Für immer 1933
Wenn man besonders „wachsamen“ Zeitgenossen glauben will, gibt es in der unmittelbaren Gegenwart mehr Nazis als während der Hitler-Diktatur.
Nazis, Nazis, Nazis — scheinbar überall. Nein, nicht scheinbar, sondern tatsächlich. Für die wehrhaften Verteidiger der Demokratie und Facility-Manager der „Brandmauer“ gegen Faschismus und Rassismus jedenfalls lauern sie allerorts. Ein zweifelhafter X-Post, ein Foto mit einem „Rechten“, eine falsche Wortwahl — schon drohen Shitstorm, Kontaktschuld oder Forderung nach Distanzierung und Entschuldigung. So leicht war es in Deutschland seit den Dreißigerjahren nicht mehr, Nazi zu werden. Doch auch in der jüngeren Vergangenheit war man hierzulande oftmals zügig zur Hand mit dieser Einstufung, allerdings war die Demokratie damals noch nicht ganz so „wehrhaft“, und Brandmauern hießen eigentlich Brandwände und sollten durch ihre spezielle Beschaffenheit ein Übergreifen von Feuer auf andere Gebäude verhindern oder zumindest bis zum Eintreffen der Feuerwehr verzögern. Doch solch pragmatischer Zweck ist längst Geschichte.
Neu im Sortiment: das „Nazi-Auto“
Am 23. April 2025 via X nochmals verifiziert durch die Berliner Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD), die einen Beitrag von RBB24.de mit dem Titel „Hersteller von E-Autos erleben Absatzhoch — abgesehen von Tesla“ verlinkt und dazu kommentiert hatte: „Wer will auch ein Nazi-Auto fahren?“.
Quelle: Tagesspiegel
Dass Tesla-Fahrer plötzlich zum Hassobjekt mutierten, ist ja auf Elon Musks wirtschaftlicher und politischer Liaison mit Donald Trump zurückzuführen — wie es ein deutscher Tesla-Fahrer ausdrückte: „Ich bin jetzt innerhalb von Wochen vom Umwelt-Fan zum Nazi geworden, weil ich dieses Auto fahre.“ Wobei in den USA bei manchem Verkehrsteilnehmer wiederum gerade das Umweltbewusstsein zahlreicher Tesla-Fahrer zur aggressiven Aversion motivierte. Es handelt sich hierbei oftmals ostentativ maskuline, breitbeinige Pick-up-Fahrer — gerne im großkarierten Hemd, dazu ein Basecap mit Mesh an der Rückseite und vorne drauf der Slogan „Don’t mess with Texas“ —, für die Teslapiloten grün durchgeknallte, impotente Würstchen mit mickrigen Geschlechtsorganen sind, zu deren Erkennen man ein Mikroskop benötigt.
Aus Protest gegen Elon Musk und um sich gegen Vandalismus, Beschimpfungen, Drohungen und ausgestreckte Mittelfinger zu schützen, versehen einige Tesla-Fahrer ihren Wagen mit Stickern wie „Ich habe das gekauft, bevor Elon verrückt wurde!“ oder „Ich liebe das Auto, nicht den CEO!“ Andere überkleben das Tesla-Zeichen mit den Logos anderer Hersteller wie Audi, Mazda, Honda oder Toyota.
Quelle: gagadget.de
Tesla-Fahrer gelten demnach als Nazi oder halbe Portion. In Deutschland nur Nazi. Wobei sich natürlich hier die Frage aufdrängt: Was ist eigentlich mit Volkswagenfahrern, insbesondere denen, die noch mit einem VW-Käfer durch die Gegend rumpeln? Aber so genau braucht man es dann wohl doch nicht. Daniele Ganser stellte fest, dass es ungeheuer wichtig ist, stets diezeitgemäße, die „richtige“ Angst zu haben zu haben — genauso verhält es sich mit dem Hass.
Nachdem Abscheu und Feindseligkeit gegenüber „Ungeimpften“ stark nachgelassen haben, sind diese als Hassobjekt von Russen, „Putin-Verstehern“ und „Nazis“ abgelöst wurden, wobei bereits die „Ungeimpften“, gern auch „Covidioten“ genannt, ebenfalls als Nazis galten und „Putin-Versteher“ in der Regel gleichzeitig auch Nazis sind.
