Ein wahnhafter Staat
Verlogene Narrative und Kriegslüsternheit lassen soziale Stabilität erodieren.
Deutschland steckt in einer Sackgasse. Was zunächst nach einer politischen These klingt, ist im Grunde eine psychologische Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Ein kollektives Gefühl der Ohnmacht hat sich breit gemacht. Die anhaltende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die bedingungslose Unterstützung Israels und immer neue Waffenlieferungen an die Ukraine. Mit all diesen Dingen haben sich viele Menschen resigniert abgefunden. Kein Wunder, schließlich sind ihre Möglichkeiten der Einflussnahme begrenzt. Wirft man einen Blick auf die Narrative deutscher Leitmedien, findet man dort oft nur die halbe Wahrheit. Und die suggeriert, Krieg sei eine Option, über die man zumindest einmal sprechen müsse. Diese Verlogenheit ist es, die zu psychischen Krisen und politischer Entfremdung führt. Beides ist eine natürliche Reaktion darauf.
Eine Frau hat ihren Lebensgefährten niedergestochen. Eine schreckliche Tat, nicht zu entschuldigen. Selbstverständlich müssen die Hintergründe und die Vorgeschichte des Vorfalls untersucht werden. Bekannt wird dabei, dass der Mann seine Lebensgefährtin ständig gedemütigt, ausgenutzt und bedroht hat, dass er oft gewalttätig wurde und jede Beratung rundweg verweigert hat. Die Anträge der Frau auf Wohnungsverweis und Näherungsverbot hat er nicht nur missachtet; sie haben ihn erst recht zu Gewalt provoziert. All das rechtfertigt nicht die Messerattacke; sie erscheint aber in einem ganz anderen Licht.
Eine Verurteilung ohne Untersuchung aller Umstände schafft keine Gerechtigkeit, sondern neues Unrecht.
Das gilt auch für die Beziehungen zwischen Staaten, wenn die „Wahrheit“ willkürlich auf die eigenen Interessen begrenzt wird. Im Fall des russischen Angriffs auf die Ukraine verweigern EU-Politik und Medien strikt die Berücksichtigung der Vorgeschichte; sie handeln damit bewusst wahrheitswidrig. Während die USA und Russland inzwischen verhandeln, so äußert Trump: „Dieser Krieg hätte nicht begonnen werden dürfen“, wollen die deutsche und verschiedene EU-Regierungen den Krieg und das stellvertretende Sterben um jeden Preis verlängern und liefern weiter schwere Waffen.
Stellen die Leitmedien die notwendigen Fragen nach dem Ziel und den Folgen der erneuten Waffenlieferung – bald auch von Taurus-Raketen? Mitnichten. Verlangen sie Antworten darauf, welchen Sinn es macht, wenn Deutschland und die EU die Kämpfe weiter befeuern und den Stellvertreterkrieg damit gnadenlos verlängern, gegen alle Vernunft und Menschlichkeit? Keineswegs. Allerdings vermeiden die meinungsbildenden Medien auch die Frage, ob der Kanzler in spe als ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender des weltgrößten Vermögensverwaltungs-Konzerns fähig und gewillt ist, die Interessen und Bedürfnisse der breiten Bevölkerung auch nur zu kennen, geschweige denn zu vertreten.
Wenn die Medien diesen Fragen nicht nachgehen, ist das kein Versagen. Es ist schlimmer. Sie verhindern systematisch die kritische Untersuchung und Kontrolle der Interessen und Lügen der herrschenden Klasse. Lebt Demokratie nicht von differenzierter, umfassender Information für die Meinungsbildung? Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit sind garantierte Grundrechte! Im Prinzip ja. Aber kritische Analysen werden einer bislang noch freiwilligen Selbstzensur unterworfen. Sie wurden zunehmend von ‚Narrativen’ abgelöst, die nicht die Realität abbilden und hinterfragen, sondern manipulative Erzählungen bieten, Stimmungen zu erzeugen suchen und Entscheidungen beeinflussen sollen.
Suggestive Bilder der Realität verhindern, dass grundlegende Fragen gestellt werden. Welchen Einfluss haben kapitalkräftige Tech-Konzerne und Finanzimperien wie BlackRock auf die Politik und auf unser aller Leben? Bewirkt nicht die vorherrschende Politik das Erstarken rechter und faschistischer Parteien und Gruppen in Deutschland und vielen Ländern der EU? Wieso unterstützt die Bundesregierung eine in Teilen faschistische Regierung in Israel mit Waffen, die beschuldigt wird, Völkermord zu begehen? Und: Hätte der Ukrainekrieg verhindert werden können, wenn die Verhandlungsvorschläge Russlands nicht brüsk zurückgewiesen worden wären?
