte, die von der Justiz geahndet werden müssten.

Die Schweiz als neutrales Land sollte sich mit Initiativen zu Friedensverhandlungen stark machen, nicht Schweizer Waffen für die Kriege dieser Welt liefern und finanzieren. Die Schweiz ist Depositär-Staat der Genfer Konventionen und Sitzland des IKRK, des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf.