Gefährliche Parteilichkeit

Die Nahost-Berichterstattung ist einseitig, parteiisch und manipulativ.

Zensur ist unvermeidlicher Begleiter der Nahost-Berichterstattung der deutschen Medien. Deren Mitarbeiter betätigen sich mehrheitlich nicht als Journalisten, sondern als willfährige Multiplikatoren des israelischen Narrativs. Darin erscheinen die Palästinenser als primitive Halbmenschen, die von dem irrationalen Wunsch nach der Vernichtung aller Juden getrieben sind. Israel dagegen wird als Außenposten westlicher Zivilisation und Demokratie dargestellt, der keine andere Wahl habe, als sich gegen seine drohende Vernichtung durch die Palästinenser zu wehren. Ein Gastartikel von Thomas Siemon vom Institut für Palästinakunde.

Journalistische Schieflage
von Thomas Siemon

Israel und seine Parteigänger verteidigen das israelische Narrativ skrupellos mit allen Mitteln. Denn Israels Bestehen als jüdischer Staat an der Levante ist vollkommen von der diplomatischen, ökonomischen und militärischen Protektion des Westens abhängig. Eine Unterstützung, die jedoch nur so lange anhalten wird, wie es die westlichen Medien vermögen, ihr Publikum über die Realität im Nahen Osten im Dunklen zu belassen.

Um die Verhältnisse in Palästina zu verändern, muss die Umklammerung der Medien durch Israel und seine Parteigänger gelöst werden. Dazu ist es erforderlich, dass die Hörer, Zuschauer und Leser gegen die bestehende Berichterstattung protestieren und Aufklärung anstelle von Propaganda verlangen; nüchterne Berichte, in denen beiden Seiten eine Stimme bekommen und die sorgfältig und vollständig über die Hintergründe informieren.

Zu diesem Zweck wandte sich der Vorstand des ‚Institut für Palästinakunde e.V.' mit folgendem Brief an das Deutschlandradio, der von 147 Personen mit unterzeichnet wurde.


An: hoererservice@dradio.de, Marco.Bertolaso@dradio.de
Betreff: Gravierende journalistische Defizite in Ihrer Nahostberichterstattung: "Tote bei Protesten an Gaza-Grenze" (30.3.2018)

Sehr geehrter Herr Dr. Bertolaso,
sehr geehrte Damen und Herren,

wir - die einhundertsiebenundvierzig (147) Unterzeichner dieses Schreibens - Unterstützer und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, die versuchen, die Öffentlichkeit über die Hintergründe des Nahost-Konflikts aufzuklären, haben es regelmäßig mit Offiziellen - Kommunal-, Landes- und teilweise Bundespolitikern - zu tun, deren Unwissenheit über den Nahen Osten geradezu erschreckend ist.

Dies ist nach unserem Eindruck auch darauf zurückzuführen, dass die Medien im Nahost-Umfeld eine Filter-Blase errichtet haben, durch die fast ausschließlich Informationen dringen, die zu dem israelischen Narrativ passen, demzufolge Israel das Opfer der von ihm seit über einem halben Jahrhundert unterdrückten Palästinenser sei.

An dieser Filterblase ist leider auch Ihr Haus beteiligt, wie dieser Beitrag - Tote bei Protesten an Gaza-Grenze - vom 30. März zeigt, dessen Verfasser sich über journalistische Grundsätze freizügig hinweggesetzt haben, wie wir nachfolgend zeigen.

Angesichts dieser Defizite und deren Konsequenzen möchten wir Sie hiermit darum bitten, uns zu erklären, wie es zur Veröffentlichung dieser Nachricht kam - sowie darum bitten, in Ihrem Haus auf die Einhaltung journalistischer Standards zu drängen - natürlich nicht nur, wenn es um den Nahost-Konflikt geht.

Journalistische Defizite in "Tote bei Protesten an Gaza-Grenze":

1. Die Formulierung „Im Gazastreifen ist es zu schweren Auseinandersetzungen ... gekommen" erweckt den Eindruck der Äquivalenz der von beiden Seiten eingesetzten Gewalt. Tatsächlich standen auf der einen Seite unbewaffnete Demonstranten und auf der anderen Seite eine Armee, die mehr als fünfzehn Demonstranten kaltblütig niederschoss und mehrere hundert Verletzte. Die Formulierung "schweren Auseinandersetzungen" verstößt somit gegen den journalistischen Grundsatz der Angemessenheit und der Sorgfaltspflicht.

