Einblicke in den EU-Sumpf

Ein Brüssel-Krimi lässt Leser hinter die Kulissen der europäischen Hauptstadt blicken und beschert tiefere Erkenntnisse, als eine trockene politische Analyse es vermag.

An einem Spätsommertag in Brüssel überreicht ein Notar dem Kriminalinspektor Marcel Vermeylen einen Brief des Journalisten Trevor Chesterfield, nachdem dieser unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen ist. Es stellt sich heraus, dass Chesterfield zahlreiche Mitglieder des Brüsseler Establishments mit ihren dunklen Geheimnissen erpresst hatte. Marcels Vorgesetzter hat wenig Lust, sich die Finger an den „Spicy Files“ zu verbrennen, und will den Fall an den Staatsschutz abgeben, doch der eigensinnige Polizist ermittelt auch ohne Erlaubnis von oben und wagt sich in den Brüsseler Sumpf aus Eitelkeit und Vertuschung. Eine Rezension.

Ich liebe Literatur. Sie lässt mich in Geschichten eintauchen, als würde ich sie selbst erleben. Sie ermöglicht es, eine komplexe Realität begreifbar zu machen, die Verstrickung zutiefst menschlicher Schwächen und Begehren mit politischen Ereignissen und Dynamiken zu offenbaren, ohne anzuklagen. Dabei lässt sie mich auch offener auf das Geschehen blicken, denn es ist zugleich eine Geschichte, die mich nicht direkt betrifft. Außerdem liest bei Romanen das Herz mit, während Sachtexte nur im Verstand landen — wenn überhaupt.

Wenn ein Autor diese Macht der Literatur nutzt, um über Unrecht und politisch brisante Themen aufzuklären, indem er seine fiktive Geschichte in einen realen Kontext einbettet, reizt mich der Roman noch mehr. Ich habe schon einige solcher Bücher gelesen, die entweder in der Vergangenheit spielten oder in einem weit entfernten Land in Asien oder Afrika. Neu ist es für mich, in einen Roman einzutauchen, der mich mit in die EU-Hauptstadt Brüssel nimmt und seine fiktiven Figuren dort die realen Begebenheiten beleuchten lässt, die mir sonst verborgen bleiben.

Der unter dem Pseudonym Dominique Elsaesser schreibende Autor von „Spicy Files“ lebt in Brüssel und weckte nun meine Neugierde auf die Stadt, mit der ich bisher nur Bürokratie, Bier und Fritten verband. Der Roman enthält alles, was eine gute Geschichte ausmacht: Anziehung zwischen Mann und Frau, Aufklärung über reale Begebenheiten aus der belgischen und europäischen Vergangenheit, Kunstgeschichte, mörderische Kampfkunst, Spannung, Lügen, Machtspiele und eine Prise Humor.

Der Kriminalbeamte Marcel Vermeylen wuchs mir durch seine eigensinnige und zugleich romantische Art ebenso ans Herz wie der schrullige und zugleich trockene Rechtsmediziner Gaston Tryphon. Eine spannende Figur ist auch die schöne Historikerin Malaika Kombo aus dem Kongo, die einen außereuropäischen Blick auf Brüssel und die belgische Kultur einbringt.

Dominique Elsaesser setzt einen für mich ganz neuen Fokus auf die großen Ereignisse der europäischen Geschichte, indem er sie erstens aus belgischer Perspektive erzählt und zweitens neben dem Ersten und Zweiten Weltkrieg auch die dunkle Kolonialgeschichte des zweitkleinsten aller Kontinente erwähnt.