Solche Fragen werden von staatstragenden Parteien und Medien systematisch ausgeblendet. Wer die Themen dennoch behandelt, erfährt Ausgrenzung und Ächtung. Die herrschende Politik soll einfach zur Kenntnis genommen werden – etwa der Beschluss der abgewählten Regierung, insgesamt mehr als tausend Milliarden Euro für Aufrüstung zur Verfügung zu stellen, die der Bevölkerung für existenzielle Bedürfnisse fehlen. Oder die Order, Kinder und Jugendliche kriegstüchtig zu machen. Narrative verbreiten staatliche Deutungen: Was gerecht und gut ist, wer unsere Freiheit bedroht, was man nicht sagen, vielleicht nicht einmal denken darf.
Der inzwischen abgelöste Präsident des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang bezeichnete in einem TV-Interview folgende Feststellungen als russische Propaganda, die bei uns verbreitet würden: Russland führt den Ukrainekrieg, weil seine Sicherheitsinteressen verletzt worden sind; der Westen will die NATO ausweiten und hat damit Russland unter Druck gesetzt. Alles russische Propaganda, die staatlicherseits beobachtet und verboten werden soll! Denn im neuen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Staatliche Narrative zum Ukraine- oder Gazakrieg sollen also nicht in Frage gestellt, die ethnische Säuberung Palästinas, der Völkermord und die Vertreibung aus Gaza und dem Westjordanland nicht verurteilt werden: Antisemitismus!
Die Narrative entfalten ein Eigenleben als hegemoniale Dogmen: Die Ukraine kämpft für Demokratie und unsere Freiheit. Während die Medien täglich Bilder neuer Waffensysteme präsentieren, stellt keine der großen Zeitungen oder Sender die Forderung nach Friedensverhandlungen auch nur zur Diskussion. Der Staat und seine Institutionen erklären Kriegstüchtigkeit und Kriegsmentalität zum höchsten Ziel und tun alles dafür, dass das Wahnsystem zur Normalität wird.
Die Folgen sind abzusehen. Armut, Krankenhausschließungen, Energiepreise, aber selbstverständlich auch unbegrenzte Summen für Aufrüstung belasten den Alltag aller Bürger. Die geplanten Sozialkürzungen können als Förderprogramm für die Rüstungsindustrie und als Wahlhilfe für die AfD gelten. Human Rights Watch weist darauf hin, dass die aktuelle Umverteilung Armut bewirkt, von der bis zu 18 Millionen Menschen betroffen, ihre Menschenrechte verletzt sind. Das wird aber nicht zum Narrativ. Politik und Medien schaffen eine Scheinrealität.
Die verbreiteten Narrative wirken also verlogen, besonders angesichts der wahnwitzigen Rüstungsprogramme und der resultierenden sozialen Krisen. Die Glaubwürdigkeit der Institutionen geht verloren, Angst und Probleme nehmen zu. Aber Kritik daran wird verdammt als russische Propaganda. Diese Verlogenheit ist die Grundlage für die Krankheit der Gesellschaft: Seelische Leiden nehmen nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen zu, ein Großteil hat Angst vor Krieg. Das Vertrauen in Parteien und Medien sinkt, nähert sich einem Allzeit-Minimum. Eine Mehrheit traut sich nicht mehr, offen die eigene Meinung zu vertreten. Wer hat schon Hoffnung auf eine bessere Zukunft? Von der neuen Bundesregierung erwartet niemand sie mehr, bevor sie im Amt ist.
Demokratie schrumpft zunehmend auf formale Verfahren; in essentiellen Themen herrschen Willkür, Heuchelei und Ungerechtigkeit.
Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Politik hängt von der Kapitalkraft ab. Die systematische Verbiegung der Realität in Regierungsprogrammen, in Medienberichten, in der Bundespressekonferenz und in Statements von „Experten“ machen die Gesellschaft krank. „Realität“ und „Wahrheit“ lösen sich auf in Beliebigkeit und Verlogenheit, „Demokratie“ verkommt zu Propaganda. Analyse wird durch eifernde Behauptungen von Militärs und Politikern ersetzt, wahnhafte Behauptungen aufgestellt: In vier Jahren greift der Russe an! Realität unterliegt beliebiger Umdeutung. Doppelstandards sind die Regel, wenn es um Angriffskriege, Völkermord oder Propaganda geht. Alle wissen es, nichts wird dagegen getan. Friedensgruppen und kritische Zivilgesellschaft wirken wie gelähmt. Die Diskrepanz zwischen vollmundiger Behauptung von Demokratie und Freiheit und den real eingeschränkten Rechten können Narrative nicht auf Dauer übertünchen. Der Kriegswahn zerstört Vernunft und Gesellschaft.
Nicht allein die sich radikal verschlechternde wirtschaftlich-soziale Lage der ärmeren Hälfte der Bevölkerung bildet den Nährboden für die AfD, sondern die Verlogenheit der Politik, die Werte predigt und überall Krieg und Zerstörung schafft und für menschliche Bedürfnisse nur Verachtung übrig hat.