2. Die Formulierung „Die radikal-islamische Hamas hatte für heute zu mehrwöchigen Protesten im Grenzgebiet zu Israel aufgerufen" suggeriert, dass der „Great Return March" von der Hamas organisiert wurde. Dies kann durch ein wenig Internet-Recherche widerlegt werden, siehe hier. Das ist ein Verstoß gegen den journalistischen Grundsatz der Sorgfaltspflicht.

3. Der Begriff „Rädelsführer"für die von israelischen Soldaten ermordeten Anführer der Proteste - im Original ohne Anführungszeichen - ist nicht in Ordnung, denn der Begriff enthält eine Wertung.
Siehe Wikipedia: „Unter dem Rädelsführer einer Gruppe versteht man ihren Anstifter bzw. Anführer. Der Ausdruck wird ausschließlich in negativem Zusammenhang verwendet." Es liegt somit ein Kommentar in einer Nachricht vor - was nach üblichen journalistischen Standards unzulässig ist. Die dort vorliegende indirekte Rede ist nach unserem Erachten nicht „indirekt" genug, um die notwendige Distanz zu den israelischen Verlautbarungen zu schaffen.

4. Aus journalistischer Sicht - dem Gebot der Vollständigkeit - ist zu bemängeln, dass der DLF der Vorstellung Vorschub leistet, dass es zwischen Gaza und Israel eine „Grenze" im Sinne des Völkerrechts gäbe. Gaza ist aber kein Staat - und wird international von keinem anderen Staat anerkannt. Hier findet also keine Auseinandersetzung zwischen Staaten oder staatlichen Akteuren statt - sondern in einem Staat. Israel hat Gaza abgeriegelt, eingezäunt und das Gebiet zum Feindstaat erklärt - und belagert es seit zehn Jahren. Das ist völkerrechtlich illegal. Gaza ist bereits qua seiner Existenz ein Kriegsverbrechen - und israelische Soldaten, die auf unbewaffnete Demonstranten schießen, sind Kriegsverbrecher.

5. Es hätte auch erwähnt werden müssen, dass circa sechzig Prozent (60 %) der Palästinenser Vertriebene - bzw. Nachkommen der rund 750.000 Palästinenser sind, die 1948 von Israel vertrieben wurden. Und, dass diese Palästinenser gemäß der von Israel akzeptierten, aber nicht umgesetzten UN-Resolution 194 ein verbrieftes Recht auf Rückkehr haben.

6. Zuletzt vermisst man auch den Hinweis, dass die UNCTAD bereits 2015 prognostiziert hat, dass Gaza im Jahr 2020 unbewohnbar sein wird.

7. Die Kür hätte darin bestanden, wenn Ihr Haus darauf hingewiesen hätte, dass die Proteste am „Tag des Bodens" stattfanden; und wenn Sie die Leser/Hörer über dessen Geschichte aufgeklärt hätten, die natürlich auch mit einem Massaker und der Vertreibung von israelischen (!) Palästinensern verbunden ist, wie Sie sicher wissen.

Ohne das Wissen um die obigen Punkte ist es praktisch unmöglich, die Ereignisse vom Karfreitag politisch einzuordnen. Und die Vermittlung dieses Wissens ist doch nach unserem Wissen eine der Aufgaben Ihres von unseren Gebühren finanzierten Hauses.

Mit freundlichen Grüßen
Thomas Siemon


Thomas Siemon ist im Vorstand des Instituts für Palästinakunde (IPK). Es wurde im Jahr 2006 zum Zweck der Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für das Palästina-Thema gegründet und setzt sich für die Völkerverständigung zwischen Deutschland und Israel/Palästina, Demokratie, Frieden und Menschenrechte im Nahen Osten ein. Zu diesem Zweck fördert es den Dialog, die Vernetzung und den Transfer zwischen Wissenschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft.