Eine andere Geschichte der Menschheit
David Graebers letztes Werk bietet einen interessanten Blick auf die menschliche Geschichte, die scheinbar vollkommen anders verlaufen ist, als allgemein geglaubt wird.
Die Geschichte der Menschheit folgt in der Regel einer linearen Erzählung. Von kleinen Horden der Jäger und Sammler haben sich menschliche Gesellschaften durch Sesshaftwerdung und der Ausdifferenzierung von Fähigkeiten zwangsweise über Stammesfürsten zu Staaten entwickelt. Damit einher ging der Zwang zu Hierarchien, da die komplexere Gesellschaft organisiert werden musste. Diese Erzählung stellen David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge — Eine neue Geschichte der Menschheit“ radikal infrage und belegen anhand archäologischer Funde und anthropologischer Erkenntnisse, dass diese Entwicklung weitaus komplexer war und von Herrschaft und Hierarchien gekennzeichnete Staaten keine notwendige Entwicklung darstellen.
Lange Zeit dümpelte die Menschheit in kleinen Clans dahin. Diese Gruppen zogen über die unberührte Erde, jagten und sammelten — und waren ansonsten ziemlich gewalttätig. Erst der Segen des Ackerbaus, der Sesshaftwerdung und der Zivilisation hat den Menschen Frieden und eine Entwicklung aus den primitiven Tiefen heraus in die Höhen der Wissenschaft und Technik ermöglicht. So ungefähr wird uns die Geschichte der Menschheit vermittelt: Zuerst war nichts als primitive Dunkelheit. Dann kam das Licht der Zivilisation, die mit der Aufklärung und der Moderne ihren vorläufigen Höhepunkt einer an sich linear verlaufenden, beständigen Verbesserung erreicht hat.
Der bekannte Anthropologe David Graeber hat kurz vor seinem Tod im Jahr 2020 gemeinsam mit dem Archäologen und Anthropologen David Wengrow ein Buch veröffentlicht, das dieses einfache und — wie sie immer wieder betonen — langweilige Geschichtsbild radikal in Frage stellt. Ihren Erkenntnissen zufolge lief die Geschichte vollkommen anders ab, und die lange Geschichte menschlichen Zusammenlebens war viel bunter und vielfältiger, als wir uns das derzeit vorstellen. Denn die heutigen Überzeugungen beruhen im Grunde auf zwei Vorstellungen, die zwar zunächst ganz unterschiedlich erscheinen, in ihrer Konsequenz aber sehr ähnlich sind.
Da wäre zunächst die Theorie von Thomas Hobbes, der zufolge sich die Menschheit vor dem Erscheinen des Staates in einem Kampf aller gegen alle befunden habe. Es soll ein Zustand des ewigen Krieges gewesen sein, in welchem der Mensch dem Menschen ein Wolf gewesen sei. Erst als die Menschen diesem beständigen Elend entkommen wollten, haben sie einen Teil ihrer Freiheit aufgegeben und ihre Rechte auf einen Leviathan — einen König und seinen Verwaltungsapparat — übertragen, um so den Segen des Friedens zu erleben.
Dem gegenüber steht die Idee Jean-Jacques Rousseaus, der Mensch im Urzustand sei ein „edler Wilder“ gewesen, ein freier Mensch, der nur seinem Willen folgend gelebt hat. Erst die Erfindung des Staates hat diesen Wilden gezähmt, ihn zivilisiert und ihm seine Freiheit genommen.
Beide Theorien münden letztlich in der Annahme, dass die Gründung menschlicher Zivilisationen zwangsweise einen Verlust der Freiheit und eine Entfremdung von der Natur mit sich brächte. Für Hobbes war dies ausdrücklich etwas Gutes, während Rousseau diesen Umstand bedauerte. Daher sind beide Theorien sehr eindimensional und bieten ein langweiliges Bild der menschlichen Gesellschaften. Dennoch sind sie — obwohl beide Autoren betonen, dass es sich um reine Gedankenspiele handelt und nicht um einen Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben — tief in der heutigen Vorstellung vom Menschen an sich und der Entwicklung von Zivilisationen verankert.
