Frieden als Naturzustand
Archäologische Ausgrabungen und Betrachtungen der Wirklichkeit legen nahe, dass Krieg nur durch Staaten und Herrscher entsteht.
Der Krieg ist zurück in Europa und die Herrschenden wollen ihn sogar noch ausweiten. Bis 2029 müssten wir kriegstüchtig sein, so lässt man es immer wieder verlautbaren, und so werden schon einmal die finanziellen und industriellen Grundlagen für einen großen Krieg gegen Russland gelegt. Größtes Hindernis ist dabei die Neigung zum Frieden der meisten EU-Bürger. Diese sei, so wird uns wiederholt erklärt, nicht natürlich, da der Frieden eine historische Anomalie sei, an die wir uns nur zu sehr gewöhnt hätten. Krieg sei das bestimmende Merkmal der Geschichte, und wir als EU-Bürger müssten uns von unserer Illusion des Friedens verabschieden. Doch die Forschung legt nahe, dass nicht der Krieg, sondern der Frieden der Naturzustand des Menschen ist, von dem wir uns nur allzu sehr entfernt haben — aufgrund von Hierarchien und Angst.
In Deutschland wird seit Jahren unverhohlen für den Krieg getrommelt. Es wird die Bedrohung durch ein militaristisches Russland, geführt von einem eroberungswahnsinnigen Putin, an die Wand gemalt, derer man sich erwehren müsse. Zu diesem Zweck wird kräftig in Rüstung investiert — mehr als eine Billion Euro an Schulden wurden von einem abgewählten Bundestag beschlossen. Doch was nützen all die Waffen, wenn sie auf eine Bevölkerung treffen, die an Krieg kein Interesse hat? Aus diesem Grund wird immer wieder über eine erneute Wehrpflicht debattiert, den Zwang zur Waffe und zum Krieg, dem die Bürger unterworfen werden sollen. Dabei wollen die Herrschenden noch grundlegender werden. So fragte Caren Miosga schon vor Monaten in ihrer Talkshow Joschka Fischer ganz unverhohlen, wie man denn „diesen Pazifismus aus der DNA der Menschen“ bekäme.
An den Frieden, so die oftmals vorgebrachte Botschaft, hätten wir uns zu sehr gewöhnt. Dabei seien Krieg und Chaos nun die Neue Normalität, an die wir uns gewöhnen müssten. Ohnehin hätten wir zu lange in einer Illusion des Friedens gelebt, zumindest hier in Europa. Denn Krieg, das sei der Normalzustand, erklärte Kardinal Heiner Wilmer, und das ist auch oftmals die unterschwellige Botschaft in Medienberichten. Die Europäer und Deutschen jedoch hätten sich in die Illusion eines Ideals geflüchtet, das nie verwirklicht werden kann.
Die Propaganda knüpft dabei an eine Vorstellung an, die bereits sehr alt ist. So sei laut Heraklit der Krieg „der Vater aller Dinge“. Ihm zufolge bestimmt der Krieg die Stellung des Menschen in der Welt. Und seine Betrachtung mag auch schlüssig sein, denn immerhin sind die großen griechischen Zivilisationen, das Römische Reich und andere Reiche im Mittelmeerraum aus Kriegen hervorgegangen. Kriege haben diese Zivilisationen gebildet und geformt, sie erweitert und letztlich auch zu ihrem Untergang beigetragen. Unzählige Mythen und Legenden berichten vom Krieg; etwa die Sage um die schöne Helena, deretwegen der Trojanische Krieg begonnen wurde. Der Krieg musste Heraklit also tatsächlich als „Vater aller Dinge“ — nämlich aller Städte, Armeen und Königshäuser — und als strenger Regent der Menschen erscheinen, die ihm und seiner Gewalt unterworfen sind.
Der Krieg scheint eine Art Urzustand des Menschen zu sein. Diese Vorstellung wurde vor allem vom Staatstheoretiker Thomas Hobbes in seinem Werk „Leviathan“ popularisiert. Ihm zufolge habe der Mensch in den Zeiten vor dem Staat in einem Zustand der Gesetzlosigkeit gelebt, der bestimmt war vom Krieg aller gegen alle. Erst die harte Hand eines Regenten beendete diesen Krieg und überführte die Menschen in ein friedliches Staatssystem.
