Fünf Prozent für die Amerikanisierung
Wer künftig in Deutschland sozialpolitisch etwas bewegen will, wendet sich vorher am besten an Mark Rutte von der NATO – oder gleich an Donald Trump, denn der europäische Sozialstaat ist am Ende.
Die NATO tagte in Den Haag. Zwei Tage waren angesetzt, man kam aber schneller auf den Punkt: Verteidigungsfähigkeit muss jetzt richtig was kosten – bezeichnenderweise spricht man innerhalb des NATO-Komplexes auch gar nicht mehr von Verteidigungs- oder Wehrfähigkeit, sondern vom Abschreckungspotenzial. Drei Stunden sollen die Mitgliedsstaaten in der niederländischen Stadt nur benötigt haben, um einen schrittweisen Anstieg der Militärausgaben auf 5 Prozent des jeweiligen nationalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu heben. Die NATO-Mitglieder hatten sich in der Vergangenheit schon eine viel längere Zeit für weitaus Unwichtigeres zusammengesetzt – und keinen Kompromiss gefunden.
180 Minuten benötigte das Bündnis, um etwas zu verabschieden, was medial wie Peanuts verkauft wird: Sind ja nur mickrige 5 Prozent! Das werden wir uns doch leisten können, ja wollen – schließlich erlaubt uns das, weiterhin so leben zu können, wie wir es gewohnt sind. 5 Prozent für unsere Sorgenfreiheit also? Aber was wird da eigentlich verteidigt, wenn das Land bald nicht mehr zu erkennen ist, weil zur wirtschaftlichen Flaute auch noch die Zweckbindung von Steuereinnahmen für das Militärressort vorgesehen wird? Die NATO bringt ihre Mitgliedsstaaten an die Leitungsgrenzen – und transformiert diese zu Nationen, in denen gesellschaftliche und infrastrukturelle Verelendung die nahe Zukunft bestimmen wird. Zumindest in den meisten Branchen und Bereichen.
Danke, Putin, Retter der Bahn!
Im Jahr 2022 gab der Bund noch 50,4 Milliarden Euro für die grundgesetzlich vorgesehene Landesverteidigung aus. 2024 waren es schon um die 71,75 Milliarden Euro. Die Steigerung, die jetzt im Raum steht, sprengt jedoch jede Vorstellungskraft.
5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sind in etwa 225 Milliarden Euro – um es plastischer zu machen: Der geplante Staatshaushalt für 2025 liegt bei 488,6 Milliarden Euro. Die am BIP orientierte Steigerung der Verteidigungs- und Rüstungsaufgaben macht also in etwa die Hälfte des gesamten Bundesetats aus.
Anders gesagt: Die Bevölkerung arbeitet ab jetzt vor allem für die Aufrüstung. Jeder Euro, der an den Staat abgeführt wird, landet – vereinfacht ausgedrückt, wenn man mit Staat den Bund und nicht auch die Länder und Kommunen meint – im Wehretat. Wobei man die Instandsetzung von Straße und Schiene zum Budget für die Kriegstüchtigkeit hinzuzählt: Über Jahre, ja Jahrzehnte galt die Pflege von Infrastruktur als lästig; nörgelnde Pendler wurden kleingehalten, ihre Kritik kümmerte kaum jemanden – es brauchte also ein Szenario vom Format eines neuerlichen Weltkrieges, um die Verwitterung der Infrastruktur als Staatsauftrag zu begreifen. Es steht Pendlern, Autofahrern, Bahnkunden nun frei, schon mal einen Dankesbrief nach Moskau zu schreiben: Werter Herr Putin, was Merkel und Scholz nicht schafften, Sie haben es bewirkt – Danke, Putin!
Und wo prosperiert es sonst noch so? Natürlich in der Rüstungsindustrie, die man auch als Todesindustrie, als Verstümmelungsindustrie oder als Waisen- und Witwenindustrie bezeichnen könnte. Und da Sprache schließlich die Realität prägt, wie uns Linguisten immer dann erklären, wenn jemand nicht gendern will und damit alle anderen 71 Geschlechter ausblendet, so sollte jeder auch hier eine alles inkludierende Sprache anwenden und die Industrie der Waffenhersteller mit angemessenen Namen betiteln. Die Witwenmacher verdienen sich nun dumm und dämlich, die finanziellen Ressourcen für Staatsaufträge sind fast unermesslich. Milliarden und Milliarden stehen ab jetzt Jahr für Jahr zur Verfügung.
Der Topf füllt sich immer neu, wie jener Topf im Märchen, der nicht aufhören kann, Brei zu kochen. Rheinmetall darf sich ab jetzt fühlen wie ARD und ZDF: Wie jemand, der einen unerschöpflichen Brunnen zugewiesen bekommen hat.
Wenn Aktionäre schnell umschwenken und ihr Portfolio für solche Unternehmen zurechtmachen, dann werden auch sie im besten Deutschland aller Zeiten leben dürfen.
Den Haag bricht mit dem inneren Frieden
Was nicht nur so bleiben wird, wie es heute schon ist, sondern noch viel dramatischere Ausmaße annehmen wird, lässt sich in Kürze so zusammenfassen: Schulen werden noch mehr verfallen, Krankenhäuser verstärkt darben, Kindertagesstätten unterfinanziert bleiben und Infrastrukturprojekte ohne ernstfallrelevanten Hintergrund werden bis zum Sankt Nimmerleinstag verschoben – oder gleich komplett aufgegeben. Der Spielraum für den sozialstaatlichen Auftrag, der sich aus dem Grundgesetz ergibt, für Bildungsoffensiven oder auch nur für umweltpolitische Maßnahmen, wird in eine aussichtlose Enge manövriert.