Dass sich Zivilisation auch vollkommen anders entwickeln kann, belegen beispielsweise die Indianer Nordamerikas. Diese haben sich, als sie mit den französischen Eroberern konfrontiert wurden, mit deren Kultur auseinandergesetzt und immer wieder scharfe Kritik am westlichen Zivilisationsmodell geübt. Den indianischen Stämmen zufolge waren es die Franzosen, welche als Wilde zu bezeichnen wären. Denn ihre Zivilisation bringe Ungleichheit, Armut und Gewalt hervor. Eines der Grundübel dieser Gesellschaft sei den Indianern zufolge das Geld, das all diese Dinge zwangsweise hervorbringt.
Auch machten sie sich darüber lustig, dass die Franzosen sich einem König unterwarfen, und bezeichneten sie als Sklaven. Die Vorstellung einer überlegenen europäischen Kultur lehnten sie ab. Denn dieser gegenüber stand die Kultur der Indianerstämme. Geld kannten sie nicht, weshalb es keine Armut gab. Ökonomischer Erfolg konnte in dieser Kultur nicht in Macht umgewandelt werden. Tatsächlich gab es in diesen Stämmen keine echten Hierarchien. Selbst der Häuptling konnte niemanden dazu zwingen, etwas zu tun. Recht und Gesetz gab es kaum, und Gerichte waren den Indianern unbekannt. Sie waren aber auch nicht notwendig, da ein starkes Gemeinschaftsgefühl sie von Straftaten abhielt. Zwar kam es durchaus vor, dass die einzelnen Stämme Kriege gegeneinander führten, dennoch war die Zivilisation der Indianer viel friedlicher als die der Europäer.
Das bedeutet jedoch nicht, dass man sie als Modell jeder vorstaatlichen Zivilisation betrachten kann. Diese Annahme würde nur die Theorien von Rousseau und Hobbes bestätigen, nach denen es eine Art Urzustand gab, den das Aufkommen moderner Zivilisationen beendet hat. Tatsächlich gibt es viele Hinweise darauf, dass auch in der Altsteinzeit immer wieder Kulturen entstanden, die Hierarchien und Macht kannten, und damit auch Gewalt und Krieg. Doch viele menschliche Kulturen haben im Laufe der Zeit Mechanismen entwickelt, welche das Aufkommen dieser Hierarchien wirksam verhinderten. Die Menschheit ist also immer wieder unglaublich kreativ geworden, um Gesellschaft zu gestalten und die Entstehung von Macht zu verhindern. Das zeigt auch, dass sich Herrschaftseliten nicht notwendigerweise herausbilden, sobald Menschen sesshaft werden und komplexere Gesellschaften ausprägen. Es ist kein Naturgesetz, sondern eine Entwicklung, der Menschen sich durch bewusstes Handeln entgegenstellen können. Damit können Menschen ihre Zivilisation bewusst gestalten.
Zudem ist die Idee, dass die Menschheit mit Aufkommen des Ackerbaus plötzlich zu einer rein sesshaften Spezies wurde, woraufhin sie zwangsweise Hierarchien ausbildeten, durchaus anzuzweifeln. Hinweise darauf geben die Nambikwara, die auch im 20. Jahrhundert noch in Brasilien existierten und hauptsächlich von dem berühmten Anthropologen Leví Strauss untersucht wurden. Diese Kultur war nur zur Regenzeit eine sesshafte Gartenbaukultur, die während dieser Zeit zudem nicht von Hierarchien bestimmt war. Während des restlichen Jahres hingegen lebten sie als Jäger, unter der Anleitung eines Anführers. Dieser ist jedoch nicht mit einem König zu vergleichen. Tatsächlich war auch er nicht dazu in der Lage, andere zu etwas zu zwingen. Die Nambikwara folgten ihm, weil er sich durch besondere Eigenschaften auszeichnete, etwa einer besonderen Entschlossenheit, oder indem er mit gutem Beispiel voranging.
Natürlich kann man indigene Kulturen nicht als Überbleibsel der Steinzeit betrachten. Doch ihre Kulturen ermöglichen einen anderen Blick auf die archäologischen Funde, da man von dem alltäglichen Leben und der politischen Struktur der frühen Menschen kaum etwas wissen kann. Es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass auch steinzeitliche Kulturen eine gewisse Saisonalität ausbildeten. Ein Beispiel dafür sind die steinzeitlichen Bewohner der britischen Insel. Diese trafen sich saisonal, um große Monumente — wie etwa Stonehenge — zu errichten. Vermuten viele Historiker und Archäologen, dass komplexere Bauten notwendigerweise eine Hierarchie mit Führerkaste erfordern, welche die Bauarbeiten anleiten, so ist dieser Schluss nicht zwingend. Denn es wäre ein ungewöhnliches Königreich, das immer nur für einige Monate im Jahr besteht, um sich dann wieder auf die ganze britische Insel zu zerstreuen.
