Fliegen lernen!

Das Bewusstsein unserer Würde kann uns Mut und Orientierung spenden.

Chaotische Zeiten wie diese, in denen alte Gewissheiten schwinden und der Boden unter unseren Füßen zu wanken beginnt, können zum Kairos, zum günstigen Zeitpunkt, dafür werden, dass grundlegend andere, lebensfördernde Ideen die Chance bekommen, sich durchzusetzen. Eine solche zukunftsweisende, lebendige Idee ist das Bewusstsein unserer Würde. Sie schlummert als Potenzial in uns, will uns aufrütteln, inspirieren und in Entwicklung bringen. Und sie kann uns zu einem Kraftfeld verbinden, das uns trägt und hilft, menschlicher zu leben.

„Das zutiefst Menschliche in uns zu entdecken wird zur wichtigsten Aufgabe des 21. Jahrhunderts“ (Gerald Hüther).

Das lateinische Wort humanus bedeutet „menschlich“, „menschenwürdig“, „menschenfreundlich“, aber auch „fein gebildet“ und „gelassen“. Das ursprünglich Menschliche wäre demnach etwas, das uns einerseits von Geburt an mitgegeben ist, andererseits aber auch von uns durch Bildung oder Selbstbildung erworben werden muss.

Die Philosophie hat für dieses „zutiefst Menschliche“ schon vor vielen Jahrhunderten ein Wort gefunden, das Wort „Würde“. Einer der bedeutendsten philosophischen Texte dazu ist die Rede des italienischen Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463 bis 1494) mit dem Titel Über die Würde des Menschen.

Der Mensch ist ein freier Schöpfer seiner selbst.

Die Würde des Menschen liegt nach Pico in seiner Freiheit und seiner schöpferischen Natur, die ihn zur Selbstbestimmung befähigt. Der Mensch hat die freie Wahl: Er kann zum Tier entarten, pflanzenartig dahinvegetieren, aber auch seine Menschlichkeit entfalten. „Wir haben dich weder als einen Irdischen noch als einen Himmlischen geschaffen“, lässt Pico Gottvater sagen, „damit du als dein eigener, vollkommen frei schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst“ (1).

Drei Jahrhunderte später, zur Zeit der Aufklärung, definiert Immanuel Kant (1724 bis 1804) in einem nicht weniger bedeutsamen Werk, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die Würde des Menschen zusammengefasst so: Der Mensch ist „ein Zweck an sich“. Er darf nie zum Mittel fremder Zwecke gemacht werden (2).

Unser Bewusstsein für Würde ist im Gehirn verankert.

Aber nicht nur Geisteswissenschaften wie die Philosophie, sondern auch Naturwissenschaften wie die Neurobiologie haben das Thema Würde erforscht. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat ein ganzes Buch darüber geschrieben (3). „Die Bewusstwerdung der eigenen Würde“, erläutert Hüther, „ist der entscheidende Schritt in die Freiheit, ein Akt der Emanzipation, nicht als Frau oder als Mann, sondern als Mensch“ (4).

Aus neurobiologischer Sicht ist das Bewusstsein für unsere Würde in der „inneren Organisation und Arbeitsweise unseres Gehirns verankert“ und uns daher von Geburt an mitgegeben (5). Die entsprechenden neuronalen Verschaltungsmuster, so Hüther, bleiben auch dann erhalten, wenn sie im Laufe des Lebens gehemmt und unterdrückt wurden. Das heißt: Ein Leben lang kann das Bewusstsein für die eigene Würde durch neue, günstige Erfahrungen geweckt und entwickelt werden (6).

Dieser „innere Kompass“, erklärt Hüther, gibt uns ein Gespür für unseren Wert als Mensch und unsere Bedeutsamkeit als einzigartiges Subjekt. Er hilft uns, zu dem Menschen zu werden, der wir im Tiefsten sein wollen, und zeigt uns, wie wir würdevoll zusammenleben können (7).

