Finger am Abzug

Die israelische Führung versucht die Gaza-Krise mit genau den Mitteln zu „lösen“, die diese desaströse Lage erst herbeigeführt haben.

Israels Ex-Premierminister Ehud Barak sagt dem ZDF, sein Land sei entschlossen, die Hamas militärisch und politisch auszuschalten. Das sei nicht der Moment, an Frieden zu denken. Aber wann war nach Auffassung von Hardlinern jemals ein passender Zeitpunkt, um Frieden zu schließen? Viele israelische Politiker können sich diesen ohnehin nur als einen Siegfrieden vorstellen, der die komplette Unterwerfung des Gegners zur Voraussetzung hat. Mit langen, quälenden, für viele Menschen tödlichen Gefechten hat Israel in der Vergangenheit schlimme Erfahrungen gemacht. Gewalt erzeugte nur neue Gewalt. Als Schlussfolgerung aus all dem verordnete die israelische Führung jetzt: mehr desgleichen. Eine Heute-Journal-Sendung vom 15. Oktober schaffte es wenigstens, zum Thema die richtigen Fragen zu stellen.

Wie lange zumindest ich das nicht mehr erlebt habe: Gestern gab es einen relativ ausgewogenen, informativen Beitrag in einem öffentlich-rechtlichen Nachrichtenorgan. Es erinnerte tatsächlich an Journalismus und ist mir eine extra Erwähnung wert, dass Politikern von einem Journalisten nicht nur andächtig zugehört, sondern ihr Narrativ auch herausgefordert wird.

Foto: Screenshot aus dem Heute Journal vom 15. Oktober 2023 mit Ehud Barak und Christian Sievers



Der ehemalige ZDF-Nahost-Korrespondent und jetzige Heute-Journal-Moderator Christian Sievers unterbrach den „höchst-dekorierten Soldaten Israels“ Ehud Barak, der die militärische Gaza-Strategie seines Landes erklären wollte, um zu fragen:

„Und danach werden wir Frieden bekommen?“

Es schien kurz, als hätte er ein schmutziges Wort gesagt. „Das ist jetzt nicht die Zeit, um über Frieden zu sprechen. Das ist jetzt nicht auf dem Tisch. Erst müssen wir einen Krieg gewinnen. Wenn wir den Krieg nicht gewinnen, gibt es keinen Frieden. Wenn wir den Krieg gewinnen, gibt es eine neue Chance“, antwortete Barak schließlich.

Sievers hakte sogar nach und erinnerte an den ersten Libanon-Krieg, der sehr lange gedauert und Chaos hinterlassen habe — und mehr Krieg. Werde mit der militärischen Aktion nicht dasselbe erreicht? Sievers:

„Israel hat sehr viel Leid erfahren, bringt aber jetzt auch Leid über die Zivilbevölkerung in Gaza. Wie kann man ein Übel mit Übel bekämpfen, ohne immer neues Übel zu schaffen? Müsste man diesen Teufelskreis nicht stoppen?“

Natürlich antwortete Barak, dass diese beiden Dinge nicht verglichen werden könnten. Mit 1.300 Toten habe Israel einen so schlimmen Schlag erlitten, so als seien in Deutschland über 10.000 Menschen umgebracht worden.

„Wir halten uns an das Völkerrecht, aber wer uns angreift, wird unsere Vergeltung spüren.“

Sievers unterbrach die markigen Worte des alten Mannes und erinnerte ihn, dass im Norden von Gaza 1,3 Millionen Menschen leben, darunter Alte, Kranke, Verletzte, die den Norden nicht verlassen könnten. „Die sich selbst nicht bewegen könnten, sollten durch die UNO an einen sicheren Ort gebracht werden“, antwortete Barak.

Diese Aussage wurde gleich widerlegt durch das erschütternde Statement eines Arztes aus Gaza, Dr. Khamis Elessi — eine Seltenheit, da in Gaza Telefon und Internet zusammengebrochen sind beziehungsweise abgeschaltet wurden: „Wie soll man in 24 Stunden 1,3 Millionen Menschen evakuieren?“ Und das in einem Land, wo die Infrastruktur abgeschaltet wurde?

Beklemmend wurden auch die Angst und Trauer vieler Israelis sichtbar.

Bilder und Begegnungen in Tel Aviv machten deutlich: Aus diesem Schrecken entsteht immer wieder neu die immer wieder gleiche politische Strategie, das „Mehr desselben“ — selbst wenn bisher jeder militärische Kraftakt Rache und damit neues Leid hervorgebracht hat.

Doch auch die Unzufriedenheit mit der Regierung wurde sehr deutlich. 86 Prozent aller Wähler glauben, dass die Regierung Schuld an dem Hamas-Überfall hätte. Der israelische Historiker Tom Segev bekennt:

„Wir müssen einsehen, wir sind nicht so stark, wie wir dachten. Wir werden eine ganz neue Identität finden müssen.“

Und der jetzige ZDF-Nahost-Korrespondent Michael Bewerunge äußerte sogar eine persönliche Hoffnung: Dass die jetzigen Ereignisse zu einem Umdenken führten, wo man nicht mehr nur über immer neue Sicherheitsmaßnahmen nachdenkt, sondern wo – wahrscheinlich nach einer langen Schlacht — dann doch über Realitäten nachgedacht wird, „wo zwei Entitäten aufeinander zugehen, etwas abgeben, aber auch beide etwas zugewinnen können“.

Sievers endete mit einem Zitat von Etty Hillesum:

„Wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen — und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Alle Seiten haben die Finger am Abzug“ im Zeitpunkt.