Ein ungeimpfter Putin-Versteher, der Tesla fährt wäre demnach ein Triple-Nazi. Es ist also zum Teil ein wenig unübersichtlich. Man denke nur an den Hallenser Metzger, der kürzlich ein Schnitzel mit Bratkartoffeln und Spiegelei für geschmeidige 8,88 Euro offerierte. Einige Zeitgenossen sahen darin die versteckte Botschaft „Heil Hitler“ — zweimal der achte Buchstabe des Alphabets, das H also —, und das am 9. Mai, an dem in Russland und zahlreichen weiteren Staaten wie Aserbaidschan, Georgien und Weißrussland der Sieg über Nazi-Deutschland feierlich begangen wird. Hier hält man es demnach wieder mit Russland. Und der Metzger hat zwischenzeitlich einen antifaschistischen Akt vollbracht: er hat den Preis auf 8,89 Euro erhöht.
Quelle: Facebook
Grundsätzlich gilt aber: Russen gehen gar nicht. Auch kleine Russen, die Jacken tragen, auf denen „Russland“ steht — wie jenes bekannte Video zeigt, in dem eine Lehrerin sich weigert, einen Jungen zu unterrichten beziehungsweise bei den Hausaufgaben zu betreuen, solange er seine Russland-Jacke trägt. Im Kommentarbereich schreibt einer:
„Die Jacke kann er zu Hause im dunklen Zimmer tragen. Wenn ich den damit sehen würde, wäre sie weg. Dann kann er von mir aus bei 5 Grad ohne rumlaufen.“
Kein Wunder, dass der Inspekteur der Luftwaffe, General Ingo Gerhartz, Richtung Kreml verlauten lässt: „Putin, leg dich nicht mit uns an!“ Korrekt, denn wir sind so hart drauf, wir nehmen sogar kleinen Jungs die Winterjacken weg, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Sonst noch Fragen, Wladimir?
Die Russen kommen!
Dass der russische Bär seine Tatzen gen Europa ausstreckt, war in den vergangenen Jahrzehnten ein stets und gern wiederkehrender Klassiker, gern unterlegt mit dem Satz „Die Russen kommen!“ oder auch „Der Russe steht vor der Tür!“ — wie vom Kabarettisten Volker Pispers so hervorragend persifliert: „Erzählen Sie mal einem 18jährigen von 1990. Sagen Sie mal einem 18jährigen: 1990, da gab es kein Internet, alle Telefone hatten Kabel — maximal drei Meter — und der Russe stand vor der Tür.“ Anders war es eigentlich nur zur Zeit von Glasnost und Perestroika, deren Urheber Michail Gorbatschow allerdings im Westen weitaus größere Beliebtheit erfuhr als in Russland. In Deutschland verpasste man ihm gar den Kosenamen „Gorbi“, als wäre er ein knuffiges Plüschtier aus der Sesamstraße. Eine russische Journalistin resümierte:
„In seiner Heimat war er bei Menschen mit gegensätzlichen politischen Ansichten praktisch gleichermaßen unbeliebt. Eine Mehrheit in Russland kann ihm den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vergeben. Dagegen werfen ihm die Liberalen vor, dass er dem Streben der Republiken nach Unabhängigkeit entgegentrat.“
Was allerdings beim gegenwärtigen Russland-Bashing auffällt, sind die Analogien zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus. Da wird Wladimir Putin zu „Wladolf Putler“ oder sein Konterfei ähnelt dem Adolf Hitlers, wie bei einem Graffito in Coburg im Herbst 2022.
Quelle: rnd.de
Als wäre man hierzulande froh, dass jetzt andere die Nazis sind und der neue Hitler nicht Deutscher ist. Der im oberösterreichischen Braunau geborene „Führer“ wurde am 26. Februar 1932 im damaligen Freistaat Braunschweig eingebürgert — alles braun, nomen est omen? Dies scheint generell eine ausgeprägte Motivation zu sein, andere als Nazis zu beschimpfen: Wenn der andere Nazi ist, ist man selbst keiner, sondern Antinazi, Antifaschist, Antirassist — mithin ein guter Mensch, während der Beschimpfte übelster charakterlicher und moralischer Auswurf ist, den es besser nicht gäbe.
Rasenmähende Garten-Nazis
Aber das „Nazi“-Werden leicht geht, ist ja nichts Neues. Erinnert sei beispielsweise an Reinhard Meys „Garten-Nazi“-Affäre im Jahr 2002: Der Liedermacher zog sich gern zum Komponieren und Texten auf sein Anwesen im noblen Kampen auf der Insel Sylt zurück. Doch just, wenn der Barde, von der Muse innig geküsst, zu Gitarre und Stift greifen wollte, warf einer der Nachbarn den Rasenmäher an und mähte Meys Phantasien nieder wie das Grün im heimischen Gartenrechteck. Der Schöpfer von „Über den Wolken“ wünschte seine Nachbarn unter die Erde und tobte in einem offenen Brief an die Gemeindeverwaltung:
„Seit einer Woche suchen wir Erholung (...). In dieser Zeit waren jeden Tag um uns herum die Garten-Nazis mit schwerem Gerät und unter Höllenlärm-Entwicklung damit beschäftigt, auf handtuchgroßen Grundstücken kleinen, unschuldigen Grashalmen den Garaus zu machen. Beenden sie diesen Rasenmäherkrieg!“
Nun, dem Wunsch wurde seitens der Gemeindeverwaltung nicht nachgekommen. Der damalige Amtsvorsteher des Amtes Landschaft Sylt, Heinz Maurus von der CDU, entgegnete Mey, es sei bereits geregelt, wann Ruhe herrschen müsse, nämlich vor 8:00 Uhr und zwischen 13:00 und 15:00 Uhr dürfe nicht gelärmt werden.