Die Ausrichtung auf unsere Würde bringt uns in einen Zustand seelischer und körperlicher Gesundheit. Denn sie bewirkt, dass alle Körpersysteme in einen kohärenten Zustand geraten. Das heißt, sie arbeiten synchron und damit stressfrei und ohne Energieverlust zusammen (8). Seelisch wird dieser Zustand als ein Gefühl von Stimmigkeit erlebt.

Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Erich Fromm (1900 bis 1980) nennt diesen inneren Kompass das „humanistische Gewissen“ (9). Es ist die Stimme unseres Selbst, die uns zu uns selbst zurückruft, damit wir das werden, was wir der Möglichkeit nach sind. Mit diesem Selbst, so Fromm, ist der menschliche Kern gemeint, der allen Menschen gemeinsam ist (10).

Die Würde des Menschen ist antastbar.

Nach der Barbarei zweier Kriege und dem nationalsozialistischen Terror ging die Idee der Menschenwürde als Rechtsbegriff unter anderem in die Präambel der UN-Charta, in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und in das deutsche Grundgesetz ein (11). In Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Diese Aussage steht im krassen Gegensatz zu unseren Alltagserfahrungen. Denn anstatt die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen zu schützen, schränkt der Staat die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte zunehmend ein: Großer Lauschangriff, Staatstrojaner, Massenüberwachung und die Aufrüstung von Polizei und sogenanntem Verfassungsschutz sind nur einige Beispiele dafür.

„Wir sind auf dem Weg in einen präventiv-autoritären Sicherheitsstaat“, sagt der Jurist und Menschenrechtler Rolf Gössner (12). Aber es ist nicht nur der Staat, der die Würde des Menschen angreift. Die neoliberale Ideologie, die sich seit einigen Jahrzehnten zu einer Art säkularen Religion entwickelt hat, dringt als „anonym-alternativlose Gewalt“ mehr und mehr in unsere Institutionen und unsere Köpfe ein.

Denn, so erläutert der Wahrnehmungsforscher Rainer Mausfeld, dem Neoliberalismus geht es nicht nur um die Instrumentalisierung des Menschen für wirtschaftliche Zwecke. Er zielt vielmehr auf den Kern unseres Menschseins ab, auf unser Selbst. Es geht ihm, wie Margaret Thatcher es formulierte, um den „Kampf um Herz und Hirn“, um die Zerstörung unseres Widerstands- und Freiheitswillens und damit um die Ausschaltung unserer Würde (13).

Erobert Eure Würde zurück!

Indignez-vous! ist der französische Originaltitel eines Essays des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel (14). Der deutsche Titel lautet Empört Euch!. Hessel kritisiert darin mit großer Schärfe die politischen Entwicklungen nach der Finanzkrise von 2007/2008 und ruft zum Widerstand auf (15).

Das Verb s’indigner, das im Deutschen mit „sich empören“ übersetzt wird, hat im Französischen wie in anderen romanischen Sprachen einen völlig anderen Klang. Denn in ihm steckt das Wort dignité, „Würde“. Der deutsche Titel hätte demnach besser heißen müssen: Erobert Eure Würde zurück!

Denn „Empörung“ als Form des Widerstands reicht nicht aus. Es gibt so viele Fälle, die unsere Empörung hervorrufen, dass wir politisch gar nicht darauf reagieren können. Und das folgenlose Aufaddieren von Empörungen führt irgendwann zu einer „Empörungserschöpfung“ und damit zu einer Schwächung des Widerstandspotenzials. Es reicht nicht, gegen etwas zu kämpfen. Wir müssen für etwas kämpfen, das uns Kraft gibt und uns motiviert (16).

Wir brauchen eine neue, sinnstiftende Rahmenerzählung.

Deshalb brauchen wir, erklärt Rainer Mausfeld, eine neue Rahmenerzählung. Denn „alle sozialen Fortschritte, die in der Geschichte errungen worden sind, sind unter dem Mantel einer Rahmenerzählung erzielt worden“. Sie muss, so Mausfeld weiter, an der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrem Recht auf Selbstbestimmung anknüpfen (17).

