Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument
Die Arbeit von Moshe Zuckermann verleiht der Diskussion um Deutschlands Verhältnis zu Israel die nötige Tiefe und Differenzierung.
Israels Sicherheit ist Deutschlands Staatsräson. Was Angela Merkel 2008 bei ihrem Besuch in Jerusalem vor der Knesset postulierte, ist bis heute das Diktum deutscher Außenpolitik, wenn es um den Nahen Osten geht. Wer Israel kritisiert, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Vorwurf des Antisemitismus erwarten. Dabei findet eine derartige Vermischung von Begriffen statt, dass Menschen denken, Judenhass und Kritik an der Regierung Israels seien synonym zu verwenden. Der Historiker Moshe Zuckermann beschäftigt sich seit Jahren mit derartigen Zusammenhängen und leistet mit seinen Analysen zur israelischen Geschichte und heutigen Besatzungspolitik einen wertvollen Beitrag zu deren Verständnis.
Antisemitismus ist unbestritten ein zutiefst bedrohliches Phänomen. Die über Jahrhunderte andauernde Ächtung, Vertreibung und Ermordung von Juden kulminierte in der systematischen Entmenschlichung und Auslöschung von sechs Millionen Juden in deutschen Vernichtungslagern. Als Reaktion auf die andauernden Verfolgungen und Pogrome entstand schon im 19. Jahrhundert die zionistische Bewegung mit dem Ziel der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Ein Traum, der am 14. Mai 1948 mit der Erklärung der Unabhängigkeit Israels Wirklichkeit wurde. Ein Staat, der seitdem immer wieder im Zentrum von Polarisierung und Konfrontation steht und der nach den traumatischen Ereignissen vom 7. Oktober 2023 in einen tödlichen, ständig eskalierenden Vernichtungskampf verstrickt ist.
Bei meinen Bemühungen, mehr über Israel zu erfahren, stieß ich schon vor Jahren auf die Bücher und Videos von Moshe Zuckermann, emeritierter Professor für Soziologie und Geschichte an der Universität Tel Aviv.
Als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender 1949 in Tel Aviv geboren, wuchs er zunächst in Israel auf. 1960 emigrierten seine Eltern nach Deutschland. In Frankfurt besuchte er ein humanistisches Gymnasium und interessierte sich schon früh für Kunst und für die Philosophie der „Frankfurter Schule“.
Mit 21 Jahren kehrte er nach Israel zurück und lebt seitdem in Tel Aviv.
Vor Kurzem entdeckte ich im Internet einen von der Universität Kassel organisierten Zoom-Vortrag von Moshe Zuckermann mit dem Titel „‚Antisemit!‘ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“. Ich hole das 2017 veröffentlichte Buch aus meinem Regal: Eine augenöffnende Lektüre! Ein lebendiger Geist! Aber wie viele Bemühungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben aufzuklären, wird auch seine von der in Deutschland allgemein akzeptierten Erzählung abweichende Sicht unterdrückt und verfälscht.
Moshe Zuckermanns Sicht auf Israel
„Der Anfang von Weisheit ist die Definition von Begriffen“, bekundete einst Sokrates. So verfährt auch Moshe Zuckermann, indem er zu Beginn seines Vortrags Begriffe definiert und auseinanderhält. Er erinnert daran, dass im Zeitraum von 1945 bis 1990 in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt nur noch 35.000 bis 36.000 Juden lebten, die mehr oder weniger auf gepackten Koffern saßen. Juden — und damit Antisemitismus — waren damals im deutschen Alltag kaum präsent. Sie waren sozusagen ein Abstraktum: Ein wichtiger Begriff für Zuckermann, weil es sich dabei um eine Vorstellung und nicht um die Wirklichkeit handelt. Die überlebenden diasporischen Juden, die nach Israel emigrierten, unterschieden sich wiederum von den selbstbewussten wehrhaften „Neuen Juden“, die ihre neue „Heimstätte“ zu verteidigen hatten. Schwäche war verpönt, Jiddisch nicht geduldet; Hebräisch war die geforderte Sprache.
