Frei und doch verbunden

Ein selbstbestimmtes Leben und Wirtschaften jenseits von kapitalistischen Märkten ist möglich.

Die neoliberalen Strategien der Spaltung, Vereinzelung und Beherrschung des Menschen hinterlassen eine breite Spur psychischer und sozialer Verwüstung. Denn sie stehen den menschlichen Grundbedürfnissen nach Verbundenheit und freier Selbstentfaltung diametral entgegen. Doch nahezu unbemerkt von der öffentlichen Wahrnehmung breitet sich weltweit eine Bewegung aus, die Freiheit, Verbundenheit und Fairness zu den Leitlinien ihres Zusammenlebens macht. Jenseits des kapitalistischen Marktes und eines dirigistischen Staates vollzieht sich — auf dem Nährboden eines nicht hierarchischen Miteinanders — eine ökosoziale Transformation, die die Selbsttransformation ihrer Mitglieder einschließt.

Im Rahmen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses gelangten im Jahr 2021 Chatnachrichten an die Öffentlichkeit, in denen ein hochrangiger österreichischer Politiker die Menschen im Lande als „Pöbel“ und „Tiere“ bezeichnete (1). Eine Welle der Empörung erhob sich und führte zum Rücktritt des Politikers von allen seinen staatlichen Ämtern.

Dass ein Mitglied der sogenannten politischen Elite das Volk als Pöbel oder als Tiere bezeichnet, ist nicht neu. Solche Zuschreibungen ziehen sich durch die ganze abendländische Geschichte (2). Man kann sogar sagen: Der österreichische Politiker befand sich mit seinen Äußerungen in bester Gesellschaft. König Friedrich der Große von Preußen (1712 bis 1786) beispielsweise, ein Monarch, der sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet sah, war überzeugt davon, dass das Volk — diese „Tiere“ und „Dummköpfe“ — wenig Vernunft hätte (3). Ja, er meinte sogar, der „Pöbel“ verdiene keine Aufklärung (4).

Zwei Klassen von Menschen?

Beim vermeintlichen Gegensatz von Volk und Staat, verantwortungsvoller politischer Elite und gleichgültiger Masse, intelligenten Volksvertretern und dummem Wahlvolk ist der ideologische Hintergrund kaum noch erkennbar. Zu sehr haben wir die unbewiesene These von den zwei Klassen von Menschen verinnerlicht.

Danach hat die eine Klasse die Fähigkeit zu regieren, die andere besitzt sie nicht. Der Dualismus von Regierenden und Regierten und das damit verbundene hierarchische Denken sind — trotz Grundgesetz — tief in uns verankert. Das wundert nicht, denn es begleitet uns schon etwa Zehntausend Jahre.

Was einmal eine Lösung war, wird zum Problem

Zur Zeit des Sesshaftwerdens der Menschheit wurden aus frei umherziehenden Freibeutergesellschaften Ackerbaugesellschaften. Der damit verbundene evolutionäre Bewusstseinssprung — das Denken in Hierarchien — gestattete es den Menschen, auf kleinem Raum geordnet zusammenzuleben.

In einem Gefüge von Über- und Unterordnung erhielt jeder seinen Platz, wurden jedem seine Rechte und Pflichten zugewiesen. Als besonders vorteilhaft zeigte sich diese hierarchische Ordnung bei kriegerischen Auseinandersetzungen. So kam es dann auch im Laufe der Geschichte — durch die Konzentration von Macht in den Händen imperialer Herrscher — zu systematischer Kriegsführung und zur Unterwerfung und Versklavung fremder Völker (5).

Eine Vision von Freiheit, Gleichheit und Fairness

Der Missbrauch von Herrschaft und Macht ist die Schattenseite der hierarchischen Ordnung. Sie hinterließ im Laufe der Geschichte eine breite Spur von Blut und Gewalt. Zur Sicherung des inneren und äußeren Friedens wollte die Aufklärung im 18. Jahrhundert dagegen einen zivilisatorischen Schutzbalken einziehen.

