Errette uns, oh Friedrich!

Am Tag, an dem Friedrich Merz zunächst nicht zum Bundeskanzler gewählt wurde, stilisierte man seinen Misserfolg zur gefühlten Staatskrise.

Lange Gesichter beim Bundeskanzler — oder besser gesagt: bei demjenigen, der sich schon leicht verfrüht als Bundeskanzler wähnte. Es war der 6. Mai 2025, ein Dienstagvormittag: Friedrich Merz sollte endlich ans Ziel seiner feuchten Träume gelangen und Bundeskanzler der Bundesrepublik werden. Und dann fehlten ihm bei der Wahl im Bundestag sechs Stimmen. Dabei verfügte seine Regierungskoalition über zwölf Stimmen mehr, als für eine absolute Mehrheit nötig wären. 18 Abgeordnete der neuen Großen Koalition waren also abgesprungen. Die Kanzlerschaft musste warten. Wie lange die Wartezeit sein sollte, bestimmten die Stunden danach.

Die Union verfiel in Panik. Nie zuvor musste jemand, der sich nach einer Bundestagswahl zum Bundeskanzler küren lassen wollte, dergleichen über sich ergehen lassen. Wie würde man jetzt verfahren? Verschiebt sich ein zweiter Wahlgang, da das Grundgesetz vorgibt, „binnen vierzehn Tagen“ neu anzusetzen? Die ersten Stimmen meldeten sich zu Wort, die davon sprachen, am heutigen Tage keine Wahl mehr stattfinden zu lassen. Jens Spahn ließ die Journalisten wissen, dass Friedrich Merz selbstverständlich nochmals antreten würde. Nicht ganz uneigennützig warf er diese Information in die Runde, vermutlich weil es interne Kreise gab, die einen Kanzler Merz verhindern und lieber einen wie Spahn am Ruder sehen wollten. Das politische Schicksal des Friedrich Merz stand auf der Kippe.

Deutschland am Rande des Nervenzusammenbruches

Die Chancen standen gut, dass es mit seiner politischen Laufbahn ein Ende nehmen würde. In den Minuten und Stunden nach dem gescheiterten Wahlgang schien die Weichenstellung des Fortgangs fraglich: Rappelt sich dieser Merz, der einst angetreten war, seine Partei aus den Fängen der vermeintlichen Sozialdemokratisierung durch Angela Merkel zu erlösen, nochmals auf oder würde er in der Versenkung verschwinden und bedeutungslos werden?

Eine gewisse Panik war zu spüren, die ersten Pressevertreter stellten bereits Fragen, die in eine unliebsame Richtung abzielten — unliebsam für Merz und seine Getreuen.

Auch die internationale Presse schaute jetzt auf die Berliner Ereignisse. Auf CNN sprach man von einem „erstaunlichen Rückschlag“, der sich im Bundestag ereignet hatte. Die britische The Guardian unkte, dass das Geschehen die politische Stabilität gefährde, und die polnische Gazeta Wyborcza betonte, dass man die Unsicherheit in Berlin deutlich spüre. Blick aus der Schweiz nannte die gescheiterte Wahl „oberpeinlich“ und hielt sie für „gefährlich für Europa“. Die dänische Zeitung Politiken stimmte dem zu, Europa schaue „äußerst besorgt zu“. Indes meldete die Financial Times, dass die Märkte „unter Druck gerieten“. The Times aus Großbritannien verglich die Situation sogar mit der Weimarer Republik. Reuters meldete indes, dass man Zweifel an der politischen Stabilität der Regierungskoalition haben müsse — Deutschland würde also zu einem Ort politischer Unzuverlässigkeit degradiert.

Deutsche Medienhäuser witterten eine fulminante Krise. Auch das Wort „Staatskrise“ wurde immer wieder genannt. Und man sprach von einer Gefährdung der Demokratie. Schon am Vormittag jenes 6. Mai las man im Tagesspiegel von „den Unverantwortlichen“, gemeint waren damit „Merz-Verweigerer“; sie spielten „mit der Stabilität der Demokratie“. Am frühen Nachmittag desselben Tages legt das Blatt nach und zitierte Stimmen aus dem Kommentarbereich; final gewählte Überschrift dieser Zusammenstellung: „Der Schaden für die deutsche Demokratie ist enorm.“ Eine zweite Chance für Merz erbat sich auch die Jüdische Allgemeine, denn: „Es geht um die Demokratie.“ Gleichzeitig vernahm man Stimmen aus verschiedenen politischen Lagern, die von einer schlimmen Gefahr für das Land sprachen. Markus Söder witterte gar das Dritte Reich als Neuauflage. Ronja Endres, Vorsitzender der bayerischen SPD, sprach von einem „Bärendienst an der Demokratie“.

Der Demokratieschreck, der nun die Demokratie retten soll

Kurz und gut: Das Klima im Lande wurde binnen kurzer Zeit zu einem regelrechten Notstand aufgeblasen. Plötzlich machte die Staatskrise von sich reden. Und die Entourage des Friedrich Merz vernahm das sichtlich mit einer gewissen Wonne. Denn plötzlich konnte man das politische Schicksal ihres Kandidaten an ein viel größeres Ziel knüpfen.

Man versuchte hinter den Kulissen also nicht nur plump, Merz‘ Karriere zu retten — nein, nun ging es um alles, um das Ganze: um das Land, den Staat, um den inneren Frieden, die Vereitelung des Chaos, ja sogar die Verhinderung eines Bürgerkrieges meinte man herauszuhören. Einfach gesagt: Es ging mal wieder um die Demokratie. Unsere Demokratie — das Possessivpronomen darf bekanntlich nicht fehlen.

