Geopolitischer Schock

Entgegen den Erwartungen vieler hat Russland nun das Völkerrecht gebrochen — das Chaos in Europa ist für die USA vorteilhaft.

Manche hielten es für ausgeschlossen, andere wiederum rechneten seit Jahren damit: der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Nun ist es so weit gekommen, und die Welt steht auf dem Kopf. Jene, die ein solches Vorgehen Russlands ausschlossen haben, reiben sich nun verwundert die Augen, und der Westen feixt selbstgerecht. Angesichts des Völkerrechtsbruchs Russlands suhlt sich der Westen in einem ausufernden Moralismus, der letztlich eine unbeschreibliche Doppelmoral darstellt. Denn das, was Russland derzeit in der Ukraine verbricht, macht der Westen seit Jahrzehnten mit einer stoischen Selbstverständlichkeit. Nun blickt die Welt auf einen Flächenbrand im Herzland, welcher vor dem Hintergrund des westlichen Sanktionsregimes rasch weltweite Dimensionen annehmen könnte. Wird Russland vom Westen, oder zumindest von Europa, abgenabelt, könnte dies zu einem Näherzusammenrücken der nichtwestlichen Allianzen führen. Gleichzeitig profitieren aber auch die USA von einer gespaltenen eurasischen Platte.

Erschreckend, was sich zurzeit in der Ukraine ereignet. Erschreckend auch, dass Wladimir Putin, der, seit er als Präsident Russlands angetreten ist, die Einhaltung der Völkerordnung durch die USA anmahnte, diese Ordnung mit dem Einmarschbefehl in die Ukraine jetzt selbst krass in Frage stellt. Das hat alle Freunde Russlands, den Autor dieses Textes eingeschlossen, hart überrascht, die noch Verhandlungsspielraum im Konflikt um die Ukraine gesehen hatten.

Nicht minder erschreckend ist, wie unverhältnismäßig und verlogen der Westen auf diese Wendung der Ereignisse reagiert: Mit einer ideologischen Mobilisierung und Aufrüstung gegen Russland, die die eigene Verantwortung für die Entstehung dieser Situation vollkommen leugnet und hart an die Grenzen einer internationalen Ausweitung des lokalen Krieges führt. So etwas hat man bei Grenzübertretungen seitens anderer Mächte in der jüngeren Vergangenheit, etwa der NATO in Jugoslawien oder der USA im Irak, nicht erlebt.

Und dennoch: Mit Mitleid für die ukrainische Bevölkerung, die diesen Krieg zu ertragen hat, mit Empörung über den Bruch des Völkerrechtes durch Putin, der jetzt sein „wahres Gesicht“ zeige, auch mit bigotter Genugtuung, dass der Westen nun einen „Wiederaufstieg“ erlebe, ist es nicht getan. Die Frage stellt sich über die Lagerbildung hinaus: Wem nützt dieser ganze Vorgang?

Die Antwort scheint klar. Er nützt keiner der unmittelbar in die Kämpfe verwickelten Parteien. Nicht der Ukraine, versteht sich, die noch tiefer ins Chaos ihres Bürgerkrieges gedrückt wird als schon in den Jahren zuvor, die sogar geteilt aus den jetzigen Kämpfen hervorgehen könnte. Nicht Russland, das der internationalen Ächtung verfällt und in seiner wirtschaftlichen und politischen Stabilität schweren Schaden nehmen wird. Aber auch nicht den Europäern, die sich auf Gedeih und Verderb von Russland wirtschaftlich und kulturell trennen und den Amerikanern ausliefern. Das Stichwort „Nord Stream 2“ kann hier für das Ganze stehen.

Als lachende Dritte erscheinen allein die USA, weit entfernt vom aktuellen Kriegsgeschehen.

Für sie werden durch die Entzweiung von Europäischer Union und Russland, die sich gegenseitig schwächen, statt miteinander zu kooperieren und gemeinsam an der Friedens- und Sicherheitsordnung zu bauen — wie Russland es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder anbot — gleich zwei Gegner aus dem Spiel genommen und der Weg für die Konfrontation mit China freigemacht. Mehr noch, die Europäische Union, besonders Deutschland als deren Mitte, wird erneut und für eine längere Dauer zum Erfüllungsgehilfen der Politik der USA.

So weit, so absehbar, könnte man denken — und je länger und je blutiger der Krieg auf ukrainischem Boden andauern wird, desto „nachhaltiger“ werden Europa und Russland in dieser Weise blockiert und US-Zielen dienstbar. Das können Atlantiker vor dem Hintergrund der unübersehbaren Krise der USA und ihrer „Follower“ in der Tat als „Wiederaufstieg des Westens“ verstehen.

Möglich sind allerdings auch andere Folgen dieses lokalen Krieges, und zwar dann, wenn sich die Staaten, die schon im weiten Vorfeld der jetzigen Zuspitzungen auf Gegenkurs zum von den USA dominierten Westen waren — also die Staaten des BRICS- sowie des Shanghai-Bündnisses, unter ihnen insbesondere China, Indien, Brasilien und Südafrika — unter dem Druck des gegen Russland erklärten Sanktionskrieges jetzt enger zusammenschließen.

Das gilt insbesondere, wenn der Ausschluss Russlands aus dem Dollar-basierten SWIFT-Zahlungssystem die Dominanz dieses Systems teilweise durchlöchert oder — bei einem gänzlichen Ausschluss Russlands aus dem westlichen System — sogar ganz beendet, weil diese Staaten sich dann um die Asiatische Entwicklungsbank zu einem eigenen Finanzzusammenhang zusammenschließen, der schon lange herangewachsen ist. Das könnte eine neue Finanzkraft entstehen lassen, die die Dollar-Dominanz zu brechen imstande sein könnte. Damit hätte der lokale Konflikt globale Dimensionen erreicht.

Da diese Variante allen Beteiligten klar ist, dürften viele der Maßnahmen, die von westlicher Seite jetzt mit lautem Getöse angekündigt werden, letztlich auf ein sehr viel kleineres Maß heruntergeschraubt werden, um den globalen Konflikt in Grenzen zu halten. Was dabei aus der Ukraine wird, eine Übernahme durch Russland, ein Beitritt zur EU oder die Fortdauer als ein weiterer „eingefrorener Konflikt“, der sich in die anderen „eingefrorenen Konflikte“ einreiht, die schon als Minen des Jahrhunderts bereitliegen, ist zurzeit eine offene Frage, die nicht in der Ukraine entschieden wird. Um das Wohl, die Gesundheit und das Leben der zivilen Bevölkerung wird es dabei am wenigsten gehen, in der Ukraine ebenso wenig wie in Russland oder Europa.


Kai Ehlers: „Russland — Herzschlag einer Weltmacht