Diese Menschen lehren uns aber noch etwas: dass es möglich ist, die Lebensweise zu ändern.
Denn sie hatten zunächst die Ackerbaukultur aus Festlandeuropa mitgebracht, diese aber nach einigen Jahrtausenden wieder aufgegeben und sich dazu entschlossen, wieder als Sammler zu leben. Ihre Viehherden, hauptsächlich Schweine, haben sie dabei aber behalten und diese oft viele hundert Kilometer zu den Versammlungsstätten um Stonehenge herum getrieben, wo sie dann an den Monumenten arbeiteten und dabei feierliche Feste abhielten. Es war also eine Art Zivilisation, die sich vermutlich ganz ohne Anführer selbstständig organisierte. Anzeichen für ähnliche Lebensweisen finden sich überall auf der Welt, etwa um die Ausgrabungsstätte von Göbekli Tepe in der heutigen Türkei.
Die Frage, wie die Menschheit zu einer sesshaften Ackerbaukultur wurde, ist zudem nicht so einfach zu beantworten. Während der Historiker Yuval Noah Harari die Theorie vertritt, das Getreide habe den Menschen zivilisiert, so wird diese Theorie von Graeber und Wengrow verworfen. Denn sie stellt nur eine Umkehrung der verbreiteten Ansicht dar, dass der Mensch das Getreide kultiviert habe und dann in die Falle der Sesshaftigkeit geraten sei. Das jedoch ist wenig nachvollziehbar. Denn der Anbau von Getreide ist hochgradig arbeitsintensiv, und es gibt keinerlei Grund, warum die frühen menschlichen Kulturen ihre leichtere Lebensweise des Jagens und Sammelns gegen eine anstrengende und arbeitsintensive Lebensweise eintauschen sollten.
Ein wichtiger Aspekt der kulturellen Entwicklung ist den Autoren zufolge dabei die Abgrenzung von anderen Kulturen. So haben menschliche Zivilisationen sich oftmals bewusst gegenüber ihren Nachbarkulturen abgegrenzt, indem sie deren Verhaltensweisen zumindest in gewissen Aspekten abgelehnt und eigene entwickelt haben. Ein Beispiel, das sie anführen, sind die indigenen Stämme Kaliforniens, die sich von ihren Nachbarn im Nordwesten dadurch unterschieden, dass sie keine Sklaven gehalten und auch — trotz der Möglichkeit — weder Ackerbau betrieben noch Fische gefangen haben. Stattdessen sammelten sie Eicheln und Nüsse, was keine große Lagerhaltung erforderte, da die Früchte erst kurz vor dem Verzehr verarbeitet werden müssen, während Fisch und Getreide schon unmittelbar nach der Ernte und dem Fang verarbeitet werden und dann eingelagert werden müssen. Lebensmittelvorräte wiederum sind oftmals der Grund, aus dem Kriege geführt und Überfälle begangen werden.
Auch kulturell unterschieden sich die beiden Zivilisationen. Während die Stämme im Norden jedes Jahr ausschweifende Feste feierten, um ihre Überflüsse zur Schau zu stellen und zu konsumieren, waren die Feste der Kalifornier konzentriert auf Tänze und Gesang, ohne dabei jedoch in ausschweifende Exzesse zu münden. Denn sie verabscheuten das Zurschaustellen von Reichtum, sondern schätzten harte Arbeit.
Ähnliche bewusste Abgrenzung findet man im fruchtbaren Halbmond. Während die Stämme der Hochebene männlich dominierte Jäger- und Sammlerkulturen waren, lebten die Kulturen in der Tiefebene als sesshafte Gartenbaukulturen, die eher matriarchal organisiert waren. Dabei betrieben sie aber keinen Ackerbau in der heutigen Form, sondern nutzten lediglich die Schwemmgebiete entlang der Flüsse, in deren fruchtbarem Schlamm nach der jährlichen Flut sich bequem Getreide aussäen ließ, ohne dass noch viel Arbeit investiert werden müsste. Die Menschen haben dabei eine Domestizierung des Getreides, bei dem dieses bestimmte Eigenschaften verliert und die Körner sich vergrößern, bewusst vermieden, und das über einen Zeitraum von 3.000 Jahren.
