Gelebte Freiheit

Für die „Ackerpiraten“ ist Selbstversorgung ein subversiver Akt.

Wenn man „das System“ derzeit nicht einfach abschaffen kann, könnte man sich ihm nicht zumindest entziehen? Träume von einer Aussteiger-Kommune auf dem Land, wo man dem Konsum- und Arbeitszwang entrinnen und das Gegenmodell eines menschengerechten Daseins leben kann, gibt es schon sehr lange. In Corona-Zeiten, in denen die Stimmung speziell in den Ballungsräumen teilweise unerträglich geworden ist, haben solche Pläne und Visionen Hochkonjunktur. Anregung holt man sich dafür am besten von Projekten, wo „es“ bereits funktioniert. Die „Ackerpiraten“ leben weitgehend autark, und das bedeutet für sie vor allem eines: Freiheit. Der Geldbedarf ist geringer, und auch entfremdete Supermarkt-Einkäufe können reduziert werden. Menschen lernen, sich durch Selbermachen aus der Abhängigkeit von diversen „Experten“ und Herstellern zu befreien. Schon das ist Piraterie, denn die Gruppierung beraubt das System eines Teils seiner Macht. Der Autor war zu Besuch und überaus angetan von Brot, Gemüse und dem dort herrschenden „Spirit“.

Einflüsse

Schon immer beeinflusste mich Musik außergewöhnlich stark. Nichts kann eine Empfindung besser verkörpern. Deswegen schaffe ich es auch, Lieder in Dauerschleife zu hören, weil ich das jeweilige Gefühl immer und immer wieder erleben möchte.

Momentan geht es mir so mit einem Lied von „The Anix“. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft es ununterbrochen und hilft mir dabei, die richtigen Worte zu finden, um meinen Gedanken den optimalen Ausdruck zu verleihen. Es nennt sich „Pendulum“ und besitzt nur zwei Zeilen, die sich stetig wiederholen: „Like a pendulum, free until it stops.“

Diese Klänge entfachen in mir ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Es beinhaltet all das Unfassbare, was mich umgibt in komprimierter Form. Die Gewissheit, dass mit der Welt etwas nicht in Ordnung ist, schwindet für einen Moment. Es regt sich eine Sehnsucht nach einer besseren Welt, einer Welt, die frei ist, in der die Menschen in Frieden miteinander leben. Eine Welt, in der man unbeschwert Mensch sein kann und in der man die Leichtigkeit des Seins spürt. Eine echte Traumwelt eben. Vor Kurzem traf ich Menschen, die mir genau das vermittelten.

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Johanna & Magdalena

Fremde, die zu Freunden wurden

Es gibt Momente im Leben, die einem auf ewig in Erinnerung bleiben. Zufällige Begegnungen, bei denen man unweigerlich spürt, dass sie einem wohlgesonnen sind, auch wenn man es nicht sofort rational begründen kann. Es sind die Augenblicke, die das Leben so besonders machen. Manchmal spürt man einfach, dass man aus dem selben Holz geschnitzt ist, ohne auch nur ein Wort gewechselt zu haben.

Es ist ein Blick, eine Geste oder ein schlichtes Lächeln, was das Herz sofort berührt und dir sagt, hier bist du richtig. So erging es mir bei den Ackerpiraten, eine wunderbare Großfamilie, die ich durch einen glücklichen Zufall treffen durfte und ganz in der Nähe meiner Heimatstadt ihr inspirierendes und freies Leben führt.

Meine Motivation

Schon seit einiger Zeit spiele ich mit dem Gedanken, meinen Fokus auf das konkrete Leben in der momentanen Situation zu legen. Menschen festzuhalten, die etwas über sich zu erzählen haben, die davon berichten, wie sie all das direkt betrifft, was es für Vor- und Nachteile für sie gibt. Ich möchte Menschen begleiten und ihre Geschichte bildlich erzählen, so dass sie auch andere nachempfinden können. In den Ackerpiraten sah ich einen perfekten Einstieg für mein Vorhaben.

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Eingang der Ackerpiraten

Das Leben der Ackerpiraten

Wie immer, machte ich mich ohne Vorbereitung los und ließ mich treiben. Es war ein schöner Morgen. Einige Wolken begleiteten mich am Himmel, was immer gute Voraussetzungen für ein paar Fotos sind. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich am Ende ganze 1.850 Mal auf den Auslöser drücken würde.