Der Hirnforscher Hüther argumentiert in ähnlicher Weise. Für ihn ist das Einzige, was alle Menschen in ihrer Verschiedenheit verbindet, „die von ihnen selbst gemachte Erfahrung ihrer eigenen Würde“ (18). Sie, so Hüther, ist die einzige Kraft, die uns ermutigen und befähigen kann, den Verführungen und scheinbaren Sachzwängen des Systems entgegenzutreten (19).

Könnte nach Kommunismus, Sozialismus und Kapitalismus die Wiederentdeckung der eigenen Würde zu einem neuen, sinnstiftenden Rahmen, einer neuen Meta-Erzählung werden?

Ihr vornehmstes Ziel müsste dann die Schaffung einer lebendigen Demokratie sein, in der jeder und jede einen fairen Anteil an den gesellschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen zuerkannt bekäme.

Keiner kann sich alleine befreien, er wird aber auch nicht durch andere befreit.

Das Besondere an der Menschenwürde ist, dass sie sich zunächst im Inneren eines Menschen Bahn brechen muss, bevor sie zum handlungsleitenden Motiv im Außen werden kann. Damit wird die Bewusstmachung unserer Würde zu einer Herausforderung für uns alle.

Existenzphilosophen wie Karl Jaspers (1883 bis 1969) haben diese Herausforderung eine existenzielle Unbedingtheit genannt. Denn im Leben eines jeden Menschen, erklärt Jaspers, gebe es Situationen, in denen er sich entscheiden müsse, ob er seiner Würde folgen wolle oder nicht. Von dieser Entscheidung, so Jaspers, hänge das Gelingen oder Nichtgelingen seines Lebens ab (20).

Der griechische Gott Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, wird als Jüngling mit einem markanten Haarschopf, mit Flügeln und einer Waage dargestellt (21). Er lädt uns dazu ein, den richtigen, schicksalhaften, aber auch flüchtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, ihn beim Schopfe zu packen und den Sprung in die Freiheit zu wagen.

Menschen, die ihrer Würde folgen, verändern sich. Sie beginnen, ihr Potenzial zu entfalten. Ihr Leben wird reicher und sinnerfüllter; sie leben bewusster und gelassener.

Wärmestrom statt Kältestrom

Eine weitere Besonderheit der Würde ist, dass sie auf Gegenseitigkeit angelegt ist. Damit kann sie unsere persönlichen Beziehungen revolutionieren. Denn meine eigene Würde lässt sich nicht verwirklichen, indem ich mich selbst würdelos verhalte. Wieder zum Subjekt meines eigenen Lebens zu werden, heißt immer auch, dem anderen sein Subjektsein zuzugestehen.

Im wertschätzenden Umgang miteinander können die Würde und der Wert der eigenen Person wechselseitig erfahrbar werden. Hier entsteht der Wärmestrom (Ernst Bloch), der die Selbstachtung nährt und der eigenen Entwicklung Flügel verleiht.

Diese Art der Begegnung muss jedoch erlernt und in unzähligen Alltagssituationen eingeübt werden. Der US-amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg hat mit seiner Methode der Gewaltfreien Kommunikation einen wichtigen Beitrag dazu geleistet (22).

Nichts auf der Welt ist so kraftvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist (Victor Hugo).

Eine neue Bewusstseinsbewegung, die ihre Kraft aus der Idee der Menschenwürde schöpft, lässt sich nicht herstellen, nicht „von oben“ anordnen oder durch „Anführer“ organisieren. Sie kann nur von innen, aus der persönlichen Bereitschaft und der inneren Freiheit von Menschen entstehen.

Sie braucht neben guten Argumenten und ansteckenden Beispielen aus der Praxis auch die Ermutigung durch inspirierende Hoffnungsbilder. Solche Bilder, Metaphern und Gleichnisse führen uns unser unvorstellbar großes, bisher noch kaum genutztes Reservoir an Lebensmöglichkeiten vor Augen. Und weil sie den tiefsten Kern unseres Menschseins berühren, wirken sie heilend und erwecken zum Leben, was tief verschüttet oder schon fast wie abgestorben erschien. Dazu ein Beispiel:

Den Flug in die Freiheit wagen.

