Forschung am Gängelband

Die Freiheit der Universitäten ist systematisch ausgehöhlt worden — von den gleichen Akteuren, die die Leitmedien gekapert haben.

Im Wahrheitsregime der Gegenwart ist die Wissenschaft mindestens genauso wichtig wie der Journalismus. Das macht beide Felder zu einer lukrativen Investition für alle, die Entscheidungen legitimieren müssen, und führt dazu, dass Forscher ganz ähnlich ticken wie Reporter und so als Korrektiv ausfallen.

Heute muss ich einen Seitensprung beichten. Der Medienforscher Michael Meyen ist fremdgegangen — zu einer Art Dauer-Zweitfrau, die ihn schon immer fasziniert hat. Wer sich an der Universität für den Journalismus interessiert und für das, was Leitmedien aus den Menschen und aus der Gesellschaft machen, fragt irgendwann ganz automatisch nach den Strukturen der Forschung.

Woher kommt das Geld und woher kommen die Leute? Wem hilft das, was da untersucht wird, und warum ist es so schwierig, das Offensichtliche zu benennen — die Tatsache zum Beispiel, dass wir die Öffentlichkeit einigen wenigen superreichen Verlegerfamilien überlassen und Rundfunkanstalten, die zwar scheinbar uns allen gehören, aber trotzdem fest im Griff von Politik und Behörden sind?

Die mit den Wölfen heulen“ hieß ein Text über die Kommunikationswissenschaft, meine akademische Disziplin, der vor knapp zwei Jahren im Rubikon erschienen ist. Kernsatz damals:

„Es zahlt sich aus, mit dem Staat zu heulen. Es zahlt sich aus, die Wünsche des Staates nicht nur zu kennen, sondern sie am besten schon zu erfüllen, bevor sie ausgesprochen werden. Es zahlt sich aus, ganz vorn mit dabei zu sein, wenn Parteien, Verwaltungen oder große Medienunternehmen irgendetwas durchsetzen wollen. PR für die Herrschenden gehört zur DNA der Kommunikationswissenschaft — ganz unabhängig davon, wer gerade herrscht.“

Ich bin dafür in die Geschichte dieser Disziplin eingetaucht — meine Zweitfrau, wenn man so will, zu der mich Zufall und Neigung geführt haben. Arnulf Kutsch, einer meiner akademischen Lehrer, brachte diese Frau mit, als er Anfang der 1990er-Jahre von Münster nach Leipzig kam. Kutsch hatte sich als Student in den späten Sechzigern gewundert, warum es in Vorlesungen und Seminaren nichts Kritisches zum Faschismus gab und vor allem nichts über die „Führungswissenschaft“, zu der sich die Medienforschung damals machen ließ. Am Anfang fand ich dieses Faible merkwürdig, habe dann aber schnell gelernt, wie durchsichtig Literatur wird, wenn man den Kontext kennt, der sie hervorgebracht hat.

Wissenschaftsgeschichte ist seitdem mein Hobby. Ich habe dieses Wort oft im Scherz verwendet, weil meine Kollegen nicht wirklich auf dieses Thema einsteigen wollten. Nabelschau, lieber Michael, nichts für ungut. Das Journal of Communication, die führende Fachzeitschrift, hat entsprechende Texte irgendwann gar nicht mehr begutachten lassen. Wir wollen nicht mehr über uns reden, hieß es sinngemäß, sondern über Medien und ihre Wirkungen. Dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist? Egal. Geschichte war nur dann erlaubt, wenn sie von der eigenen Größe kündet und so hilft, den Ruhm zu mehren.

Hin und wieder bin ich mit meinen Sachen trotzdem durchgedrungen und habe mich gewundert über das, was dadurch ausgelöst wurde.

„Es gab einen Hörsturz, nachdem ich vorsichtig nach der Leistung eines Professors gefragt hatte, und empörte Briefe seiner Freunde. Es gab eine Sitzung, in der der Vorstand der Fachgesellschaft allen Ernstes diskutierte, ob man mir verbieten solle, weiter biografische Details zu veröffentlichen, in einem Onlinelexikon, das den Anspruch hat, wissenschaftliche Arbeit transparent zu machen. Und es gab einen Shitstorm, auf Englisch diesmal, weil ich in den USA in einem Vortrag und in einem Aufsatz die These in den Raum gestellt hatte, dass alles, was von dort aus als ‚Internationalisierung‘ verkauft wird, eigentlich ‚Amerikanisierung‘ heißen müsste“ (1).

Das Zitat ist aus einem Buch, in dem ich weggehe von der Kommunikationswissenschaft und auf die Universität als Ganzes schaue. Die Zweitfrau ganz groß. Dieser Seitensprung hat auch damit zu tun, dass meine Liebe zur Medienforschung nach mehr als 30 Jahren erkaltet ist.