Des Weiteren empfahl er dem Liedermacher lapidar, dieser möge die Toleranz walten lassen, die er in seinen Liedern von anderen fordere.
Quelle:ringsgwandl.net
Mey reagierte musikalisch, indem er sein 1996 entstandenes Lied „Irgendein Depp bohrt irgendwo immer“ umtextete in „Irgendein Depp mäht irgendwo immer“, wo der „Nazi“ dann zum „Bazi“ wird: „Die Lärmattacke kommt, in Form der Herbergsmutter naht sie,/mit ihrem Balkenmäher, ein schlimmer Garten-Bazi.“
Die „Garten-Nazis“-Geschichte war natürlich ein gefundenes Fressen für Stefan Raab, der in seiner äußerst populären Sendung TV total Reinhard Mey parodierte und einen fiktiven Mey-Song, den Vorfall betreffend, zum Besten gab: Der im Nachgang leicht erweiterte Liedtext enthielt einige gelungene persiflierende Übertreibungen wie: „Doch auch die Gartenzaun-SS/ hör ich schon marschieren.“ Oder noch besser: „Denn heute mäht ihr noch Sylt/ und morgen die ganze Welt.“ Anderes bewegte sich allerdings im platten Comedygelände: „Ich schau grad ‘nen Porno an/ und kann kein einziges Wort verstehen,/ denn im Garten nebenan/fängt ein Nazi an zu mähen.“ Oder auch: „Ich glaub, ich werd’ langsam extrem,/ besorg mir Kampfgas und Granaten,/und heute Nacht um drei Uhr zehn/scheiß ich bei euch in den Garten“ — naja.
Die Vorstadt-Nazis
Der Begriff „Garten-Nazi“ war allerdings keine Mey‘sche Schöpfung, sondern stammt vom bayerischen Kabarettisten Georg Ringsgwandl, der in besagtem Lied in städtischen Außenbezirken wohnende bösartige Spießbürger portraitiert, die der in ihren Gärten herrschende „Unordnung“ mit Schneckentod und Laubbläser zu Leibe rücken, überdies andere beobachten und drangsalieren ─ und natürlich Rasen mähen. So heißt es im Liedtext: „Wo der Pappa jeden Tag auf d'Nacht/den Gartenschuppen fest zusperrt,/wo die Mamma jeden Samstag früh im Küchenschurz/den Gehsteig kehrt.“ Oder auch: „Selbst der Hund hat nichts zu lachen,/der Nazi ist sein Peiniger,/jeden Freitag spritzt er ihn ab/mit dem Hochdruckreiniger.“
Allerdings steht diese Darstellung des Nazis als kleinmütiger Wutbürger, der Sorge hegt, dass ihm aus dem Gartenhaus der Gardena-Schlauchwagen oder sein Walzenhäcksler geklaut wird und der seinen Hund wöchentlich mit dem Kärcher behandelt, damit der Vierbeiner „porentief rein“ ist — um Klementine aus der Ariel-Werbung zu zitieren —, der Wirklichkeit diametral entgegen. So bieder und kleinkariert waren die Nationalsozialisten nicht.
Kraft durch Freude, heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt, Herrenmenschentum mit großgewachsenen, blonden Ariern und imposante Massenveranstaltungen, effektvoll bebildert von Leni Riefenstahl, Invasionen und Unterwerfungen samt der gescheiterten Eroberung Russlands, die quasi industrielle Tötung von Millionen Menschen — dies hat nichts mit kleinkrämerischen „Garten-Nazis“ zu tun, das entspricht eher der Wirtschaftsstrategie „Think big“ oder treffender noch „Think bigger“; totale Machtgier und totaler Krieg.