Zu klären seien auch — so Professor Zuckermann — die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel, denn „nicht alle Juden sind Zionisten, nicht alle Zionisten sind Juden und nicht alle Israelis sind Juden“:
Die ultraorthodoxen Juden sind Antizionisten. Für sie ist die Gründung Israels ein Gottessakrileg, denn nach ihren religiösen Vorstellungen hätte Israel erst mit Ankunft des jüdischen Messias entstehen dürfen.
Nicht alle Zionisten sind Juden, denn viele Unterstützer — darunter auch zahlreiche nichtjüdische Sympathisanten — solidarisieren sich mit ihnen aus der Ferne.
Zuckermann spricht auch über die Nakba. Das Wort kommt aus dem Arabischen, bedeutet „Katastrophe“ und bezeichnet die Vertreibung und Enteignung von 700.000 Palästinensern während des bei der Gründung ausgebrochenen israelischen Unabhängigkeitskrieges. Dabei wurden mehrere zehntausend von ihnen ermordet. Die zurückgebliebenen Palästinenser, so Zuckermann weiter, machen heute knapp 20 Prozent der israelischen Staatsbürger aus.
Deutschland hat immer gerne nach Israel geschaut und gehofft, mit materieller Unterstützung Sühne leisten zu können.
Israel-Reisen erfreuten sich großer Beliebtheit; die Bewunderung für die Aufbauleistungen des Landes war groß. So wurde, wenn von Juden gesprochen wurde, immer mehr an die Juden in Israel gedacht. Am 18. März 2008 erreichte die Solidarisierung dann einen Höhepunkt, als sich Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Aufenthalt anlässlich des 60-jährigen-Bestehens des Landes vor der Knesset zu Deutschlands Verantwortung für die Sicherheit Israels bekannte: „Diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar“, betonte sie, und das dürften „in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“
Die dunklen Seiten des Staates Israel
Besatzung
Doch die anfängliche Bewunderung für die unbestrittenen Leistungen Israels dauerte nicht an, so Zuckermann, der immer wieder auch auf die dunklen Seiten seines Landes hingewiesen hat.
Im „Sechstagekrieg“ eroberte Israel 1967 den Gazastreifen, die Golanhöhen, Ostjerusalem und das Westjordanland und wurde zum Besatzungsland über eine Million Palästinenser, auf deren Grund und Boden sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr militante nationalreligiöse Siedler völkerrechtswidrig breit gemacht haben. Das von Siedlungen zerstückelte Gebiet erlaubt keine Zweistaaten-Lösung mehr. Dort gibt es Straßen nur für Juden, und die Palästinenser sind Tag und Nacht den grausamen Launen und Demütigungen der die Siedler einseitig beschützenden IDF-Soldaten ausgesetzt. Zwei Rechtssysteme — das bedeutet Apartheid, und ein Apartheid-Staat ist keine Demokratie mehr.
Wer sich über die Situation dort umfassend informieren will, kann auf Hunderte von Berichten zurückgreifen, zum Beispiel auf die Dokumentationen der Organisation „Breaking The Silence“, für die ehemalige Soldaten über die menschenverachtenden Bedingungen in den besetzten Gebieten und über die Taten, die sie dort selber begangen haben, augenöffnend Zeugnis ablegen.
Dehumanisierung und Folter
„Folter ist die höchste Form des Totalitären, und kein Staat, kein westlicher Staat bekennt sich so offen dazu wie Israel.“ Oder: „Menschen werden folterbar, wenn sie zu Untermenschen erklärt werden“, so Rainer Mausfeld in seinem Vortrag über „Das herrschende „Faustrecht“ des Stärkeren und seine absolute Rechtsverachtung.“
Und ja, die Regierung Israels erklärt ihre Gegner in aller Offenheit zu Untermenschen. So der ehemalige Verteidigungsminister Joaw Galant, gegen den seit dem 21. November 2024 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt: „We are fighting human animals, and we will act accordingly.“ (Wir bekämpfen menschliche Tiere und werden entsprechend handeln.) Oder Arieh King, der stellvertretende Bürgermeister von Jerusalem: „They aren’t human beings and not human animals. They are subhuman and that’s how they should be treated.“ (Das sind keine menschlichen Wesen und auch keine menschlichen Tiere. Das sind Untermenschen, und so soll man sie auch behandeln.) Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnet sich selbst als Faschisten.