Endlich war ich da. Ich klingelte und wurde aufs Herzlichste begrüßt. Ich wurde durch den großen Saal in die Küche geleitet, wo ich vom Rest der Bewohner freundlichst empfangen wurde. Ich fühlte mich sofort zu Hause.

Die Ackerpiraten, das sind Noreen, Henning, Othilia, Felix, Johanna, Magdalena, Antonia, Dennis, Kevin und Jean. Gerade wurde das Frühstück vorbereitet, das meiste natürlich selbst gemacht, sogar das Brot. Es herrschte eine entspannte und äußerst gemeinschaftliche Atmosphäre. Ich lernte so viel. Unmöglich dies alles zu behalten, doch von dem, was ich mir merkte, will ich berichten.

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Gemeinsames Frühstück

Die Ackerpiraten sind ein Bio-Landwirtschaftsbetrieb. Ich hatte das Gefühl, sie könnten völlig autark leben. Alles, was man zum Leben braucht, bauen sie selber an. Sie haben Ziegen, die sie ernähren, sie besitzen ein riesiges Feld, das sie bewirtschaften, und bei ihnen findet man so ziemlich jedes einheimische Gemüse, was man sich vorstellen kann. Wolf Dieter Storl wäre sicher beeindruckt! Hinzu kommen die schier unglaublichen Fähigkeiten und das Wissen aus vergangenen Zeiten.

Neben dem Brot, das sie selbst herstellen, halten sie sich sogar Bienen, die sie mit Honig versorgen. Die Ackerpiraten besitzen eine riesige Vorratskammer mit eingeweckten und fermentierten Leckereien, einiges davon durfte ich probieren. Wahrscheinlich war all das Know-how in Sachen Anbau und Ernährung auch der Grund dafür, dass sie als einer der wenigen landwirtschaftlichen Betriebe, von der Sarah Wiener Stiftung angeschrieben worden sind, die eine Kooperation mit ihnen anstrebte und schließlich auch umsetzte.

Als Pirat in Zeiten von Corona

Wir sprachen im Laufe des Tages über sehr viele Dinge. Selbstverständlich auch über Corona und wie es ihren Alltag beeinflusst. Das Thema Politik entdeckte die Familie erst vor circa zwei Jahren, vorher war sie nie Gesprächsgrundlage am Frühstückstisch.

Die Ackerpiraten boten vor der Krise Kurse für Schüler aus der Umgebung an, die die Sarah Wiener Stiftung förderte. Hier wurden den Kindern verschiedenste Grundlagen der Ernährung und des Anbaus vermittelt. Ziel des Ganzen war es, die Kinder wieder an solche Ursprünge heranzuführen. Dies gelang, indem sie mit den Kleinen Brot backten, gemeinsam kochten, Gemüse im Garten pflückten oder sich mit den Tieren auf dem Hof beschäftigten.

Den Ackerpiraten ist es eine Herzensangelegenheit, ihr Wissen an die Kleinsten weiterzugeben. Was haben die Menschen früher gemacht, als es noch keinen Strom und kein Internet gab? Wie haben sie sich damals ernährt oder wie haben sie gelebt? Die Piraten möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, was es heißt, unabhängig zu sein und frei und selbstbestimmt leben zu können. Seit Anfang vergangenen Jahres ist all das nicht mehr möglich.

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Die kleine Elli

Doch es gibt auch Positives, was diese Situation mit sich brachte. Noreen, Mutter und offensichtliches Familienoberhaupt der Ackerpiraten, teilte mir mit einem Lächeln mit, dass trotz aller Widrigkeiten, das Gemeinschaftsgefühl stark gestiegen ist. Es hat die Familie noch viel mehr zusammengeschweißt, da niemand mehr zur Universität gehen muss und alle von zu Hause aus studieren können. Es gibt deutlich mehr fleißige Hände, die dieses Großprojekt stemmen und es bleibt eine Menge Zeit füreinander.

Ein nachhallender Tag geht zu Ende

In ihr Leben durfte ich einen ganzen Tag eintauchen und es fotografisch begleiten. Ich spürte die Freiheit, die Unbeschwertheit, die Gemeinschaft, die Aufrichtigkeit und echtes Herz. In Zeiten wie diesen, hege ich ganz besondere Dankbarkeit für solche Momente.

Vielleicht inspirieren sie den einen oder anderen dazu, sich ebenfalls mit Menschen zu umgeben, die einen Gut tun, anstatt permanent gegen etwas zu kämpfen.


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Fotos: Earlyhaver


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Wo ich die Freiheit sah“ auf earlyhaver.com.