Hier shoppt der Nazi
Einen weiteren Nazi-Komplex stellte Bekleidung dar, wobei dabei in den 1990er-Jahren Firmen und ihre Produkte nur deshalb in den Fokus gerieten, weil sie zuweilen von einigen Rechtsradikalen getragen wurden, die politische Codes in die Textilien hineininterpretierten. Die textile Trageschuld als Unterform der Kontaktschuld also. So geschehen bei der US-amerikanischen Sportmarke New Balance, deren „N“-Logo von manchen Rechtsextremen assoziiert wurde mit „Nationalist“ oder „Nationalsozialismus“.
Der Outdoor-Marke Helly Hansen wurden schlicht die Initialen „HH“ zum Verhängnis, die in der rechtsextremen Szene mit der Bedeutung „Heil Hitler“ unterlegt wurden.
So joggt der Nazi plus Nazis im Winter. Quellen: Deporvillage.de und Hardloop.de.
Und bei Alpha Industries aus Virginia — einem Hersteller von Militärkleidung und Modebekleidung im Military-Look — ähnelt das Firmenlogo dem Zivilabzeichen der SA und dies entspräche dann wohl auch der politischen und mentalen Heimat der Kundschaft, wurde gemutmaßt.
Alpha Industries versus Sturmabteilung. Quellen: Seeklogo.com und Aussteigerprogramm-Niedersachsen.de.
Bei Fred Perry wiederum, der britischen Bekleidungsfirma mit dem Lorbeerkranz-Logo, stellte das Corpus Delicti das Polohemd in den Farben Schwarz-Weiß-Rot dar ─ eine Farbkombination, die den Flaggen des Deutschen Reichs in der Kaiserzeit und einer der beiden Nationalflaggen des Dritten Reiches entsprach. Allerdings besteht diese Farbgebung auch in den Fahnen Ägyptens, des Irak und des Jemen sowie des Vorgängerstaates von Burkina Faso, Obervolta, sowie in jener des Sudan, welche linksseitig noch ein grünes Dreieck enthält. Auch der Lorbeerkranz wurde in rechtsextremen Kreisen als Siegessymbol gedeutet, wiewohl er vielmehr dem Namensgeber zusteht, denn Fred Perry war ein höchst erfolgreicher Tennisspieler, der das Turnier von Wimbledon zwischen 1934 und 1936 dreimal hintereinander gewann.
Darüber hinaus reüssierte er ebenfalls dreimal bei den US Open und je einmal bei den Australian Open sowie den French Open, was ihn zum ersten Tennisspieler machte, der einen Karriere-Grand-Slam erreichen konnte, da er jedes der vier großen Turniere mindestens einmal im Laufe seiner Karriere gewonnen hatte. Dazu kamen dann noch etliche Pokale im Doppel, Mixed sowie im Davis-Cup. Eine solche Karriere hatte die Tennis-Upper-Class für das Arbeiterkind Perry — Sohn eines Baumwollspinners und nach jüdischem Glauben (!) erzogen — nicht vorgesehen. „Ich war das dreckige Arbeiterkind, das ihr weißes Tennis beschmutzte“, stellte Perry einmal treffend fest. Bei seinem ersten Wimbledon-Triumph 1934 wurde ihm die Clubkrawatte, die jeder Sieger erhielt, nicht verliehen, sondern einfach in die Umkleidekabine gehängt. Bei seinem dritten Sieg 1936 drückten die britischen Snobs auf der Tribüne gar Perrys Gegner die Daumen, obwohl dieser Deutscher war. Doch dessen Name lautete eben nicht Hans Müller, sondern Gottfried Alexander Maximilian Walter Kurt Freiherr von Cramm.
Fred Perry-Polohemd, Flagge des Deutschen Reiches und des Jemen. Quellen: Undergroundstore.eu, Amazon.com, Wikimedia.org.
Die Firma Lonsdale, ein englischer Hersteller von Boxsportartikeln und Freizeitkleidung, geriet in Deutschland ebenfalls auf die braune Liste ─ schlicht durch die Buchstabenfolge „NSDA“, wie oftmals geschlussfolgert wird: Ein Lonsdale-Shirt unter der geöffneten Bomberjacke getragen ließ nur diese vier Buchstaben des Aufdrucks sichtbar werden und konnte so als Bekenntnis zur NSDAP oder als „nationalsozialistischer deutscher Arbeiter“ gedeutet werden. Dabei geht der Name auf den Gründer zurück, den fünften Grafen von Lonsdale ─ 5th Earl of Lonsdale ─, Hugh Cecil Lowther (1857–1944), ein sportbegeisterter Adliger, der sich nicht nur um den Boxsport verdient machte, sondern in den 1930er-Jahren auch Präsident des berühmten Londoner Fußballclubs Arsenal war. Wegen seines vielfältigen Engagements für den britischen Sport „England’s Greatest Sporting Gentleman“ genannt, stiftete Lowther 1909 auch den prestigeträchtigen „Lonsdale Challenge Belt“, der weltweit älteste noch vergebene Meisterschaftsgürtel im Boxsport.