Der Mensch hat das Getreide also nicht domestiziert, sondern über einen sehr langen Zeitraum alles daran gesetzt, genau das nicht zu tun.
Bei der Entwicklung der Kulturen spielten zudem die Frauen eine entscheidende Rolle. Sie waren es, die Wissenschaft betrieben, und zwar eine Erfahrungswissenschaft, die natürlich kein Labor kannte, aber einen großen Beitrag zur Weiterentwicklung der Zivilisationen leistete. Frauen waren damit wichtige Kulturtreiber, was erklärt, warum aus früheren Jahrtausenden so viele Frauenskulpturen gefunden wurden.
Dass Menschen überhaupt sesshaft wurden, hat — im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht — Graeber und Wengrow zufolge, nichts mit der Entdeckung der Landwirtschaft zu tun. Im Gegenteil, die Menschen haben über lange Zeit eher vermieden, die Mühen einer ausgedehnten Landwirtschaft auf sich zu nehmen. Stattdessen wurde die Ernährung von verschiedenen Faktoren wie Jagd, Fischen, einem begrenzten Gartenbau und dem Sammeln von Nüssen, Früchten, Eicheln und Kräutern bestimmt. Ackerbau fand, wenn überhaupt, nur in den Schwemmgebieten von Flüssen statt, wo er verhältnismäßig unbeschwert war. Diese Ernährungsform garantierte den Menschen ein großes Maß an Freiheit, da sie sich nicht von einer Nahrungsquelle und den Mühen, diese zu garantieren, abhängig machten. Im Laufe der Geschichte gab es sogar immer wieder Kulturen, die zunächst den Ackerbau einführten, sich dann aber nach einigen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden von diesem wieder abwandten und zu anderen Formen der Nahrungsmittelbeschaffung übergingen.
Zudem gibt es unter anderem in Europa, genauer im heutigen Deutschland und Österreich, einige tragische Beispiele von Ackerbaukulturen, die zunächst beträchtlich wuchsen und dann wieder verschwanden. Ackerbau war also zunächst gar keine verlässliche oder erfolgversprechende Form der Nahrungsmittelbeschaffung.
Stattdessen war der Grund für die Sesshaftigkeit eher das Interesse an einem ausgedehnten Fernhandel, der sich über ganze Kontinente erstrecken konnte. Dabei war dieser nicht kapitalistisch motiviert. Motivation war vielmehr die kulturelle Bedeutung bestimmter begehrter Gegenstände wie Bernstein, schöne Muscheln oder Steine. Spätere indigene Kulturen des nordamerikanischen Kontinents und Polynesiens geben einen Hinweis darauf, wie dieser Fernhandel stattgefunden haben könnte. Denn hier gab es einige Kulturen, in denen die Menschen weite Reisen auf sich nahmen, um einen bestimmten Gegenstand zu erlangen. Diese Wertgegenstände wurden dann allerdings nicht angehäuft, sondern an anderer Stelle eingetauscht, als diplomatische Geste verschenkt oder als Erbstück von Generation zu Generation weitergegeben, wobei man ihm eine große Ehre entgegenbrachte. Der Besitz dieser Gegenstände spiegelte keinerlei Macht oder großen Einfluss wider.
Diese sesshaften Kulturen haben sich im Laufe der Zeit, wenngleich auch nicht überall und nicht zwangsweise, in größeren Gemeinschaften bis hin zu Städten zusammengeschlossen. Dabei ist die gängige Theorie, dass größere Zusammenschlüsse von Menschen Hierarchien und funktionelle Verwaltungen und Arbeitsteilung notwendig machen. Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar stellte dabei die Theorie auf, dass Menschen nur mit etwa 150 Menschen gleichberechtigte Beziehungen aufbauen könnten. Für alle Gruppen jenseits dieser Größe müsse sich dann zwangsweise ein Herrschaftssystem etablieren, um diese Gemeinschaften noch effektiv verwalten zu können. Dem widersprechen aber Funde von großen Siedlungen und Städten, die überall auf der Welt gemacht wurden. In diesen Städten wie Çatalhöyük in der heutigen Türkei oder Nebelivka in der heutigen Ukraine lebten tausende, wahrscheinlich über zehntausend Menschen über Jahrhunderte zusammen, ohne dass Anzeichen von Hierarchien gefunden wurden.
