Früher war alles besser
Aus heutiger Perspektive scheinen uns die Probleme von gestern geringfügig — wir sollten aufpassen, dass das „Morgen“ nicht so schlimm wird, dass wir uns nach dem „Heute“ zurücksehnen werden.
Zugegeben: Die Überschrift lässt den Verdacht aufkeimen, dass es sich beim Autor um ein älteres Semester handelt. Aber es ist nun mal von Vorteil, verschiedene Jahrzehnte miteinander vergleichen zu können. Wie soll jemand den haarsträubenden Irrsinn dieser Zeit begreifen, wenn er in seinen wenigen bisherigen Lebensjahren nichts anderes kennengelernt hat als die alltägliche Präsenz von Handys, Putin-Hass auf allen Kanälen und grottenschlechte Bundeskanzler? Eine Zeit, in der Deutschland in keinen Krieg verwickelt war, in der „Pandemien“ nur im Horrorfilmen vorkamen, in der freie Meinungsäußerung keine „sozialen Kosten“ verursachten und Zukunft — auch wenn das heute schwer vorstellbar erscheint — mit eher hoffnungsvollen Vorstellungen verbunden war ... Die Älteren von uns erinnern sich noch an solche Zustände. Ihr Erinnerungsdepot hilft, der aufgezwungenen Gegenwart den Nimbus des Selbstverständlichen zu nehmen. Aus ihren nostalgischen Erinnerungen lassen sich zumindest Anregungen entnehmen, wie eine bessere Zukunft zu gestalten wäre
Vor neunundzwanzig Jahren schrieb ich die erste Folge dieser Kolumne: „Belästigungen“, die Anfang Dezember 1996 in einem längst vergessenen Heftchen die letzte Seite füllte. Das ist zum Glück kein Jubiläum, sondern nur ein zufälliger Anlass, sich zu besinnen und zu erinnern, wie man das so ungern und gerne zugleich tut in dieser Jahreszeit, wenn der Herbst — wie immer völlig unerwartet — von einem Tag auf den anderen einbricht und den fassungslosen Menschen vom schimmernden Isarstrand vor den knisternden Kaminofen vertreibt.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich auf den Titel kam: Zwar war München damals bei weitem noch nicht der bankrotte Schrotthaufen, als der es heute im Land herumliegt, sondern noch irgendwie eine Stadt, in der manch einer größenwahnsinnige Ideen hegte, an deren Verwirklichung in einer fernen Zukunft aber niemand so recht glaubte, in der es ansonsten aber nur hier und da zwickte und zwackte, weshalb Kräne herumstanden und Bagger rollten, Presslufthammer den damals modernen Techno-Sound aus den Discos auf die Straßen brachten und der Stadtbürger — der ein solcher zum großen Teil tatsächlich noch war — vor den Baustellen floh, was man immerhin noch konnte. Manchmal musste man ausweichen, die Straßenseite wechseln, und wo das nötig war, standen große gelbe Dinger herum, für die es bis heute keine Bezeichnung gibt, die mir spontan einfiele. Darauf wiederum stand zu lesen, die Stadt München bitte um „Verständnis“, und zwar „für auftretende Belästigungen“.
Diese Botschaft war in und an sich so bescheuert — von der Frage, ob es nicht auftretende Belästigungen überhaupt geben kann, bis hin zu dem Gedanken, dass eine solche Bitte automatisch zum Blitzableiter für zuvor vielleicht noch gar nicht spürbares Unverständnis und dadurch erst entstehenden Ärger werden muss —, so bescheuert war die Botschaft, dass sie mein Hirn einen ganzen Vormittag lang am Rattern hielt, bis ich den Entschluss gefasst hatte, regelmäßig darüber zu berichten, wer und was mich und uns belästigt.
Und da wird das Erinnern doch interessant, weil man so feststellt, wie sehr sich die Welt — die wir unbewusst immer noch für die gleiche oder gar dieselbe halten — verändert hat und weiterhin verändert, ohne dass man das wirklich bemerkt.
1996 zum Beispiel gab es, wenn ich mich nicht irre, noch keinen Krieg, an dem Deutschland — das es schon wieder gab, aber wohl noch nicht lange genug für solche Unternehmungen — beteiligt gewesen wäre.
Schon gar nicht gegen Russland; da war der letzte ja erst einundfünfzig Jahre her und so brutal in die Hose gegangen, dass man mit der Forderung, man müsse Russland schon wieder ruinieren und zerschlagen, höchstens am extrem rechten Rand der CSU ein vereinzeltes stummes Nicken am Biertisch geerntet hätte. Die Bundeswehr bereitete sich ja gerade erst darauf vor, zur weltweit tätigen kolonialistischen Vasallenarmee zu werden, und die deutsche Waffenindustrie hatte alles andere als einen guten Ruf.