Allerdings wird die „Buchstabentheorie“ auch in Zweifel gezogen und als Legende bezeichnet, so heißt es im Fanzine OX dazu:
„Überhaupt war in Presse und Fernsehen ab Ende der Achtziger Jahre und dann insbesondere nach der Wiedervereinigung das Lonsdale-Sweatshirt ein Synonym für rechtsextreme Skinheads. Dass die Marke eine andere Geschichte hatte und auch von linken oder unpolitischen Skinheads oder auch von Mitgliedern beispielsweise der ‚Gay Skinhead Movement Sektion Deutschland‘ getragen wurde, war kaum bekannt. (…)
Der Hooliganismus, zu dem sich Skinheads oft hingezogen fühlten, tat ein Übriges — Hools liefen mit Lonsdale-Klamotten rum, einfach weil es eine Sportmarke war. Im Vergleich zu England kann man durchaus sagen, dass Lonsdale in Deutschland viel eher als ‚Einstiegsklamotte‘ in die Skinhead- und Hooligan-Szene galt, eben weil die Marke so stark medial transportiert wurde. Zu Zeiten der Wende ging der Absatz weit nach oben — die rechtsextremen Skinheads, die nun in Massen vor allem in den neuen Bundesländern auftauchten, leisteten sich die Lonsdale-Sweatshirts, um wiedererkannt oder gleich ‚richtig‘ zugeordnet zu werden. Das Lonsdale-Logo hatte sich dem Nachrichtenzuschauer eingebrannt als klares Indiz für Rechtsextremismus (…).“
Der Autor recherchierte bei Londoner Skin-Girls und berichtet:
„Für Theresa ist die Frage auch Humbug — all ihre Freundinnen und Freunde, die Lonsdale trugen, waren weder links noch rechts. Sie hatte viele schwarze Skinhead-Freundinnen, die genau wie sie Lonsdale-Shirts anhatten. Das ist ein weiterer Hinweis, dass die Vereinnahmung der Marke durch Neonazis eher ein deutsches Phänomen war. In den deutschen Medien kam dann die Behauptung auf, die Marke Lonsdale würde wegen dem „NSDA“ im Namen von Rechtsextremen getragen (…). Doch alle, die ich dazu befragte, sagten, das sei ein altes Märchen und Schwachsinn und sonst nichts.“
Auch Lonsdales Pressesprecher für Deutschland, Ralf Elfering, bezweifelt diese Erklärung, denn schließlich hätten andere Marken die gleichen Probleme gehabt, auch ohne ungünstige Buchstabenkombinationen. Bei Lonsdale wirkte auch negativ befeuernd, dass die Firma Boxsportartikel vertrieb, denn bezüglich Boxen oder generell „Kampfsport“ findet bei vielen Menschen eine negative Konnotation statt: das Bild des „rechten“, asozialen, dumpfbackigen Schlägertypen ist in der Vorstellung schnell gepinselt. Gerne wird auch der absurde Begriff „Kampfsportszene“ angeführt. Dabei sind beispielsweise Boxen, Taekwondo, Ringen vollkommen unterschiedliche Sportarten — niemand würde bei Fußball, Handball, Basketball und Volleyball von der „Ballsportszene“ sprechen.
Wie auch immer: Jedenfalls ist es diesen Marken weitgehend gelungen, das braune Image abzustreifen. Ein wirksames Mittel stellte hier eine strenge Distributionspolitik dar, also die akribische Überprüfung von Händlern, auch genannt „Händlerbereinigung“. Fred Perry veredelte sich zusätzlich durch Kollaborationen mit kreativen Designern.
Am schwersten tat sich naheliegenderweise Lonsdale, das durch seine offensive Distanzierung zunächst heftige Umsatzeinbußen in Kauf nehmen musste: in Deutschland 35 Prozent, in Sachsen gar 75 und in den Niederlanden 40 Prozent. Man fuhr Kampagnen wie „Lonsdale loves all colours“, sponserte den Kölner Christopher Street Day, verkaufte T-Shirts mit dem Aufdruck „Lonsdale London against Racism & Hate“, unterstützt den Verein „Laut gegen Nazis“, ist Partner der Boxabteilung des FC Sankt Pauli aus Hamburg und sponsert die ebenfalls „linken“ Vereine SV Babelsberg 03 und Roter Stern Leipzig.