Von einem Moment auf den anderen bekam das Scheitern dieses Bundeskanzlerkandidaten eine völlig neue Dimension.

Nun ging es nicht um die Zukunft des ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden von BlackRock: Es ging um Deutschlands Zukunft.

Und besser noch — oder schlimmer noch, je nachdem, wie man es sehen wollte: um Stabilität in Europa. Denn dass sich aus dem Ausland sorgenvolle Stimmen meldeten, konnte man trefflich für eine Charmeoffensive für den Gescheiterten nutzbar machen. Friedrich Merz war nun der Hoffnungsträger für Stabilität und Demokratie; Ende Januar dieses Jahres war es noch ebendieser Friedrich Merz, den man als große Bedrohung für „unsere Demokratie“ betrachtete. Hunderttausende Bürger, fein choreografiert von Nichtregierungsorganisationen, die von Regierungsgeldern und damit Steuergeldern alimentiert wurden, demonstrierten auf Deutschlands Straßen gegen die CDU und ihren Kanzlerkandidaten. Er sei es, der Deutschland aus der Demokratie herausführen würde, vernahm man damals — er biedere sich an die Alternative für Deutschland (AfD) an, würde ihr Türen und Tore öffnen. Merz sei deshalb zu verhindern.

Nun wurde er am 6. Mai 2025 auf den letzten Metern verhindert. Er wurde gemeuchelt von seinen eigenen Leuten. Und plötzlich war es dieselbe Öffentlichkeit wie jene Ende Januar, die hoffnungsvoll bangte, dass es dieser Mann doch bitte ins Kanzleramt schaffen sollte. Denn ohne Friedrich Merz, so deuteten politische Beobachter und beobachtende Politiker es am Dienstag letzter Woche aus, breche das Land in sich zusammen. Deutschland war nun Friedrich Merz und Friedrich Merz Deutschland. Beide gingen für den Augenblick eine Symbiose ein. Zur Abwendung der Staatskrise, die dräute.

Vom Messias zum Bundeskanzler

Die Rede von der Staatskrise machte den Weg für eine schnelle Kanzlerschaft frei. Sie erstickte interne Personaldiskussionen im Keim. Denn wenn es nur dieser Mann sein konnte, der Deutschland vom Chaos bewahrt, dann muss man zusammenstehen. Carsten Linnemann, Sidekick des werdenden Bundeskanzlers, betonte dann auch in Dauerschleife, dass Zusammenstehen nun das Gebot des Momentes sei. Zusammenstehen sollten aber nicht nur die Mitglieder seiner Fraktion, sondern eben all diejenigen, die sich als Demokraten erachteten. Sie müssten jetzt zur Demokratierettung anheben.

Friedrich Merz war nun kein Schicksalsschlag mehr für das Land, sondern der vom Schicksal abgestellte Erlöser und Befreier, eine geradezu messianische Gestalt, der man nicht im Wege stehen sollte, auch gar nicht konnte, so einem die historische Dimension seiner Person bewusst geworden ist.

Staatskrise — der Duden definiert sie wie folgt: „Krise, die darin besteht, dass die staatliche Ordnung in ihrem Bestand gefährdet ist.“ Was davon traf am 6. Mai 2025 zu? Der deutsche Staat existierte vor Friedrich Merz; und nach allem, was man heute über seine politischen Pläne und sein Programm weiß, hat seine Kanzlerschaft eher das Zeug dazu, diesen Staat zu gefährden, als ein Kanzlerkandidat, den die eigenen Reihen verschmäht haben. Dennoch halfen Grüne und Linke aus, genehmigten eine Fristverkürzung und erklärten dann pathetisch, sie hätten der Demokratie einen großen Dienst erwiesen. Das klang so, als wäre die staatliche Ordnung noch am selben Abend zusammengebrochen, wenn man Friedrich Merz noch einige Tage hätte zappeln lassen. Die linke Fraktionschefin, eine Frau namens Heidi Reichinnek, die sich bald Hyänen tätowieren lassen möchte, um dieser schlecht beleumundeten Tierart gerecht zu werden, übte einen Bückling vor Merz, der offenbarte, dass sie wohl an den messianischen Auftrag dieses Herrn glaubte.

Das war schon ein ausgemachtes Schurkenstück, mit der der Kamarilla des Friedrich Merz eine schnelle Kanzlerschaft möglich machte. Sie verknüpfte die ganz persönliche Krise dieses Mannes mit dem Land, und die üblichen Stimmen der angeblichen Demokratierettung, gemeinhin beschränkt genug, um komplexe Dynamiken nicht zu begreifen, mussten darauf natürlich hereinfallen. Sie ließen sich nur zu gerne emotional manipulieren, denn wenn jemand von der Gefährdung jener Demokratie spricht, die so gut zu ihnen ist, die ihnen ein Auskommen bereitet und ihre postmaterialistische Leistungsverweigerungshaltung auch noch alimentiert, dann reagieren sie reflexhaft und frei von jeglicher Denkarbeit. Friedrich Merz wird dem Land einen Bärendienst erweisen — und nicht die, die im Tagesspiegel als „Merz-Verweigerer“ gehandelt wurden. Die haben Demokratie geübt, was selten genug passiert. Denn dass alle vorherigen Bundeskanzler stets sofort gewählt wurden: Das war die eigentliche Ausnahme. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes ahnten das offenbar, sonst hätten sie es nicht in Artikel 63, Absatz 3 festgehalten. Von wegen Staatskrise!