Russland indes gab es, aber davon bekam man nicht viel mit. Hin und wieder sah man im Fernsehen den betrunkenen Präsidenten herumstaksen und diensteifrig irgendwelche vom „Westen“ diktierten Verträge unterschreiben, aber dass derweil das gesamte Land unter der informellen Leitung einer obskuren kriminellen Organisation namens „World Economic Forum“ dermaßen ausgepresst, beraubt, verarmt, ruiniert und zu einem Trümmerhaufen zerschlagen wurde, dass Hungersnöte so gängig waren wie tägliche Mafiaschießereien und irre Möchtegern-Weltführer heute noch von dem Wahn besessen sind, solch „goldene Zeiten“ des entfesselten Wirtschaftsfaschismus ein zweites Mal herbeiführen zu müssen — solche unschönen Wirklichkeiten verschwieg die „Tagesschau“ schon damals; höchstens fand man im Nachtprogramm von Arte und 3sat ein paar finstere Andeutungen, die naturgemäß völlig übertrieben schienen.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen übrigens schauten damals auch vernünftige Leute noch regelmäßig.
Man musste sich erst ein gutes Jahr später über den Aufmarsch an neoliberalen Einpeitschern in der Propaganda-Talkshow von Sabine Christiansen ärgern, und ich ließ den Zorn über diese üble Veranstaltung und ihre dreisten Protagonisten von Henkel bis Möllemann, von Miegel bis Sinn, von Gabriel bis Merz, in dutzende von Kolumnen fließen und erblühen, aber selbst das nahm man nicht allzu ernst, weil es gar so übertrieben, überdreht und überkandidelt schien und man sich nicht vorstellen konnte oder mochte, dass das nur der harmlose Anfang einer alles durchdringenden, wahrhaft totalitären Weltanschauung sein könnte.
Apropos Weltanschauung: Die „Grünen“, die ich — ich muss es zu meiner Schande gestehen — damals noch wählte, wenn auch mit Bauchgrimmen, waren zwar bereits eine weltanschauliche Kampfpartei, der die Ideologie weit über den Menschen ging, aber immerhin standen im Zentrum dieser Ideologie so schöne Sachen wie Frieden, Natur- und Umweltschutz sowie soziale Gerechtigkeit. Das „Klima“ als Rammbock gegen all diese Ziele war zwar bereits erfunden, interessierte aber nur ein paar Esoteriker, die von der Welt als Maschine und der Menschheit als steuerbarem Gesamtroboter schwärmten; das tat man als dystopische Science-Fiction ab.
„Pandemien“ gab es nur im Kino, wo man sich von Katastrophenknallern wie „Outbreak“ eine Gänsehaut überziehen ließ, aber zum Glück noch aus dem Biologieunterricht wusste, dass es so etwas in echt gar nicht geben konnte.
Christian Drosten werkelte in Frankfurt als Student herum, den niemand kannte und von dem kein Mensch geahnt hätte, dass er, bereits damals von interessierten Kreisen gepäppelt, einst zu einer Art Papst einer völlig absurden neuen Welt- oder wenigstens Landesreligion namens „Virologie“ aufsteigen könnte, dem zig Millionen Menschen zu Füßen liegen, an den Lippen kleben und ein paar Jahre lang seine bizarren, von keinerlei Logik angehauchten, dafür aber in Widersprüchen regelrecht ertränkten Bullshit-Verkündungen nachplappern, ohne ein Wort davon zu verstehen. Was ja genau genommen sowieso nicht geht. Selbst die Karriere von Karl Lauterbach als gemeingefährlicher Scharlatan und Schwindeldoktor steckte damals mit der Gründung eines ersten obskuren „Instituts“ noch in den Babysandalen.
Gewusst hat von denen und davon aber wie gesagt sowieso niemand was. Es gab ja nur das, was man erfuhr, und etwas erfahren konnte man nur aus den „offiziellen“ Nachrichten und höchstens mal einer photokopierten Anarchistenzeitung, die jemand in einer Kneipe liegengelassen hatte. Freilich gab es auch ein Internet, das man mit quietschenden und pfeifenden Modems anschalten konnte, aber da drin fand man dann nur ein paar rudimentäre Mails, stundenlang ladende sogenannte „Seiten“ mit unleserlicher Steinzeitgraphik und zerpixelte Pornobildchen. Das Wort „Social Media“ war unbekannt; Dinge wie „MySpace“, „Facebook“ und „Twitter“ schlummerten noch als vage Projekte in den Schubladen von visionären Militärstrategen. Ach so, und „Drohnen“ waren übrigens Bienen.