Dieser Schutzbalken war die Demokratie. Sie fußt auf dem egalitären Grundprinzip der „Anerkennung aller als Freier und Gleicher, ungeachtet ihrer faktischen Differenzen“. Demokratie — so wie sie gemeint war − bedeutet Vergesellschaftung von Macht durch die Selbstgesetzgebung des Volkes. Jedem steht damit ein fairer Anteil an allen politischen Entscheidungen zu, die sein eigenes und sein soziales Leben betreffen (6).

Quo vadis, Menschheit?

Die egalitäre Vision einer friedlichen Gesellschaft von Freien und Gleichen scheint gerade heute in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Statt einer Einhegung und Vergesellschaftung von Macht erleben wir deren Zuspitzung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Für den Neurobiologen Gerald Hüther kann die Gesellschaft der Zukunft nur eine Gesellschaft ohne Hierarchien sein (7). Angesichts der bedrohlichen globalen Situation lässt sich zugespitzt vielleicht sogar sagen:

Die Gesellschaft der Zukunft wird eine Gesellschaft ohne Hierarchien sein, oder sie wird gar nicht mehr sein.

Aber jenseits repressiver staatlicher und ökonomischer Machtstrukturen breitet sich weltweit eine Praxis aus, die uralt ist. Ihre Ursprünge liegen in der gemeinsamen Nutzung, Pflege und Erhaltung von Gemeingütern wie Ackerland, Wäldern, Fischgründen oder Wildbeständen. Was bei uns Allmendewirtschaft heißt, erfährt heute unter der englischen Bezeichnung „commons“ (Gemeingüter) und „commoning“ (Gemeinschaffen) seine kreative Weiterentwicklung und eine neue Blüte. Commoning als sorgendes und selbstbestimmtes Wirtschaften findet inzwischen auf allen Kontinenten und in fast allen Lebensbereichen (8).

Fair, frei und selbstbestimmt

Commons entwickeln sich aus den Bedürfnissen der Menschen und den jeweiligen lokalen Gegebenheiten heraus, und sind deshalb sehr variantenreich. Sie sind in den Dörfern des globalen Südens zu finden, wo Menschen gemeinsam ihren Lebensunterhalt sichern, indem sie ihr Saatgut teilen und zusammen ihre Felder nach traditionellen Anbaumethoden bewirtschaften. Man findet sie aber genauso in Europa als Solidarische Landwirtschaft. Deren Mitglieder tragen die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs gemeinschaftlich und teilen sich im Gegenzug die Ernte. Der Mitgliedsbeitrag wird gemeinsam ausgehandelt und garantiert dem Bauern ein Einkommen, das ihm erlaubt, unabhängig vom kapitalistischen Markt zu wirtschaften.

Ein völlig anderes Commonsprojekt hat der niederländischer Pflegedienst Buurzorg entwickelt. Er richtet seine Pflege nicht am Fließbandmodell des Marktes aus, sondern setzt auf kleine, selbstverwaltete Teams, die sich bei ihrer Arbeit an den Bedürfnissen der Patienten orientieren. Weitere Beispiele für Commons sind Open-Source-Software und Regionalwährungen. Der Chiemgauer beispielsweise sorgt für eine Stärkung der lokalen Wirtschaft und ermöglicht ein Mehr an Wertschöpfung, weil er— anders als der Euro — mit einer Umlaufsicherung versehen ist. Diese sorgt dafür, dass das Geld nicht gehortet, sondern immer wieder ausgegeben wird.