Die Menschen, so der Tenor, müssen von einem Anführer, einem König, geführt und zum Frieden gezwungen werden. Diese Überzeugung hat sich seit Hobbes in weiten Teilen der akademischen Schichten und der politischen Eliten verbreitet. Sie ist ja auch sehr bequem, da sie eine Legitimation für Machtausübung und Herrschaft schafft.
Und genau das war auch das Anliegen von Hobbes, der sich mit diesem Werk seinem König und der Kirche angedient hat, die nach seiner Ansicht diejenigen waren, die eine Gesellschaft zusammenhielten.
Doch bei genauerer Betrachtung geht sein Werk an der Realität vollkommen vorbei. Denn niemand hat in der Geschichte so viele und zerstörerische Kriege angerichtet wie Staatenlenker, Fürsten und Kaiser. Die größten Kriege der Menschheit — über die Eroberungsfeldzuge Roms, Alexanders des Großen, Kreuzzüge, bis hin zu den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts, den Irakkriegen und dem Krieg in der Ukraine — wurden von Staatsgebilden und ihren Anführern vom Zaun gebrochen und konnten nur durch die Organisation in Staatsapparaten ein solches Ausmaß erreichen. Kein einzelner Mensch hätte ohne den staatlichen Unterbau ein solches Maß an Zerstörung anrichten können. Dass Fürsten und Staaten also Frieden garantieren, ist eine aberwitzige Behauptung.
Das Werk beinhaltet aber auch eine zweite, sehr irrige Annahme, nämlich die eines kriegerischen Naturzustandes. Diese Vorstellung ist heute so weit verbreitet, dass die meisten die Notwendigkeit von staatlicher Gewalt mit ihr rechtfertigen. Gäbe es keinen Staat, so die Begründung, würden die Menschen aufeinander losgehen, sich gegenseitig umbringen, rauben, stehlen, plündern und brandschatzen. Und auch wenn beinahe ein jeder dieses Verhalten von sich selbst nicht erwarten würde, so wird stets der „andere“ als potenzieller Quell dieses Verhaltens betrachtet. Doch dieser Naturzustand, dieser Krieg aller gegen alle, er hat nie existiert.
Tatsächlich deutet die Archäologie in eine ganz andere Richtung. Wie Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik in ihrem Buch „Die Evolution der Gewalt“ schreiben, war der Mensch während 99 Prozent seiner Existenz in der Geschichte ein eher friedliches Wesen, der „friedlichste Affe“ überhaupt. Jäger und Sammler wichen bei Konflikten eher einander aus, begegneten sich aber grundsätzlich mit Neugier. Sie tauschten und handelten, auch Mitglieder in der Gemeinschaft, und gingen zusammen zur Jagd. Natürlich gab es einzelne Konflikte unter ihnen, auch Morde kamen vor; doch der organisierte Krieg, so halten die Autoren fest, ist eine Erscheinung, die erst mit der Sesshaftwerdung vor etwa 12.000 Jahren begann — erst im letzten einen Prozent der Geschichte der Menschheit.
Zentral bei der Entwicklung von Kriegen war allerdings nicht die Sesshaftwerdung an sich. Denn es gibt archäologische Nachweise über Zivilisationen, die trotz ihrer Sesshaftigkeit nicht nur keine Kriege führten, sondern auch große Städte errichteten, in denen die Menschen friedlich zusammenlebten, sich organisierten und ihr Leben miteinander auf eine Art bewerkstelligten, die selbst sozialen Wohnungsbau von für damalige Verhältnisse hoher Qualität ermöglichte.
So beschreiben es auch David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“. Beispiele dafür gibt es in Südamerika ebenso wie in der heutigen Türkei. Die vorgenommenen Ausgrabungen zeigen, dass diese Kulturen keine Darstellungen von Gewalt kannten. Es gab keine Skelettfunde, die auf Gewalteinwirkung hinwiesen, und auch Waffen wurden nicht entdeckt.