Angesichts dieser Aufzählung und der Einsicht, dass es offensichtlich nichts von dem, was uns heute den Schlaf raubt, womit wir minütlich bombardiert werden — vorläufig zum Glück nur metaphorisch —, was uns in die kollektive Raserei treiben soll und dazu hinreißt, jeden als „Nazi“ zu beschimpfen, der ein blödsinniges Theaterstück „leugnet“, sich nicht genetisch manipulieren lassen möchte, „Putin“ nicht öffentlich hasst, die falsche Partei wählt oder das abgeschaffte Grundgesetz im Grunde recht schön findet … — angesichts dieser Feststellung fragt man sich verwundert, was das denn eigentlich gewesen sein könnte (außer Baustellen), was mich damals derart „belästigte“, dass ich daraus eine Kolumne machen zu müssen glaubte, die neunundzwanzig Jahre später immer noch läuft.
Zum Glück kann ich nachschauen und belegen, dass das wirklich schlimme Sachen waren: lästige Nachbarn, kaputte Aufzüge und Zigarettenautomaten, abstürzende Computerkisten, schlechte Fernsehfilme, dumme Nachrichten und Politiker, Druck- und Grammatikfehler, eine blödsinnige neue Rechtschreibung, brabbelnde Fußballreporter, aufdringliche Reklame, denaturierte Lebensmittel, dreiste Börsenmillionäre, „Trends“ und „Think Tanks“, madige Mode und Manager mit Mobiltelephonen (kiloschweren Kisten mit Hörer am Spiralkabel), Talkshows mit Campino und Platten von Phil Collins und Heinz Rudolf Kunze. Selbst an einem Peter Gauweiler konnte man sich noch so richtig „abarbeiten“.
Das alles hört sich putzig an, und das ist es ja irgendwie auch. Andererseits lauert da aber auch der Gedanke, wie eine Zeit und eine Welt ausschauen mögen, in denen wir das, was uns heute „belästigt“, putzig finden werden. Und dieser Gedanke ist schon ganz schön gruselig.
Zumal wir ja aus Erfahrung wissen, dass noch nie irgendwas besser geworden ist, höchstens anders — und dann erkennt man es wieder und muss konstatieren, dass es doch wieder nur schlimmer ist.
Da fällt mir ein, dass ich damals — 1996 — einen Wecker am Bett stehen hatte. Der hieß „Trivox Silentic“; ich hatte ihn fünf Jahre zuvor aus einer Laune und dem Überdruss an elektrischem Gelumpe mit leeren Batterien heraus beim „Karstadt“ am Nordbad — der seit Jahren nur noch eine tiefe Grube ist — gekauft, für ungefähr vierzig Mark. Wenn ich den Wecker brav regelmäßig aufzog, tickte er diskret und zufrieden vor sich hin und weckte mich jeden Tag auf sehr charmante Weise: Erst ertönte ein paar Sekunden lang ein sanftes Klacken, dann folgten im Abstand einiger Sekunden zaghafte Klingeltöne, und wenn ich dann noch nicht eingriff, rasselte er los, streng, aber freundlich, weil analog und ohne elektronisches Folterbrimborium.
Vor ein paar Jahren habe ich den Wecker aus Versehen im Halbschlaf ein bisserl arg unsanft gerempelt, wodurch der Knopf am oberen Ende herausfiel und das Gehäuse etwas die Fasson verlor. Seitdem steht er auf dem Küchentisch und harrt einer Do-it-yourself-Reparatur, weil der letzte Uhrmacher in Schwabing längst einem Pizzaservice gewichen und im Ruhestand verschwunden ist.
Gestern geschah dann dies: Vom Dauerregen an selbigen Küchentisch gefesselt — an dem ich 1996 die erwähnte Kolumne schrieb und heute diese Zeilen schreibe —, daddelte ich ziellos im Internet herum und fand rein zufällig auf Ebay — das 1996 übrigens „AuctionWeb“ hieß und vollkommen unbekannt war — exakt meinen Wecker wieder, oder vielmehr seinen Zwillingsbruder, für umgerechnet ungefähr vierzig Mark plus Versand. Ja, die Post gibt es auch nicht mehr, aber das lassen wir jetzt. Ein paar Klicks später gehörte er mir und wird hoffentlich ab nächste Woche das tun, was sein Vorgänger so lange und zuverlässig getan hat. Und der ist als eventuelles Ersatzteillager ebenfalls weiterhin sehr wertvoll.
Ich weiß nicht, was diese Geschichte bedeutet oder was ich damit sagen möchte. Vielleicht nur dies: Die Welt ist manchmal etwas ganz anderes als das, was uns diverse armselige Theatertruppen und Horror-Schundschreiber einreden wollen. Und diese Welt ist heute so schön wie irgendwann, früher oder später mal.