Tempel und Paläste wurden hier, wenn überhaupt, erst in späteren Jahrtausenden gebaut. Für Jahrhunderte lebten die Menschen hier ohne solche Herrschaftsstrukturen zusammen.
Dabei machen Archäologen oder Anthropologen den Fehler, solche egalitären Gemeinschaften als „einfache Gesellschaften“ abzustempeln, die noch nicht als Zivilisation zu bezeichnen seien. Erst die „komplexeren“ Gesellschaften, die ein Herrschafts- und Verwaltungssystem und eine Priesterkaste aufweisen, werden wirklich ernst genommen, ihre Herausbildung als unausweichliche Weiterentwicklung der „einfachen Gesellschaften“ betrachtet. Doch diese „einfachen Gesellschaften“ sind bei genauerer Betrachtung sehr komplex. Sie verfügten über Zugang zu Ressourcen wie Salz oder Feuerstein, die oft viele Kilometer, manchmal auch hunderte Kilometer entfernt abgebaut wurden. Zudem wiesen sie ein ausgeklügeltes System der Nahrungsmittelversorgung auf, das sich aus verschiedenen Quellen speiste. Auch die Wohnräume waren mehr als einfache Zelte oder Hütten und erforderten in ihrer Konstruktion einigen Aufwand, vom Fällen der Bäume über den Bau, und machten damit auch ein gewisses Nachschubwesen notwendig. Tatsächlich verfügten diese Kulturen über eine atemberaubende Logistik, und das alles ohne Herrschaft. Wahrscheinlich organisierten sie sich stattdessen durch ein System der gegenseitigen Hilfe, bei der die einzelnen Haushalte als autonome Einheiten fungierten, die jedoch in das größere System der Nachbarschaft und der Stadt eingebettet waren.
Es ist auch möglich, dass sich Herrschaftsstrukturen wieder auflösen und einer egalitären Gesellschaft weichen, die zudem die Kulturen zu einer neuen Blütezeit bringt. Hinweise dafür gibt es in den Überresten der mexikanischen Stadt Teotihuacán. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine typische mittelamerikanische Stadt, wie man sie von den Inka oder Azteken kennt. Große Tempel beherrschen das Stadtbild, zu deren Füßen Überreste von Menschenopfern gefunden wurden. Es gibt klare Anzeichen für Hierarchien, reichere Stadtviertel und Herrschaftszentren sowie Slums. Doch dann findet man dort auch merkwürdige Wohnblöcke, die tausende von Menschen beherbergten, und ihnen einen enorm hohen Lebensstandard ermöglichten. Datiert man diese Bauwerke, stellt sich heraus, dass die Tempel und Paläste von den Anfängen der Stadt herrühren. Doch ab einem gewissen Punkt in der Geschichte der Stadt verlieren die Tempel ihre Bedeutung. Mehr noch, es lassen sich Brandspuren und Schäden finden — ein Hinweis darauf, dass die Bewohner der Stadt diese Tempel zerstört haben.
Erst anschließend wurden die egalitären Wohnblöcke errichtet, indem unfertige Schlossanlagen umfunktioniert wurden. Hier fanden tausende von Menschen Unterkunft, während die Tempel und Herrschaftszentren verfielen. Die Stadtbewohner müssen also im Laufe der Geschichte beschlossen haben, die Herrschaft einiger weniger zu beenden, und stattdessen eine gleichberechtigte Gesellschaft zu etablieren, die über Jahrhunderte Bestand hatte. Anzeichen für soziale Benachteiligung lassen sich in dieser Zeit nicht finden. Stattdessen haben die Menschen einen bis dahin ungekannten Lebensstandard erreicht. Zudem hat sich die Stadt in dieser Zeit noch einmal ausgedehnt und einigen Schätzungen zufolge bis zu 100.000 Menschen beherbergt. Bemerkenswert ist auch, dass bis auf die Zerstörung der Tempel keine Anzeichen von Gewalt gefunden wurden. Die Transformation ist also auf weitgehend friedlichem Wege gelungen.
Das zeigt, dass sich Menschen immer wieder gegen Herrschaft stellen und eine herrschaftsfreie Gesellschaft mit großer ökonomischer Gleichheit und einem hohen Wohlstand erreichen können.