Nicht allein die Bildung von Zivilisationen brachte also den Krieg. Entscheidend war ein anderer Faktor, nämlich die Herausbildung von Hierarchien. Denn Anzeichen für solche hatte man an den Ausgrabungsstätten nicht gefunden: keine Königshäuser, keine Tempel oder sonstige Hinweise auf hierarchische Verhältnisse. Auch in „Die Evolution der Gewalt“ werden Hierarchien als zentraler Faktor angegeben, der Kriege hervorbringt.
Erst seit der Mensch Herrschaft und Macht, Besitz — insbesondere in ungleicher Verteilung — und elitäre Kasten hervorgebracht hat, gibt es überhaupt Kriege. Diese bestimmen die Geschichtsbücher allein deswegen, weil die geschriebene Geschichte jünger ist als der Beginn der Kriege, und weil die Herrscher einer jeden Zivilisation die Geschichte schreiben — und hier wiederum natürlich die Sieger dieser Kriege.
Es ist kein Wunder, dass die Geschichtsbücher von den heldenhaften Erzählungen der siegreichen Herrscher dominiert sind. Denn diese haben auf diese Weise ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen versucht.
Krieg ist kein Normalzustand, wie auch der Psychologe und Hypnotherapeut Oliver Ruppel ausführt. Denn der Mensch ist in seinem Urzustand ein friedliches Wesen. Der Frieden steckt uns in der DNA — das hat auch Caren Miosga erkannt. Und das zu überschreiben, genügt keine Propaganda, genügen nicht einmal tausende Jahre des Krieges. So wurde der Krieg immer als Geißel der Menschheit empfunden. Lange Zeit war er zwar alltäglich, wurde aber nie als normal oder wünschenswert erlebt. Doch warum führen die Menschen dann ständig Krieg? Oliver Ruppel beschreibt, dass der Krieg im Wesentlichen ein Produkt der Angst der Menschen ist. Nur wer permanent in Angst lebt, kann dazu gebracht werden, in den Krieg zu ziehen, andere Menschen zu bekämpfen und zu töten. Die Menschheit lebt heute in einer kollektiven Angst, die längst chronisch geworden ist. Das ist der Grund dafür, dass wir sie überhaupt nicht mehr wahrnehmen: Sie ist längst zur Normalität geworden, und mit ihr der Krieg und die Gewalt, die daraus resultieren.
Irgendwo in der Geschichte muss dem Menschen ein Ur-Trauma zugefügt worden sein, das Gewalt und Krieg als Überlebensstrategie legitimiert und im Laufe der Generationen normalisiert hat. Es ist naheliegend, dass dieses Trauma etwas mit der Herrschaft Einzelner über andere zu tun hat.
Diese Herrschaft mag ihrerseits eine Trauma-Überlebensstrategie gewesen sein, die sich längst verselbstständigt hat. Dabei ist Herrschaft für die ihr Unterworfenen ihrerseits traumatisierend. Denn sie zwingt sie zur Verleugnung des eigenen Selbst, um das eigene Verhalten in Einklang mit den Interessen des fremden Herrschers zu bringen. Unterordnung und Anpassung werden auf diese Weise erzwungen — oder aber Ungehorsam und Revolution, die jedoch von den Herrschern bekämpft, unterdrückt und auf diese Weise ausgelöscht wird, was wiederum zu neuen Traumatisierungen führt, die zumindest teilweise im Außerhalb der Herrschaftssphäre — etwa in Form von Kriegen gegen andere Herrscher — sublimiert werden kann.
Eine wichtige Rolle für die Möglichkeit Krieg zu führen spielt dabei, dem chinesischen Lehrer Prof. Jiang zufolge, die Erfindung der Schule. Dieses von den antiken Griechen erfundene Konzept erzwingt die Trennung junger Kinder in ihrer prägenden Phase von ihren Eltern — was zu Isolation, Verlassenheit und Bindungslosigkeit führt. Es entsteht ein Trauma, das durch zusätzliche Traumata — die Unterwerfung, den Missbrauch und die Gewalt — ergänzt wird um die Kinder auf diese Weise steuerbar und gewaltbereit zu machen. Das ist die zwingende Voraussetzung um Soldaten zu erschaffen, die bereitwillig in den Krieg ziehen. Heutzutage haben sich zwar die Methoden verfeinert, die grundsätzliche Funktion der Traumatisierung von Kindern durch staatliche Gewalt in Schulen besteht aber fort.