Die frühere Kundschaft ist mittlerweile bei anderen Firmen heimisch geworden, die die entstandene Marktlücke rasch zu nutzen und zu füllen verstanden. Marken wie „Thor Steinar“, „Eric ans Sons“, „Ansgar Aryan“ oder auch „Consdaple“ — ein scheinenglisches und mit „Constable“ für „Schutzmann“ oder „Polizist“ assoziiertes Kunstwort, das durch das mittige „nsdap“ die Lonsdale’sche Buchstabentheorie zur Buchstabenpraxis werden lässt.
Alles Nazis? Lonsdale-Kunden: Boxer Muhammad Ali, Lennox Lewis, Working-Class-Band The Jam. Quellen: Kingandmcgaw.com, Truestore.eu, discogs.com
Politisch unkorrekt
Am 27. April 2017 zeigte die NDR-Satiresendung extra 3 Reden und Szenen vom AfD-Parteitag in Köln. Darunter auch Ausschnitte einer Rede von Alice Weidel mit der Aussage: „Denn die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.“ Daraufhin Moderator Christian Ehring: „Jawoll, Schluss mit der politischen Korrektheit. Lasst uns alle unkorrekt sein, da hat die Nazi-Schlampe doch recht. War das unkorrekt genug? Ich hoffe!“
Interessant, dass Ehring das Gegenteil von „politischer Korrektheit“ in Beleidigung, Herabwürdigung und Verunglimpfung sieht statt in klarer, deutlicher und differenzierter Ausdrucksweise, die jedoch nicht in Schmähung oder Diffamierung abkippt. Der vollständige Textteil in Weidels Rede lautete:
„Es muss endlich Schluss damit sein, dass diejenigen, die auf die Missstände in unserem Land hinweisen, härter bekämpft werden als die Missstände selbst. Und wir werden uns als Demokraten und Patrioten trotz dessen nicht den Mund verbieten lassen. Denn die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.“
Hinsichtlich der „politischen Korrektheit“ ist bei weitem nicht jeder Betreute vom ideologischen Samaritertum begeistert. Als landauf, landab bei den Mohrenstraßen und Mohrenapotheken eine große Umbenennungskampagne angestoßen wurde, weigerte sich beispielsweise der dunkelhäutige Kieler Gastronom Andrew Onuegbu standhaft, sein Restaurant „Zum Mohrenkopf“ umzubenennen. „Ich bin als Mohr auf die Welt gekommen und stolz darauf“, äußert der in Nigeria geborene 47-Jährige. 1992 siedelte er nach Deutschland um und eröffnete 2007 sein Restaurant, dessen Namen er ganz bewusst gewählt habe:
„Der Mohrenkopf war im Mittelalter eine Auszeichnung für gutes Essen. Dort gingen früher Fürsten essen, an den Eingangstüren gab es damals Mohrenkopfsymbole als Qualitätszeichen, dass dort ein Mohr kocht.“
Für ihn sei der Begriff Mohr nicht rassistisch behaftet — das Gegenteil sei sogar der Fall. „Mohren sind als gute Köche und Mediziner bekannt.“
Und einen Ratschlag für seine wohlmeinenden weißen Mitmenschen hält er auch noch parat: „Ich möchte als Schwarzer nicht erklärt bekommen, wann meine Gefühle verletzt werden. Das ist auch eine Form von Rassismus.“
Alice, die Nazi-Schlampe
Zurück zu Alice Weidel und extra 3. Aufgrund der Bezeichnung als „Nazi-Schlampe“ durch Moderator Christian Ehring beantragte sie den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen den Nord-deutschen Rundfunk. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 11. Mai 2017 zurückgewiesen. Das Gericht begründete seinen Beschluss wie folgt:
„Die umstrittene Äußerung bezieht sich mit den Begriffen ‚Nazi‘ und ‚Schlampe‘ in klar erkennbarer satirischer Weise, das heißt durch typische Übertreibung, auf die aktuelle Forderung der Antragstellerin, die politische Korrektheit gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte. In diesem Zusammenhang — und auch sonst — nicht akzeptierte Formulierung zeigen, wohin die Forderung der Antragstellerin führen könnte. Erkennbar geht es nicht darum, dass die Antragstellerin hinter dem Leitbild des Nationalsozialismus stehen würde oder sie Anlass für die Bezeichnung als ‚Schlampe‘ gegeben hätte.