Die Muster, die verbinden

Trotz ihrer großen Unterschiedlichkeit sind Commons durch bestimmte Muster miteinander verbunden. Muster sind keine starren, moralisch aufgeladenen Prinzipien. Es sind Werkzeuge für ein gelingendes Miteinander. Ihr Zweck es ist, Partizipation, Freiheit und Fairness zu ermöglichen, um auf diese Weise „Lebendigkeit“ zu generieren (9):

  • Commons streben eine „Praxis der behutsam ausgeübten Gegenseitigkeit“ an. Jeder soll seinen Teil zum Ganzen „ohne Zwänge“ beitragen. Weder Geld noch andere Beitragsleistungen dürfen dominieren. Sichergestellt werden soll allerdings, dass Geben und Nehmen im Laufe der Zeit in einem grob ausgewogenen Verhältnis stehen. Ein „Trittbrettfahren“ wird nicht geduldet.
  • Commons „richten sich in Vielfalt gemeinsam aus“. Denn ohne eine gemeinsame Absicht, eine geteilte Vision und gemeinsame Werte schwinden Zusammenhalt und Lebendigkeit.
  • Commons regeln — im Sinne der Selbstorganisation — ihre Angelegenheiten gemeinsam. Bei der Lösung von Konflikten oder der Sanktionierung von Regelverstößen wird „beziehungswahrend“ vorgegangen. Bei der Entscheidungsfindung wird auf das Sieger-Verlierer-Prinzip verzichtet. Deshalb werden Methoden wie das Systemische Konsensieren gewählt. Sie stellen Lösungen bereit, die zur größtmöglichen Annäherung an den Konsens führen (10).

Rechtes Handeln ist Freisein von Vergangenheit und Zukunft (Thomas Stearns Eliot)

Die Wirksamkeit und Kreativität der Commons basiert auf einem Umstand, die unabdingbar mit unserem Menschensein verbunden ist: Wir können nur in Beziehung wir selbst sein. Auch wenn wir uns noch so aus der „Masse“ herausgehoben und dem „Pöbel“ überlegen fühlen, wir sind immer ein Ich-in-Verbundenheit.

Wir sind immer ein Teil von etwas und gleichzeitig auch ein Ganzes. Als Ganzes sind wir Freiheitswesen, die nach Autonomie und einer möglichst vollen Entfaltung ihres Potenzials streben. Als Teil sind wir soziale Wesen, die sich — auf Gegenseitigkeit angelegt — nach Verbunden und Austausch sehnen.

Wer sich nur als Ganzes sieht, maßt sich zum Schaden aller eine Herrschaftsrolle an. Wer sich nur als Teil sieht, verzichtet auf seine Identität als eigenständiges Selbst und damit auch auf den Beitrag zur Gemeinschaft, den nur er geben kann.

Wie ein Seiltänzer müssen wir Augenblick für Augenblick unsere persönliche Existenz in der Schwebe — in der dynamischen Balance zwischen Autonomie und Zugehörigkeit — halten. Denn Systeme, die in einem dynamischen Gleichgewicht schwingen, sind „gesund“, also zugleich kreativ und selbststabilisierend (11). Auf dem schwankenden Boden der Geistesgegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft geraten wir in Kontakt mit dem schöpferischen Universum. Nehmen wir teil an seinem evolutionären Spiel, dann können wir — gemeinsam und frei — die menschliche Geschichte neu schreiben.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://kontrast.at/thomas-schmid-poebel-chats/
(2) Mausfeld, Rainer: Warum schweigen die Lämmer? Westend Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018, Seite 27 bis 31.
(3) Ebenda, Seite 69.
(4) Ebenda, Seite 68.
(5) Wilber, Ken: Halbzeit der Evolution. Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Wesen. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2001, Seite 109 bis 189.
(6) Mausfeld, Rainer: Warum schweigen die Lämmer? Westend Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018, Seite 177 bis 179.
(7) https://www.youtube.com/watch?v=eK-vyvrEwqo
(8) Helfrich, Silke; Bollier, David; Heinrich-Böll-Stiftung (Herausgeber): Die Welt der Commons: Muster gemeinsamen Handelns. Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
(9) Helferich, Silke; Bollier, David: Fair, frei und lebendig. Die Macht der Commons. Transcript Verlag, Bielefeld 2019, Seite 89 bis 155.
(10) Ebenda, Seite 134.
(11) Weber, Andreas: Enlivement. Eine Kultur des Lebens. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2018, Seite 76 bis 78.