Unsere gesamte heutige Gesellschaft basiert also auf einer seit Jahrtausenden fortgesetzten Traumatisierung, die sich über die Generationen vererbt und durch die fortgesetzte Unterdrückung durch Staaten und Regierungen mit jeder Generation zunimmt.
Diese Traumatisierung erzeugt Angst; und Angst ist es auch, die das Herrschaftssystem aufrechterhält. Diese Angst wiederum kann von den Herrschenden in ihrem Interesse kanalisiert werden — etwa zu Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und damit auch zum Krieg gegen andere Herrscher oder Staaten.
Auch im Industriekapitalismus lässt sich diese Angst gut für das System nutzen. Denn sie treibt die Menschen nicht nur in ein egoistisches Konkurrenzdenken, welches das eigene Vorankommen und den eigenen materiellen Hedonismus über das Wohl anderer und über die Kooperation mit anderen stellt, sondern führt auch zu vermehrtem Konsum. Der Kapitalismus bringt auf diese Weise seine eigenen Traumata hervor. Die Angst vor dem materiellen Untergang zwingt die Menschen zu Verhaltensweisen, die ihnen eigentlich widerstreben: Sie müssen sich selbst abspalten und unterdrücken, um einem größeren, abstrakten System zu dienen und in diesem nicht unterzugehen. Diese Traumata wiederum führen zu seelischem Schmerz, der durch Konsum zu überdecken versucht wird. Da das nicht dauerhaft funktioniert, muss dieser Konsum immer wieder erneuert werden — und so dreht sich die ewige Maschine von Produktion und Konsum.
Diese Angst ist es, die sich in der Furcht vor dem Verlust der Staatsgewalt ausdrückt. Weil Egoismus und Konkurrenz uns heute normal erscheinen, glauben viele, dass die Menschheit diese Verhaltensweisen auch auf extremere, rücksichtslose Weise fortsetzen würde, fiele der Staat als ordnende Kraft weg. Doch dem widersprach schon der niederländische Philosoph Rudger Bregman: In seinem Buch „Im Grunde gut“ beschreibt er, dass Menschen, die in eine Situation geraten, in denen die staatliche Macht wegfällt – etwa bei der Katastrophe des Hurrikans Katrina in den USA im Jahr 2005 — ganz und gar nicht übereinander herfallen und in einen Urzustand des Krieges aller gegen alle verfallen.
Im Gegenteil:
In echten Krisen helfen die Menschen einander, unterstützen sich und zeigen — trotz ihrer Prägung durch Herrschaft, Krieg und Kapitalismus — kooperative Verhaltensweisen. Nur bei scheinbaren Krisen und unechten Katastrophen — etwa der gefälschten Pandemie — wenden sich die Menschen gegeneinander.
Hier wurde zudem mit großem staatlichem Aufwand starke Angst in den Menschen geschürt, um sie gegeneinander zu wenden. Dieser immense propagandistische Aufwand, verbunden mit staatlicher Gewalt, ist notwendig, um Menschen in den Kampf aller gegen alle und in den Krieg zu treiben. Von sich aus würden nur die wenigsten solche Verhaltensweisen an den Tag legen. Umso tragischer, dass es gerade diese sind —Psychopathen und Soziopathen —, die sich vornehmlich in Führungspositionen befinden. Denn die Strukturen sind so gestaltet, dass solche Menschen an die Spitze gelangen — was einiges über die Entstehungs- und Funktionsweise von Staat, Konzernen, und Institutionen aussagt.
Doch der Mensch an sich ist ein friedliches Wesen. Der Naturzustand des Menschen ist der Frieden. Bedauernswert, wie weit wir uns von unserer menschlichen Natur entfernt haben. Zeit, dorthin zurückzukehren.