„Eines Tages fand ein Bauer ein Adlerjunges, das aus dem Nest gefallen war. Er nahm es mit sich nach Hause und zog es zusammen mit seinen Hühnern auf. Der kleine Adler entwickelte sich bald wie ein Huhn: Er ahmte ihre Laute nach und scharrte am Boden wie die anderen Hühner. Eines Tages kam ein Freund zu Besuch, der Vogelkundler war. Er riet dem Bauern, den Adler wieder in die Freiheit zu entlassen. Doch der Bauer meinte: ‚Sieh ihn dir an, er kann ja gar nicht fliegen. Aus ihm ist ein Huhn geworden.‘

Da sie es aber auf einen Versuch ankommen lassen wollten, stiegen sie am nächsten Morgen mit dem Adler auf einen hohen Berg. Der Vogelkundler nahm das Tier, richtete es zur Sonne aus und warf es in die Luft. Und der Adler, der zum Huhn geworden war, fühlte in sich die Sehnsucht nach der Höhe. Er spürte wieder sein Adlersein. Anfangs flog er schwerfällig und im Zickzack, dann immer sicherer. Und schließlich stieg er immer höher und höher, bis er in der Unendlichkeit des morgendlichen Himmels verschwand“ (23).

Unsere Institutionen, wie Familie, Schule oder Arbeitswelt, haben uns gezähmt und abgerichtet auf Zwecke, die nicht die unseren sind. Wir sind oft wie Hühner, die am Boden scharren. Aber in Wirklichkeit sind wir Adler. In uns allen schlummert die Sehnsucht nach Höhe, nach Unendlichkeit. Lasst uns den Adler in uns befreien und den Flug in die Freiheit wagen!


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Pico della Mirandola, Giovanni (1992): Über die Würde des Menschen. Zürich: Manesse Verlag, Seite 11 und folgende.
(2) Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Online verfügbar unter: https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa04/429.html.
(3) Hüther, Gerald (2018): Würde. Was uns stark macht − als Einzelne und als Gesellschaft. München: Albert Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
(4) Ebenda, Seite 135.
(5) Ebenda, Seite 87.
(6) Ebenda, Seite 133.
(7) Ebenda, Seite 135.
(8) Ebenda, Seite 97.
(9) Fromm, Erich (1990): Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München: Deutscher Taschenbuchverlag GmbH, Seite 125 und folgende.
(10) Fromm, Erich (1990): Die Medizin und die ethische Frage des modernen Menschen. Gesamtausgabe, Band 9, München: Deutscher Taschenbuchverlag GmbH, Seite 355 und folgende.
(11) https://www.menschenrechtsabkommen.de/praeambel-der-charta-der-vereinten-nationen-1213/
(12) https://hinter-den-schlagzeilen.de/auf-dem-weg-in-einen-praeventivautoritaeren-sicherheitsstaat
(13) KenFM im Gespräch mit Prof. Rainer Mausfeld. https://kenfm.de/rainer-mausfeld/, ab 00:34.
(14) https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A9phane_Hessel
(15) https://de.wikipedia.org/wiki/Emp%C3%B6rt_Euch!
(16) KenFM im Gespräch mit Prof. Rainer Mausfeld. https://kenfm.de/rainer-mausfeld/, ab 01:02.
(17) Ebenda, ab 1: 27.
(18) Hüther, Gerald (2018): Würde. Was uns stark macht − als Einzelne und als Gesellschaft. München: Albert Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Seite 83.
(19) Ebenda, Seite 19.
(20) https://www.nzz.ch/feuilleton/karl-jaspers-ein-philosoph-der-aufs-ganze-geht-ld.1460196
(21) https://hoffnungsorte-hamburg.de/2019/04/02/wichernbrief-no-31-03-2019/
(22) https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltfreie_Kommunikation
(23) Boff, Leonardo (1993): Wir müssen die Menschen vom Kreuz herunterholen, in: Publik-Forum Sonderdruck, Nummer 15, August 1993, Seite 11.