Es lohnt sich einfach nicht mehr, Zeitungen zu untersuchen oder TV-Beiträge und dann den Finger in die Wunde zu legen (2). Erstens gibt es kaum noch gesunde Stellen, zweitens schwindet die Hoffnung auf Besserung oder gar Heilung und drittens mögen die Kollegen meine Texte und mich nicht mehr. Die Wissenschaft ist da nicht anders als das richtige Leben: Wenn daheim nichts mehr geht, ist der Kopf plötzlich frei für neue Abenteuer. Das Thema lag auf der Hand: Ich konnte und wollte erzählen, wie die Freiheit von Forschung und Lehre im letzten Vierteljahrhundert systematisch ausgehöhlt worden ist.

Jeder Professor weiß: Wer die Universitäten beherrscht, bestimmt, wie wir leben. Die Universität ist das Nadelöhr, das jeder passieren muss, der irgendwann irgendwo etwas zu sagen haben will. Hier wird das Personal geformt, das später die Weichen für uns alle stellt.

Man kann über Schule und Kitas schimpfen, über die Justiz und über die Kirche. Man kann fragen, was in der Kultur los ist, in der Politik und im Gesundheitswesen. Man kann den Kopf schütteln, wenn man Zeitung liest oder Bekanntmachungen der Ämter. Wer dem Übel auf den Grund gehen will, kommt an den Universitäten nicht vorbei. Hier wird das Fundament gelegt, auf dem alles andere wächst. Und dieses Fundament hat heute nichts mehr mit der Universität zu tun, an die sich frühere Studentengenerationen erinnern.

Ich hatte mir das schön zurechtgelegt. Ich würde über Vorlesungen schreiben, die mit Multiple-Choice-Klausuren enden und damit jedem jungen Menschen ganz unabhängig von allen Inhalten sagen: Nur eine Antwort ist richtig, und die Instanzen über dir kennen diese Antwort schon. Du musst das nur auswendig lernen und die Deadline einhalten.

Das wollte ich kombinieren mit den Fördertöpfen aus der Politik, die es nicht gab, als ich vor mehr als 20 Jahren angefangen habe, und die heute bestimmen, was meine Kollegen untersuchen und in welcher Sprache sie das tun, Gendern inklusive. Auch da gibt es kaum eine Wahl, weil das Gehalt der Professoren inzwischen von solchen Geldern abhängt und davon, wie viele Texte sie im Web of Science unterbringen, erfunden vom Medienkonzern Thomson Reuters, Basis für die weltweiten Rankings und 2016 in die Firma Clarivate Analytics überführt, eine Goldgrube für milliardenschwere Kapitalanleger.

Die Gegenwartsdämmerung, das war meine Idee, lässt sich nirgendwo besser sezieren als im Herzen des neuen Wahrheitsregimes. Wissenschaft ist spätestens seit 9/11 die Religion der Stunde. Haben früher TV-Nachrichten, Bild und FAZ gereicht, um etwas durchzusetzen, brauche ich heute Priester mit Professorentitel, Studien, Akademien, Ethikräte, um all die zum Schweigen zu bringen, die nur einen Klick weiter das Gegenteil behaupten und oft Quellen auf ihrer Seite haben, die plausibler sind als die Titelstorys der Leitmedien.

Vermutlich liegt das in der Natur von Seitensprüngen: Die Dinge ähneln sich ziemlich schnell. Das alte und das neue Wahrheitsregime unterscheiden sich nicht groß. Egal ob Redaktion oder Studierstube: Die Deutungshoheit lockt alle an, die tatsächlich etwas durchsetzen können. Große Unternehmen, Stiftungen, die Politik und ihre Behörden. Das Personal kommt aus den gleichen Milieus. Aufstiegsorientierte Mittelschichten, die schon ihr Ehrgeiz daran hindert, die zu kritisieren, die weiter oben sind und das geschafft haben, was man selbst erst noch erreichen will.

Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, weil die Verträge befristet sind und genug Nachrücker bereitstehen. Hier freie Mitarbeiter, dort ein Heer von Bewerbern, die ein Stipendium wollen, eine Projektstelle oder gar die Krönung für den Akademikernachwuchs, sechs Jahre für Promotion oder Habilitation. Die Unsicherheit wird ertragen, weil der Preis für den Erfolg mehr als lukrativ ist.

Im Journalismus winken Ruhm, Nähe zur Macht sowie Einfluss auf den Lauf der Dinge und an den Universitäten Verbeamtung auf Lebenszeit und Autonomie, zumindest theoretisch. Wer sich für die Praxis interessiert, lese das Buch und lerne dabei auch, warum der Medienforscher Michael Meyen diesmal fremdgehen musste.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Michael Meyen: Wie ich meine Uni verlor. Dreißig Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen, edition ost, Berlin 2023, Seite 73 bis 74
(2) Vergleiche Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix, Rubikon, München 2021