Der Zuschauer begreift den Begriff ‚Nazi‘ als grobe Übertreibung, die an die Wahl der Antragstellerin zur Spitzenkandidatin der AfD anknüpft, nimmt deswegen aber nicht an, dass die Antragstellerin Anhängerin der Nazi-Ideologie sei. Es kann dahinstehen, ob die Bezeichnung ‚Schlampe‘ stets eine sexuelle Konnotation habe, wie die Antragstellerin vorträgt. Denn es ist erkennbar, dass die Bezeichnung ‚Schlampe‘ in einem solch verstandenen Sinne keinen Wahrheitsgehalt beansprucht, sondern als Anknüpfung an deren Äußerung zur politischen Korrektheit nur gewählt wurde, weil die Antragstellerin eine Frau ist.“
Nicht umsonst nannte die Rechtsanwaltskanzlei Graf-Detzer-Rechtsanwälte aus München und Wolfratshausen die Entscheidung des Gerichts „um es überspitzt auszudrücken ‚sportlich‘“, denn die Einschätzung, es sei erkennbar, dass die Antragstellerin nicht hinter dem Leitbild des Nationalsozialismus stehe und keine Anhängerin der Nazi-Ideologie sei, ist, gelinde gesagt, fragwürdig.
Ehrings Äußerungen vor dem betreffenden Passus — also der Kontext — waren gespickt mit Analogien zur Nazizeit: „Die AfD hatte Parteitag in Köln, direkt am Rhein. Noch nie waren sich Braune und Suppe so nah.“ Und: „Auf dem Weg zur Machtergreifung“, „sie haben noch die Kurve gekriegt nach rechts“, „brauner Rauch stieg auf“, als Alexander Gauland und Alice Weidel zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf gewählt wurden, Weidel hat „einen klaren Fahrplan für den Endsieg“. Ihre Aussage „Wir ziehen im Mai in die Landtage von Schleswig-Holstein und NRW ein und dann, liebe Freunde, rocken wir Deutschland“ kommentierte Ehring: „Erst Schleswig-Holstein, dann NRW, dann Deutschland. Ich glaub’, an der Stelle ist man in Polen kurz nervös geworden, ob der Satz noch weiter geht.“
Die Aussage, die Wahl Weidels zur Spitzenkandidatin der AfD biete einen Anknüpfungspunkt zum Begriff „Nazi“, ist ebenfalls nicht von Neutralität getragen.
Handelte es sich bei der AfD um eine dem Nationalsozialismus huldigende Partei, würde nicht über ein Verbot der Partei diskutiert, dieses wäre längst vollzogen mit allen Konsequenzen wie Auflösung, Beschlagnahmung des Vermögens, Mandatsverlust und dem Verbot der Gründung von Ersatzorganisationen.
Dies geschah in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis dato zweimal: 1952 betraf es die nationalsozialistisch orientierte Sozialistische Reichspartei (SRP), welche die Ideologie der NSDAP fortführen wollte und vier Jahre später die stalinistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).
Auch die sexuelle Konnotation des Begriffs „Schlampe“ als fraglich oder noch nicht entschieden darzustellen, ist durchaus „sportlich“. Ein kurzer Blick ins Gegenwartslexikon Wikipedia beantwortete die Frage:
„Ursprünglich hatte dieses Schimpfwort keine sexuelle Konnotation, sondern bezog sich hauptsächlich auf die Haushaltsführung, das Verhalten oder das äußerliche Erscheinungsbild einer Frau. Abgeleitet davon gab es bezüglich der ungeordneten Lebensweise eine Bedeutungserweiterung Richtung eines ungeordneten Liebeslebens und damit einer vermuteten Promiskuität. (…)
*In der heutigen Umgangssprache, wie auch in der Jugendsprache, wird es für eine Frau beziehungsweise ein Mädchen mit einem realen oder angenommenen promiskuitiven Lebenswandel genutzt und ersetzt damit das im Deutschen inzwischen veraltete Wort Flittchen. Es hat sich eingebürgert als Übersetzung für das englische ‚bitch‘ oder ‚slut‘. Während die Wörter Schlampe und Flittchen einen eher lustorientierten Lebenswandel mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern beschreiben, unterstellen die Wörter Nutte und Hure demgegenüber gewerbsmäßige Prostitution, wobei die Grenze je nach moralischem Werteverständnis fließend ist. Insbesondere unter gleichaltrigen Mädchen wird das Wort Schlampe zur Rufschädigung als starkes Schimpfwort für Mädchen oder Frauen, die nicht den sexuellen Normvorstellungen entsprechen, verwendet.“
Die Argumentation des Gerichts, die Bezeichnung Weidels als Schlampe beziehe sich nicht auf einen angenommenen promiskuitiven Lebenswandel — was im Übrigen Frau Weidels Privatsache wäre —, sondern stelle einfach eine drastische satirische Übertreibung bezüglich Weidels Forderung nach Entsorgung der politischen Korrektheit dar, übernimmt Ehrings fehlerhafte Argumentation, das Gegenteil von sogenannter politischer Korrektheit sei die Beleidigung. Versucht sich jemand also, „politisch korrekt“ auszudrücken und sagt „weibliche Person“, wäre in diesem Fall die politisch unkorrekte, aber dasselbe meinende Bezeichnung „Frau“ und nicht „Schlampe“.