Sogar die ARD-Sendung Monitor veröffentlichte schon vor einem Jahr Grausames über die menschenverachtende Behandlung, über Folterung und Vergewaltigung von palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen.
Und laut einem Bericht des Spiegels vom 10. Oktober 2024 machten von der UNO beauftragte Menschenrechtsexperten Israel für Folter, sexuelle Gewalt und den gezielten Angriff auf Krankenwagen verantwortlich. Doch solche Berichte waren bisher im Mainstream selten.
Am Unerträglichsten anzuhören sind die vielen Berichte von Ärzten, die immer wieder Dienst in den zum großen Teil schon zerstörten Krankenhäusern getan haben, in denen es an allem fehlt, was Ärzte für ihre Arbeit brauchen: Wasser, Elektrizität, Verbandsmaterial, Medikamente, Antibiotika, Narkosemittel und Kraftstoff. Krankenhäuser, in die sich oft auch Familien geflüchtet haben, die in unmittelbarer Nähe von Verletzten und Sterbenden unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen in Zelten hausen — während draußen Bomben fallen und 24 Stunden am Tag Drohnen über den Köpfen heulen. Weitere Beispiele für solche Berichte kann jeder, wenn er denn will, ohne Schwierigkeiten im Internet finden.
Ist Kritik an Israel Antisemitismus?
Berechtigte Kritik an Israel sei verpflichtend und habe nichts mit Antisemitismus zu tun, so Professor Zuckermann, der seit Langem zu den schärfsten Kritikern der israelischen Regierungen gehört. Denn die Kritik ziele nicht darauf ab, Juden zu diskriminieren und zu brandmarken, sondern richte sich gegen Israels Politik. Wie sich auch die Kritik der Palästinenser nicht gegen die Juden an sich, sondern gegen die zionistische Besatzung richte.
Der Vorwurf des Antisemitismus sei daher ein Mittel, den Gegner mundtot zu machen und Debatten gar nicht erst zuzulassen.
So soll auch der Protest der Palästinenser gegen das Sterben im Gazastreifen in Deutschland möglichst klein gehalten und diskreditiert werden — gehören diese Menschen doch schon lange zu den Gruppierungen, die pauschal dafür angeklagt werden, die wahren Antisemiten und Terroristen zu sein.
Welch‘ ohnmächtigen Zorn die Besetzten inzwischen auf die nun schon seit Jahrzehnten andauernde Besatzungsmacht haben müssen, wird unterdrückt und scheint in Deutschland nur wenige zu beschäftigen. Die Verantwortlichen möchten anscheinend nicht, dass wir uns einer unserer menschlichsten Empfindungen, der Einfühlung, gewahr werden.
Kritik an Israel geht in Deutschland nun mal gar nicht, denn hier gilt, dass das, was dem akzeptierten Narrativ entgegensteht — das heißt der von der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) verabschiedeten Arbeitsdefinition von Antisemitismus — das darf nicht angetastet werden, auch wenn es von der Realität schon längst widerlegt wurde. Die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung bedürfe hier dringend erneut einer Aufarbeitung, so Moshe Zuckermann, der zu den Unterzeichnern der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ vom März 2021 gehört, die die Arbeitsdefinition der IHRA als „weder klar noch kohärent“ bezeichnet und ihr vorwirft, den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel und am Zionismus zu verwischen.
„Ich darf mich rühmen, von der Bundesrepublik offiziell als Antisemit eingestuft worden zu sein.“
Moshe Zuckermann gilt in Deutschland bei offiziellen Stellen — zum Beispiel für den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein — inzwischen als Antisemit, dem für seine Vorträge Räume verweigert und Einladungen zurückgezogen werden. Sein Kommentar:
„Ich bin der Sohn von Holocaustüberlebenden, meine Eltern waren Auschwitzüberlebende, und dann muss ich mir von irgendwelchen deutschen Beauftragten sagen lassen, dass ich Antisemit sei, weil ich das Land, in dem ich lebe, kritisiere und als Bürger dieses Landes auch eine bürgerliche Verantwortung habe, dieses Land zu kritisieren.