Ein anderes Beispiel dafür, dass Könige und Oligarchen kein notwendiges Durchgangsstadium in der Entwicklung von Zivilisationen sind, ist die ebenfalls mesoamerikanische Stadt Tlaxcala. Von ihrer Form politischer Organisation erfahren wir von den Aufzeichnungen spanischer Eroberer, die von modernen Archäologen bestätigt werden. Auch wenn die Stadt in der Sekundärliteratur oft als Zusammenschluss mehrerer Königreiche beschrieben wird, deutet vieles darauf hin, dass es sich um einen demokratischen Stadtstaat handelte, in dem ungefähr 150.000 Menschen lebten. Ausgiebig beschrieben werden die politischen Abläufe von einem der ersten Rektoren der Universität von Mexico, Francisco Cervantes de Salazar (1514 bis 1575). Er beschreibt, wie Entscheidungen in einem Stadtrat durch lange Prozesse der Konsensfindung getroffen werden. Nicht eine Person entscheidet für die ganze Stadt, sondern Wahlbeamte beraten so lange über eine Angelegenheit, bis sie zu einer einstimmigen Entscheidung kommen.
Diese Wahlbeamten wiederum sind nicht mit den Abgeordneten unseres heutigen Wahlsystems vergleichbar. Wer in diese Position gelangen möchte, muss sich dem Volk unterwerfen. Die „Wahl“ beinhaltet eine lange Prozedur von Entsagungen, Fasten, Isolation und Aderlass, der mit einer öffentlichen Beschimpfung und Herabwürdigung beginnt.
Für eine solche Prozedur bedarf es ganz anderer Persönlichkeiten als diejenigen in heutigen Wahlsystemen. Schon die Tlaxalketen wussten, dass ein einfaches Wahlsystem, wie wir es kennen, charismatische Figuren mit autoritären Ambitionen an die Macht bringen würde.
Zudem haben die Einwohner der Stadt nie einen König anerkannt, wie sie selbst auch betonten. Das Konzept einer Monarchie oder einer autoritären Herrschaftsform war ihnen also bekannt, und sie haben diese aktiv verhindert.
Graeber und Wengrow begeben sich auch auf die Suche der Anfänge des Staates und arbeiten dabei heraus, dass diese Anfänge gar nicht so leicht zu finden sind, weil es schwierig ist zu bestimmen, was genau eigentlich einen Staat ausmacht. Das Konzept des Staates ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts; davor war der Begriff im Grunde unbekannt. Daher ist das Konzept auch nicht ohne Weiteres auf Herrschaftsformen übertragbar, die hunderte oder gar tausende Jahre zurückliegen. Die beiden Autoren machen dabei drei Eigenschaften aus, die ein Staat haben muss: Souveränität, Verwaltung und politischer Wettbewerb. In der Geschichte der Menschheit gab es jedoch auch viele Herrschaftsformen, die nur eines oder zwei dieser Kriterien erfüllten. Sind diese dann als Staat oder Urformen des Staates zu bezeichnen? Vor allem dann, wenn die Gesellschaften ihre Herrscher stürzten oder die Städte, in denen diese Herrschaft ausgeübt wurde, verließen, um sich einer anderen Art zu leben zuzuwenden?
Alles in allem zeigen Graeber und Wengrow zweierlei auf: Einerseits ist die Geschichte der menschlichen Entwicklung viel komplexer, als sie vielfach dargestellt wird. Der Übergang der Menschen von Horden, Stämmen, Stammesfürstentümer zu Staaten ist nicht so linear, wie er immer dargestellt wird. Ebenso verhält es sich mit dem Übergang von Jägern und Sammlern zu sesshaften Menschen. Auch stellen sie die Notwendigkeit von Herrschaft in Frage, die oft für komplexer werdende Gesellschaften behauptet wird.
Doch der wichtigste Aspekt ist wohl die Erkenntnis, dass Menschen immer wieder bewusste Entscheidungen getroffen haben, um ihr Zusammenleben zu verbessern. Sie haben Hierarchien und Herrschaft bewusst abgebaut oder in einem disruptiven Ereignis über Bord geworfen, um sich angenehmeren Formen des Zusammenlebens zuzuwenden. Sie haben kluge Maßnahmen ersonnen, um die Entstehung von Machthierarchien zu verhindern und konnten dabei immer wieder aus ihrer Geschichte und ihren Fehlern lernen. Diese Fähigkeit steht den Menschen heute nach wie vor offen. Damit zeigen die Autoren auch, dass wir selbst Gestalter unseres Zusammenlebens, unserer Kultur und damit letztlich auch unseres Lebens sind und sein können. Wir müssen von dieser Fähigkeit nur Gebrauch machen.