Quelle: Screenshot Google-KI
Und selbst, wenn man für einen kurzen Moment Ehring auf seinem AfD-Nazitrip folgen mag, stellt sich noch die Frage, weshalb der Moderator nicht wenigstens einen Begriff wie „Nazi-Weib“, „Nazi-Furie“, „Nazi-Zicke“ oder „Nazi-Tussi“ wählte — doch nein, es musste schon die sexuell assoziierte „Schlampe“ sein.
Die Kanzlei Graf-Detzer stellt in ihrer den Beschluss betreffenden Skepsis auch ab „auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 03.06.1987 (1 BvR 313/87) in dem das Bundesverfassungsgericht Karikaturen des ehemaligen Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, die diesen als sich sexuell betätigendes Schwein dargestellt haben, als massiven Eingriff in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht gewertet haben.“
Bereits im Verfahren kündigte der Bevollmächtigte Weidels an, sofortige Beschwerde gegen den Beschluss einzulegen. Diese wurde — wie vermutet wird nach einem Hinweis des Oberlandesgerichts Hamburg auf die Aussichtslosigkeit des juristischen Unterfangens — jedoch wieder zurückgenommen. Aus demselben Grund unterließ es Weidel auch, den Klageweg in der Hauptsache zu beschreiten.
Ganz in Braun
Deutschland war, ist und bleibt also ein Land voller Nazis, ja dieses Land ist besessen von Nazis: Polit-Nazis, Auto-Nazis, Garten-Nazis, Textil-Nazis, Schnitzel-Nazis. Eigentlich müsste es auch den Limonaden-Nazi geben, denn Fanta stammt aus Nazi-Deutschland.
„Fanta“, schreibt der Stern, „wurde zu einem Inbegriff des nationalistischen Stolzes. Alle wollten die in Essen entwickelte Brause, von der Hausfrau am Herd bis zum obersten Funktionär der Nazi-Partei.“ Und 2015, zum 75. Jubiläum, erhob sich gar ein veritabler Shistorm, als der Eigentümer Coca-Cola es mit der Vergangenheitsbewältigung nicht ganz so genau nahm.
Sogar bestimmte Emojis wie Schaf, Clown, Kiwi und Milch können laut NDR für eine rechte Gesinnung stehen — letztere beispielsweise für die „angebliche Überlegenheit der Weißen. Die nordische Abstammung wird mit Laktosetoleranz in Verbindung gebracht.“ Und die „Kiwi, eigentlich ein harmloses Obst, kann für Transfeindlichkeit stehen. Der genaue Ursprung ist nicht klar. Oft wird auf die Zweigeschlechtlichkeit der Kiwi-Pflanze verwiesen.“
Im April 2024 verfügte der Sportartikelhersteller Adidas einen Verkaufsstopp für bestimmte Trikots der deutschen Nationalmannschaft:
„Die alte 4 auf den Trikots war wie die anderen Rückennummern im 3D-Stil der 1990er-Jahre gestaltet und ähnelte der ‚Siegrune‘, dem Emblem des Deutschen Jungvolks in der Hitler-Jugend. Wer die 44 wählte, konnte damit eine Verbindung zur NS-Organisation Schutzstaffel (SS) herstellen. Der DFB entwickelte deshalb mit seinem Partner eine alternative Typographie der 4.“
Im Tatzmania-Freizeitpark im Schwarzwald wurde das Fahrgeschäft „Adlerflug“ nach nur wenigen Wochen seiner Eröffnung wieder geschlossen, weil die Karussellarme stark an rotierende Hakenkreuze erinnerten. „Das Karussell“, so der Stern, „solle nun in Zusammenarbeit mit dem Hersteller überarbeitet werden. Der Weiterbetrieb oder das Beibehalten der bestehenden Optik hätten nach der Kritik aus der Öffentlichkeit nicht zur Diskussion gestanden.“
Quellen:X.com, Sport 1.de, Stern.de.
Und da es bekanntlich heißt, was in Vegas passiert, bleibt in Vegas und nicht, was auf Sylt passiert, bleibt auf Sylt, existiert spätestens jetzt der Musik-Nazi. Le Nazi toujours. Von der inbrünstigen und gutgelaunten Darbietung in der Pony Bar in Kampen inspiriert, schmetterten in Stuttgart gar die Fans von Galatasaray Istanbul ähnliche Verse. Nun gibt es also auch noch den Türken-Nazi. Es ist der braune Wahnsinn. Wenn das der Führer wüsste.