Kritikwürdig ist beispielsweise das fünfzig Jahre bestehende völkerrechtswidrige und entmenschlichende Okkupationsregime. Jeder anständige Mensch muss da kritisch werden, wenn ein ganzes anderes Volk schikaniert wird. Allein die Tatsache, dass ich mir herausnehme, das als verantwortungsvoller Bürger hier zu machen, gilt für die Deutschen dann als Indiz dafür, dass ich Antisemit sein muss.“
Verhungern oder Exodus — das ist hier die Frage!
Viel zu lange hat die Mehrheit in Deutschland — trotz aller Möglichkeiten, sich umfassend zu informieren — einseitig für die offen rechtsradikale israelische Regierung Partei ergriffen. Während der Gazastreifen zum größten Teil dem Erdboden gleichgemacht wurde, während die Bevölkerung dort systematisch dezimiert wird und die noch Lebenden hungern, keine medizinische Versorgung haben und immer wieder von Ort zu Ort in von der Regierung so bezeichneten „sichere Zonen“ flüchten müssen, erlauben sich die meisten Fraktionen im Bundestag, sich einseitig auf die Seite Israels zu stellen. Erst jetzt, wo die Menschen im Gazastreifen dem Hungertod nahe sind, beginnt die deutsche Regierung — viel zu spät! — zu begreifen, dass die Lage todernst ist, und dass das Schweigen gebrochen werden muss.
Israel hatte dem vorher für die Versorgung zuständigen UN-Hilfswerk UNRWA jede weitere Tätigkeit im Gazastreifen mit der Begründung untersagt, dessen Mitarbeiter unterhielten „mutmaßlich“ Verbindungen zur Hamas und seien sogar am Massaker vom 7. Oktober beteiligt gewesen. Die derzeit angefragten Hilfsorganisationen sind jedoch nicht in der Lage, die wenigen im Süden gelegenen Verteilungszentren zu versorgen.
Hunger wird als Kriegswaffe eingesetzt und erinnert unweigerlich an die Leningrader Blockade vom 3. September 1941 bis zum 27. Januar 1944.
Mütter kochen Gras und Blätter, um ihren Kindern wenigstens etwas anbieten zu können. Der Weg zu den Verteilungszentren ist oft lang, gefährlich und mit vielen Kontrollen verbunden. Am 3. Juni sind dort 27 Palästinenser durch Schüsse von israelischen Scharfschützen ums Leben gekommen. Bis heute sollen es mehr als hundert Tote sein.
In Vorbereitung auf einen Exodus sind alle Verteilungszentren im Süden eingerichtet, denn es gibt bereits Verhandlungen, die Menschen von dort über die Grenze ins Ausland zu verschieben, was viele der angefragten Länder jedoch ablehnen. Nur Libyen scheint unter Umständen bereit zu sein, eine Million Palästinenser aufzunehmen.
Deutschland hat seit dem 8. Oktober 2023 für fast eine halbe Milliarde Waffen an Israel geliefert (1) und ist auch sonst im Bereich der Versorgung von Panzern, die nur mit deutschem Knowhow und deutscher Technologie rollen können, für die Aufrechterhaltung des Vernichtungsfeldzugs von elementarer Bedeutung. Doch dass die BRD die Waffenlieferungen einstellen wird, ist nicht ersichtlich. Auch an dem Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit Israel soll festgehalten werden. Das Abkommen sei richtig und müsse bewahrt werden, gab Außenminister Wadephul bekannt, was aber — wie wohlfeil! — nicht heiße, dass man die israelische Regierung nicht doch auch kritisieren dürfe. Es sieht so aus, als ob sich außer Rhetorik nicht ändern wird.
2024 war der hundertste Todestag des Dichters Franz Kafka. In seinem hellsichtigen Werk geht es immer um in sich geschlossene, undurchschaubare Machtgefüge und wie sich der Mensch fühlt, wenn er Vertretern dieser Macht begegnet. Er sei ein Abzeichner seiner Welt, sagte Kafka einmal:
„Möglich, dass ich die Dinge auch ein wenig beleuchte, wie der Beleuchter auf einer halbverdunkelten Bühne. Das ist aber nicht richtig. In Wirklichkeit ist die Bühne gar nicht verdunkelt. Sie ist voller Tageslicht. Darum schließen die Menschen die Augen und sehen so wenig.“
Doch heute kann niemand mehr sagen, er habe nichts gesehen und nichts gewusst!