Noch spricht das niemand so deutlich aus, wenn man auch hier und da aus der Politik schon vernimmt, dass die Bürger nun Verständnis dafür haben müssten, dass es bei gewissen Ausgaben in den kommenden Jahren enger werde. Nun hieße es, den Gürtel wieder enger zu schnallen. Wurde der auf sozial- und arbeitsmarktpolitischer Ebene je gelockert? Frage also nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst. Und diese Frage werden sich viele Menschen stellen, wenn auch gezwungenermaßen. Der neu beschlossene Staatsetat wird die Rüstungsindustrie prosperieren und wachsen lassen, Arbeitskräfte werden aus nicht mehr lukrativen und von Investitionen befreiten Sparten abwandern und sich dort verdingen, wo Arbeitskraft gebraucht und auch gut entlohnt werden wird. Frage also nicht, was dein Land für dich tun kann, wenn du geschwächt durch einen Herzinfarkt auf der Intensivstation liegst und die Pfleger nun zu großen Teilen bei Rheinmetall tätig sein wird. Frage lieber, was du für dein Land tun kannst – und ertrage den Infarkt wie ein ganzer Mann. Sei opferbereit, so wie es ganz der großen neuen Zeit entspricht.
Die Entscheidung der NATO-Vasallen von Den Haag markiert nicht nur eine Zäsur in der internationalen Sicherheitsarchitektur, sondern auch einen massiven Bruch mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis vieler europäischer Länder.
Was jahrzehntelang noch halbwegs als Konsens galt, – dass Sozialstaat, Infrastruktur und zivile Daseinsvorsorge Priorität haben sollten –, wird nun Schritt für Schritt zugunsten eines riesigen und noch wachsenden militärisch-industriellen Komplexes abgebaut.
Nach bisheriger europäischer Erfahrung muss der soziale Friede bewahrt werden, um prosperieren zu können, um Bürgerkriege zu vermeiden, extremistische Ideen zu erschweren. Die totale Verarmung großer Teile der Bevölkerung, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten zu beobachten, galt in Europa stets als Bedrohung von Innen.
Nun aber streift Europa dieses Erfahrungswissen ab und gefährdet sich von innen heraus selbst. Wann wird es die Wehrkräfte nach Innen richten und nicht mehr nach Osten?
Die endgültige Amerikanisierung Europas
Friedrich Merz war immer ein Verfechter des sogenannten schlanken Staates. Schon als Gerhard Schröder Anfang des 21. Jahrhunderts ansetzte, dem Land eine neue Agenda zu verpassen, die beinhaltete, den Sozialstaat und die Arbeitsmarktpolitik zu schleifen, saß jener heutige Bundeskanzler in Talkshows und forderte noch radikalere Rosskuren für das Land – Leistung müsse sich schließlich wieder lohnen. Seine Konzeption war nicht ausgereift, konnte sie auch nicht, denn Merz war stets Anhänger neoliberaler Ideen, die von Haus aus kein Konzept, aber viel libertäre Haltung aufweisen. Dabei verwies man gerne auf den großen Bruder, der auf der anderen Seite des Atlantiks eine Politik betreibe, von der man lernen könne: Dort ist jeder seines Glückes Schmied – und wer wolle, der schaffe es. Vielleicht sogar vom Tellerwäscher zum vermögenden Mann. Mit solchen unterkomplexen Bildern spielten die neoliberalen Reformer damals – und sie tun es auch heute noch gerne, lesen weiterhin ihre Ayn Rand und erzählen herum, dass diese Frau eine warmherzige Philosophin mit kühnem ökonomischem Weitblick war.
Als es dann zum großen Wurf radikal freier Märkte kommen sollte, Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) mit Namen, nannten einige europäische Befürworter dieses Freihandelsabkommens, die oft von amerikanischen Think Tanks bezahlt oder wenigstens von ihnen inspiriert waren, den europäischen Sozialstaatsgedanken als Hemmnis. Der würde es Europa in der TTIP-Wirklichkeit erschweren, mit amerikanischen Produkten Schritt halten zu können. Die Lohnstückkosten lägen durch die hohe Staatsquote höher als in den USA, daher würde TTIP auch den Sozialstaat beeinflussen müssen. Das rief wiederum die Kritiker des Abkommens auf den Plan – letztlich hat Donald Trump in seiner ersten Amtszeit die Verhandlungen dieses höchst undemokratischen, von jeder staatlichen Gerichtsbarkeit enthobenen Freihandelsabkommens ausgesetzt und für gescheitert erklärt. Er misstraute der Europäischen Union, setzte auf „America first“ und zog sich zurück. Danke, Donald!
Es war also an der Zeit, etwas Neues zu finden, was den Sozialstaat, diese europäische Errungenschaft, die sich aus einer langen und blutigen Historie ergab, einzuhegen – man fand etwas: Die Gefahr von außen. Der immerwährende Feind, der gigantische Rüstungsausgaben notwendig macht – schade, dass für euch weniger bleibt, liebe Rentner, Arbeitslose, Alleinerziehende, Geringverdiener und Kinder. Das ist die Realität, die nach Den Haag droht – aber was heißt da „droht“? Sie droht nur denen, die in die Röhre gucken werden. Die Verantwortlichen sprechen eher von Chancen oder neuen Möglichkeiten, von Sachzwängen und Gesundschrumpfung des Sozialetats – und davon, dass man wettbewerbsfähig bleiben müsse und daher eine geringere Staatsquote nur förderlich sein könne. Und leise sagen sie noch: Danke, Putin! Dir haben wir es zu verdanken. Und wenn dann das Hemmnis eines Sozialstaates aus der Welt geschafft wurde, könnte auch TTIP wieder Thema werden – und damit die endgültige Amerikanisierung Europas.