Dem Autor gelingt es quasi in einer kleinen Nebenhandlung zu zeigen, wie die Kolonialgeschichte Europas mit den ehemaligen Opfern und ihren Nachkommen heilen kann, als er auf einer Veranstaltung namens „Leidvolle Geschichte — hoffnungsvolle Zukunft“ im Europaviertel einen südafrikanischen Psychologen Informationen zu transgenerationalen Traumata übermitteln lässt, die ich zwar irgendwie kannte, aber noch nie bewusst im Kontext der Kolonisierung Afrikas durch die Europäer betrachtet hatte:

„In der anschließenden Podiumsdiskussion ergriff der südafrikanische Psychologe das Wort, ein grauhaariger Mittsechziger, der Marcel entfernt an Karl Marx erinnerte. Er erläuterte die seelischen Spätfolgen kolonialer Gewalt und wie Gewalt sich von einer Generation auf die nächste übertrage. Die Nachkommen der kolonialisierten Menschen könnten noch heute unter vermindertem Selbstwertgefühl und Sinnkrisen leiden, man spreche in diesem Zusammenhang vom Mechanismus der transgenerationalen Traumaweitergabe.

Doch auch auf Seiten der Kolonialherrscher komme es noch in den nachfolgenden Generationen zu seelischen Auswirkungen wie mangelndem Mitgefühl, Besserwisserei, permanenter Selbstrechtfertigung und Geringschätzung des Leides anderer Menschen.

‚Ein wichtiger erster Schritt, aus dieser generationenübergreifenden Spirale herauszutreten, besteht darin, seine ganz persönliche transgenerationale Vergangenheit zu verstehen‘, erklärte er abschließend und strich sich über den dichten Bart.“

Den Rahmen für diesen vielschichtigen und spannenden Krimi bildet das reale jüdische Künstlerehepaar Felix Nussbaum und Felka Platek, von denen ich bisher noch nie etwas gehört hatte. Sie wurden 1944 in ihrem Versteck von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Am Anfang des Buchs steht ein Zitat des Malers:

„Und wenn ich auch untergehe,
lasst meine Bilder nicht sterben —
zeigt sie den Menschen.“

Am Ende zeigt Dominique Elsaesser das letzte Werk von Felix Nussbaum „Triumph des Todes“, das auch im Roman eine Rolle spielt, und erzählt die Hintergründe dazu. Dadurch fühle ich als Leserin, wie die Literatur stets unsere vergangene und aktuelle Realität widerspiegelt und auf subtile Weise vermittelt, dass wir nicht machtlos sind. Wir können Werke malen und schreiben, die uns überdauern, und wir können ebendiese Werke anderer lesen und sie dadurch am Leben erhalten.

Die Mächtigen können Menschen umbringen, aber deren Botschaften und Erkenntnisse können dennoch überleben und in den Köpfen anderer weitergetragen werden.

Aufklärung ist wichtig. Und noch wichtiger ist die Frage, welche Form der Aufklärung auch bei den Menschen landen und verinnerlicht, ja gelebt werden kann.

„Spicy Files“ von Dominique Elsaesser wirkt auch nach Beenden der Lektüre auf verschiedenen Ebenen in mir nach. Das Buch entfachte meine Neugierde und ein Gefühl von Schaffensdrang wie auch Verbindung zu mutigen Malern der Vergangenheit und neuen Perspektiven von Mitmenschen, mit denen ich mich bisher wenig beschäftigt hatte, wie den Belgiern und deren Sicht auf Deutschland, meine Heimat.

Die abstrakte Bürokratiekrake der EU wird dank dieses Romans für mich zum ersten Mal irgendwie menschlich. Gelungene Fiktion macht die Realität greifbar und nimmt ihr zugleich das Übermächtige.

Was tun damit? Vielleicht zuerst einmal meine persönliche transgenerationale Vergangenheit weiter erforschen, meine Wurzeln als Europäerin, meine Mitverantwortung für die seelische Aufarbeitung der Geschichte ernst nehmen und meine Kraft aus der Unsterblichkeit künstlerischen Schaffens schöpfen, die mich immer wieder aus dem Gefühl von Ohnmacht in kreative Handlungsfähigkeit im Kleinen versetzt. Und die Vorfreude auf den zweiten und dritten Band der Krimireihe um Marcel Vermeylen genießen. Denn auch jeder Funken Lebensfreude ist im grauen EU-Sumpf gelebter Widerstand.



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